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Schwerpunkt "Mehr Lehrkräfte gut ausbilden"

Wie viel Praxis braucht das Lehramtsstudium?

Wann muss theoretische Expertise praktisch umsetzbar werden? Wie kann Professionsorientierung konzipiert und qualitätsvoll umgesetzt werden?

Foto: Adobe Stock

Laureen: Hallo Jurik, ich freue mich, dass wir uns heute einmal über die Forderung nach mehr Praxis im Lehramtsstudium unterhalten. Mich beschäftigt das Thema aktuell sehr, da mein Praxissemester ansteht und ich mich kaum auf die „echte“ Unterrichtspraxis vorbereitet fühle. Ich könnte dir jetzt sofort etwas zu den Kompetenzmodellen im Bereich des Historischen Lernens erzählen. Aber wie unterrichte ich das Thema Mittelalter? Was mache ich, wenn permanent Unterrichtsstörungen auftreten? Und wie kann ich gewährleisten, dass wirklich alle Kinder Anschluss finden und das Beste aus sich herausholen? Also zusammenfassend würde ich das Problem so beschreiben: Wir Lehramtsstudierende befinden uns in einem Studium, dass direkt auf eine Profession hinführt. Sollte Professionsorientierung dann nicht selbstverständlich sein?

Jurik: Hallo Laureen, ich erinnere mich gut an mein eigenes Unverständnis, nachzuvollziehen, was manches, was ich an der Uni gelernt habe, mit meinem späteren Wirken zu tun hat. Letztens beschwerten sich Quereinstiegsmaster-Studierende im Rundfunk über „unsinnige Forschungsseminare und das Abquälen in Theorieseminaren“. Siehst du das auch so?

Laureen: Ja, ich sehe das im Großen und Ganzen genauso. Allerdings fängt die Forderung nach mehr Praxisanteilen im Lehramtsstudium für mich schon auf einer ganz anderen Ebene an. Für mich geht es nicht nur um das Üben des Unterrichtens, sondern vor allem auch darum, Erfahrungen im Umgang mit Kindern zu sammeln: Wie sehen Kinder die Welt? Wie spreche ich überhaupt mit Kindern? Solche grundlegenden Erfahrungen bleiben im weitgehend theoriebezogenen Studium auf der Strecke, obwohl sie meiner Ansicht nach die Basis des Unterrichtens sind.

Jurik: Nun ja, im Prinzip komplett richtig und nachvollziehbar. Aber Praxiserfahrungen kann ich doch tiefergehend erst auf Basis von möglichen Theoriebezügen reflektieren, oder? Ich würde ziemlich sicher sagen, dass niemand ein ausschließlich theoretisches Studium befürwortet. Aber in der Regel finden sich doch am Studienbeginn erst einmal theoretische Bausteine. So soll doch eine fachliche und fachmethodische Basis entstehen. Hinzu kommen noch pädagogisch-psychologischen Grundlagen. Und über Vermittlung redet man am besten erst danach.

Laureen: Meiner Meinung nach können wir uns von der Schweiz abgucken, wie eine gute Mischung aus Theorie und Praxis im Lehramtsstudium funktioniert. Dort müssen die Studierenden bereits im ersten Studienjahr Praktika absolvieren, die engmaschig durch Reflexionsseminare und Mentoringangebote begleitet werden. Im dritten und vierten Semester kommt dann ein sogenanntes „Partnerschulmodell“ ins Spiel. Das heißt, die Studierenden sind ein ganzes Jahr lang an eine feste Partnerschule gebunden, wobei natürlich das theoretische Studium trotzdem weiterhin im Fokus steht. An diesen Schulen können sie dann kontinuierlich in ihrer Praktikumsklasse Unterrichts- und schulpraktische Erfahrungen sammeln. Dazu zählen auch Dinge wie Elternabende oder Klassenausflüge. Um eine noch engere Verzahnung zwischen Uni und Schule herzustellen, werden die berufspraktischen Begleitveranstaltungen sogar vor Ort, in den Schulen, durchgeführt. Ich finde die Konzeption dieses Studiums total sinnvoll und frage mich: Wieso machen wir das nicht genauso?

Jurik: Das ist ein spannender Ansatz, der sich aber vermutlich nicht so schnell nach Deutschland übersetzen ließe. Und zumindest von Beginn an kann diese Praxiserfahrung dann ja nur beobachtend sein, vielleicht auch forschend und das gibt es auch schon bei uns. Und hier folgt auf das eher theoretische Studium dann ja der eher praktische Vorbereitungsdienst. Es ist also unter dem Strich nicht so unterschiedlich, nur im Aufbau und Ablauf.

Laureen: Es gibt auch bei uns Praxisanteile. Aber wenn ich etwa auf das berufsfelderschließende Praktikum im zweiten Semester des Bachelors zurückblicke, dann denke ich vor allem an mein Forschungsprojekt, welches ich währenddessen durchführen musste und welches den größten Teil meiner Kapazitäten beansprucht hat. Da dieses Projekt vor allem auf Beobachtungen basierte, hatte ich selbst kaum die Gelegenheit, um solche Dinge wie Klassenführung oder den Umgang mit Konflikten zu üben. Mir war es wichtig, dass mein Forschungsprojekt so gut wie möglich funktioniert, da dieses eben auch benotet wurde. Das Sammeln unterrichtspraktischer Erfahrungen war daher erst einmal nebensächlich.

In Bezug auf das anstehende Praxissemester bin ich ebenfalls etwas skeptisch. Theoretisch steht uns Studierenden mindestens ein beratender Unterrichtsbesuch durch die Lehrenden der Universität in jedem Fach zu. Allerdings wurden die Erwartungen bereits in den Vorbereitungsseminaren gedämpft. Die personellen Kapazitäten würden nicht ausreichen, um die Mindestanzahl der Unterrichtsbesuche zu gewährleisten. Das kann doch nicht sein, dass die wenigen Praxisphasen dann auch noch mangelhaft durchgeführt werden.

Jurik: Ja, das ist richtig. Das Praxissemester ist wirklich auch organisatorisch total herausfordernd. Dabei ist die Idee ja eine sehr gute: Eine deutlich längere Praxisphase, die dann auch die Teilhabe am Schulleben, an Elternarbeit, eben auch mal am Ganztagsbetrieb erlaubt. Was nicht heißt, dass das aktuell schon reibungslos läuft. Aber an Bachelor und Master schließt sich in Berlin ein einheitlicher Vorbereitungsdienst von 18 Monaten an. Findest du da immer noch, Praxis hat absolut zu wenig Platz?

Laureen: Okay, bei dem Argument der Quantität bezogen auf die gesamte Zeitspanne der Lehrkräftebildung gehe ich mit. Dann bleibt trotzdem noch ein grundsätzliches Problem: die fehlende praktische Anwendung des fachlichen und fachdidaktischen Wissens. Ich habe das Gefühl, dass dieses Wissen vor allem für Prüfungen erworben und danach wieder vergessen wird. Was fehlt, sind realistische Anwendungskontexte, die zeitnah realisiert werden. Wir planen Unterrichtsszenarien, ohne irgendeinen Bezug zu einer real existierenden Lerngruppe zu haben. Woher weiß ich denn, ob meine Planung überhaupt funktionieren wird? Das denke ich mir vor allem oft im Kontext des inklusiven Leitgedankens, der sich durch mein gesamtes Studium zieht. Ich kann es mir manchmal nur schwer vorstellen, dass mein theoretisch geplanter Unterricht in der Praxis wirklich alle Kinder bestmöglich berücksichtigt und in ihrer Entwicklung fördert.  

Jurik: Wir können nicht ganz weg von der grundsätzlichen Anlage einer universitären Lehrkräftebildung. Die bereiten nie ganz unmittelbar auf Berufspraxis vor, den Anspruch kann man ja auch bei vielen Studiengängen schwerlich haben. Woher weiß man vorher, auf welchen Beruf man sich vorbereitet oder vorbereitet wird? Auch die Lehrkräftebildung verantwortet in erster Linie ein wissenschaftliches Studium, das zu verschiedenen tatsächlichen Tätigkeiten führen kann - zu Tätigkeiten in Bildungs- und Wissenschaftsverwaltung, in Stiftungen aber eben auch in der Wissenschaft. Eine Fokussierung allein auf schulische Praxis würde auf diese Praxisfelder nur bedingt vorbereiten. Und deswegen spricht doch vieles für ein Studium, das exemplarisch bleibt, kompetenzorientiert und damit auch verschiedene anschließende Wege ermöglichen kann.

Laureen: Da hast du natürlich Recht. Ich möchte aber von der Forderung nach mehr Praxisanteilen beziehungsweise mehr Aufenthaltszeit in Schulen noch einmal auf die Anwendungskomponente von universitär erworbenem Wissen und erworbenen Kompetenzen zurückkommen. Ich würde mir wünschen, dass in den Seminaren zum Beispiel auch aktuelle Lehrwerke oder Unterrichtsbeispiele größere Beachtung finden würden. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesen Materialien kann ich doch mein fachliches und fachdidaktisches Kompetenzrepertoire auf Praxistauglichkeit prüfen. So würde sich an dieser Stelle für mich eine gute Balance zwischen Theorie- und Praxisbezug einstellen.

Jurik: Ja, Lehrwerke sind ein guter Kompromiss. Die lassen sich schnell einbeziehen, es ist praktisch und fühlt sich praktisch an, gegebenenfalls lassen sich Überarbeitungen auch im eigenen späteren Schuldienst nutzen. Das machen wir übrigens auch, mindestens im Sachunterricht spielt das eine wichtige Rolle im Studium. Es besteht natürlich eine Gefahr. Die intensive Kritik an – oft nicht ganz idealen, zeitgemäße Fachdidaktik repräsentierenden – Materialien führt dann auch nicht zu viel mehr praktisch Nutzbarem. Man könnte fast mit Blick auf teils mit erheblichen kommerziellen Interessen veröffentlichte Materialien zuspitzen: Warum sollen wir sowas dann auch noch reproduzieren in der Lehre?

Laureen: Ich denke, dass es gerade nicht um das Reproduzieren geht. Solche vielleicht eher qualitativ fragwürdigen Lehrwerke bieten doch vor allem einen Anlass dazu, die eigenen Kompetenzen beispielsweise in Bezug auf die Beurteilung von Aufgaben zu steigern. Aufgaben sind ja meistens der Dreh- und Angelpunkt des Unterrichts, weshalb anwendungsbezogenes Wissen hier von besonderer Relevanz ist, meiner Meinung nach.

Aber ich möchte gerne auch noch einmal einen anderen Punkt ansprechen: Wie sieht es eigentlich mit dem Erwerb sozialer Kompetenzen aus? Da fällt mir als erstes der Bereich Lehrkräftekooperation ein, der uns immer als Schlüssel zu qualitativ hochwertigem Unterricht präsentiert wird. Zudem ist dieser Bereich auch von enormer Bedeutung für die allgemeine Schul- und Unterrichtsentwicklung. Ein anderes Beispiel betrifft die Beziehungsebene zwischen mir als Lehrkraft und meinen Schüler*innen. Wie baue ich eine persönliche und vertrauensvolle Beziehung zu den Kindern auf, ohne meine professionelle Distanz zu verlieren? Das kann doch eigentlich nicht sein, dass Fragen oder Aspekte dieser Art erst im Referendariat so richtig auf einer konkreten praktischen Ebene bearbeitet werden. Dafür sind sie meiner Ansicht nach zu wichtig.

Jurik: Ja, das ist richtig. Ich kann die Lösung auch gar nicht ganz spontan präsentieren, würde deshalb hier auf die Bildungswissenschaften verweisen. Das sind ja klassische Themen, die in den bildungswissenschaftlichen Studienanteilen verhandelt werden. Aber es sind zugleich auch viele Themen, die dort verantwortet werden: Forschendes Lernen, Digitalisierung, Elternarbeit, Inklusion, Sprachbildung zumindest zum Teil. Aber: Es sind eben doch nur 300 Leistungspunkte, man wird unmöglich alle Themen vertieft thematisieren und diskutieren können, die sich an und von Schulpraxis ableiten lassen.

Laureen: Es stimmt, dass wir nicht unendlich viele weitere Inhalte in das Studium aufnehmen können. Aber dann wäre es doch eine gute Idee, wenn, wie vorher schon einmal angesprochen, von Anfang an ein kontinuierlicher Praxisbezug inklusive Aufenthalt in den Schulen stattfindet. Viele Aspekte, die keinen prominenten Platz im rein theoriebezogenen Studium haben, könnten durch begleitende Mentoringangebote vor Ort konkret und praxisnah thematisiert und reflektiert werden. 

Jurik: Anekdotisch, zugegeben: Ich hab auch in diesem Semester wieder zwei sehr eng mit Praxis verzahnte Lehrangebote unterbreitet und bei beiden Angeboten sind von anfangs noch sehr hohen Anmeldezahlen final so wenige Studierende dabei geblieben, dass ich fast überlegen muss, ob die Studierendenzahl überhaupt ausreicht für die Vorhaben. Ich verstehe gut, wenn Studierenden den vermutlich immer höheren Aufwand solcher Veranstaltungen scheuen, An- und Abreise, Vor- und Nachbereitung, das kann gegenüber wöchentlich 90 Minuten oder gar asynchronen Angeboten dann sehr unattraktiv wirken. Aber welche Schlüsse ziehen ich aus solchen Entwicklungen für meine Lehre und mein Lehrangebot?

Laureen: Das ist tatsächlich sehr verwunderlich und ich kann dir darauf auch keine Antwort liefern. Du hast aber gerade konkrete Lehrveranstaltungen angesprochen und dazu fällt mir noch ein Aspekt ein, der noch einmal den Anwendungsbezug innerhalb des theoriebezogenen Studiums betrifft. Normalerweise wird im Gegensatz zu den Vorlesungen in den Seminaren immer sehr viel diskutiert, vor allem auch in Bezug auf Praxisfragen und Anwendungskontexte. Während der digitalen Lehre hatte ich teilweise das Gefühl, dass sich eben dieses Wesen der Seminare verändert hat. Beispielsweise habe ich letztes Semester das in den Bildungswissenschaften angesiedelte Modul „Lernförderung und Lernmotivation“ belegt, welches aus einer Vorlesung und einem Seminar besteht. Wöchentlich wurden jeweils ein Video zur Vorlesung und ein Video zum Seminar hochgeladen. Das Seminarvideo hat meiner Meinung nach die Vorlesungsinhalte noch einmal zusammengefasst und mit ein bis zwei Beispielen unterlegt. Allerdings fanden überhaupt keine von den Dozierenden angeleiteten „Live-Diskussionen“ in einer größeren Gruppe statt, wo eben anwendungsbezogene Fragen oder Ähnliches hätten diskutiert werden können. Das finde ich vor allem deshalb schade, weil gerade dieses Modul so wichtige Themen wie zum Beispiel die Reduzierung von Leistungsangst, das kooperative Lernen oder Elemente der Klassenführung aufgreift – also gerade die Aspekte, die in den Fächern eher nicht auftauchen und die für die Praxis jedoch von enormer Bedeutung sind.

Jurik: Und da fehlen mir jetzt die Worte, auch ich hab keine gute Begründung, warum ein solches Seminar auf diese Art jetzt durchgeführt werden muss. Lehrende sind an den Universitäten ja hinsichtlich solcher Entscheidungen ziemlich autonom. Mit diesem ganzen Cluster Digitalisierung, blended learning und so weiter kommt nun noch einmal ein ganz neuer, wichtiger Aspekt. So etwas wie das eben erwähnte Praxisangebot kann man nicht vollständig digitalisieren und das wollen wir auch nicht. Aber unser Studium, das Studieren und unsere Lehre müssen sich auch irgendwie auf neue Realitäten anpassen. Ich hatte in den Veranstaltungen der vergangenen Wochen Menschen mit Kind auf dem Arm aus dem Home-Office zugeschaltet, eine Person in Quarantäne ohne Symptome, das war technisch ziemlich einwandfrei, die Interaktion war natürlich noch nicht so richtig ideal.

Laureen: Ja, mit dem Thema digitaler Lehre machen wir jetzt noch einmal ein ganz neues Feld auf. Ich denke, dass die ausführliche Diskussion von solchen Aspekten hier zu weit führen würde. Ich würde es schön finden, wenn wir uns zum Schluss auf einen Kompromiss zum Verhältnis von Theorie und Praxis einigen könnten. Ich glaube, wir stimmen beide der Forderung zu, dass die existierenden Praxisanteile eine qualitativ hochwertige Durchführung benötigen, um ihren angedachten Lerneffekt auch umfänglich entfalten zu können.  

Jurik: Richtig. Wir sind uns auch einig, dass man auch über eine moderate Erhöhung der Praxisanteile reden könnte. Wir sind uns auch einig, dass es charmant ist, über Modelle nachzudenken, in denen von Beginn an noch intensiver praktisch agiert wird, wenngleich wir ahnen, dass das für Deutschland und für Berlin keine zeitnah greifbare Perspektive ist.

Laureen: Dem würde ich gerne noch abschließend hinzufügen, dass uns das Studium nicht auf Prüfungen, sondern auf den Beruf vorbereiten soll. Die konsequente Verankerung dieser Einstellung im Studium wäre langfristig vermutlich mein größter Wunsch.

Eine ausführliche Version des Gesprächs.

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