blz 02 / 2015
Hauptsache wir leben
Der Krieg in Syrien, die Flucht nach Deutschland und das Ankommen in der Berliner Schule. Syrische SchülerInnen der Carl-Zeiss-Oberschule erzählen ihre Geschichte
Wir, Bushra, Marah, Lana, Farah, Mariam, Macid, Youssef, Khaled, Feras und Odei kommen aus Syrien, wir sind Kriegsgeflüchtete. Die meisten von uns sind seit einigen Monaten in Berlin. Wir gehen hier in die Carl-Zeiss-Oberschule. Wir gehen in eine Klasse, in der wir vor allem Deutsch lernen, aber wir haben auch andere Fächer. Jedoch ist alles für uns Deutschunterricht. Wir fühlen uns sehr wohl in Berlin, wir freuen uns jeden Tag, wenn wir zur Schule gehen können. Hier ist alles frei und sicher. Und reich. Aber auch fremd. Es ist sehr anstrengend, den ganzen Tag über Deutsch zu lernen und zu sprechen. Wir sind oft richtig erschöpft und müde. Wir verstehen uns alle sehr gut, weil uns das gleiche Schicksal verbindet: Der schreckliche Krieg, die Flucht aus Syrien nach Deutschland. Wir haben uns gegenseitig unsere Geschichten erzählt, die wir nie vergessen werden. Die Flucht. Manche sind mit dem Boot übers Meer geflüchtet, andere mit dem Auto gefahren. Meist mit Schleppern für viel Geld. Jeder hat da seine Geschichte. Wir haben überlebt, das ist das Wichtigste. Aber jeder von uns hat Familienangehörige, die im syrischen Bürgerkrieg gestorben sind oder schwer verletzt wurden. Auch diese Trauer verbindet uns.
Mein Name ist Youseff (16). Ich komme aus Aleppo, einst unsere Kulturhauptstadt, auf die wir stolz waren. Das war einmal. Unser Haus, unsere Schule sind vollständig zerstört. Die Hauptstraßen sind nur noch Schuttplätze. Lernen und Schulalltag, den hatten wir nicht mehr. Was wir nur noch lernen konnten, war zu überleben. Statt Mathematik lernten wir Kinder zu zählen, wer noch übrig ist in der Familie oder von unseren Freunden. Statt Musik hörten wir den Lärm der Bomben und Granaten. Nach den Angriffen war meine Stadt, die einmal der schönste Ort war, nur noch mit Staub überzogen, überall Dreck, Trümmer und Tote. Für uns Kinder war das der Alltag. Jeden Tag denke ich da-ran, höre den Krieg, sehe die schrecklichen Bilder. Und ich rieche ihn dann auch. Viele von uns haben auf ihren Handys die grausamsten Bilder. Selbst fotografiert. Ich hoffe, wir schaffen es bald, sie zu löschen, dort und im Kopf.
Ich heiße Macid (18). Meine Schwester Bushra (17) und ich kommen aus Damaskus. Mein schlimmstes Erlebnis war, als ich drei Tage lang gefangen war von der Polizei bei uns: Es war Ramadan 2013. Ich fuhr mit dem Auto. Plötzlich hielten mich Polizisten mit Gewehren auf mich gerichtet an, zogen mich aus dem Auto und brüllten mich an. Sie schleppten mich in ein Lager. Dort folterten sie mich drei Tage, sie schlugen mich. Sie übergossen mich mit Wasser, gaben mir Stromstöße. 400 Volt Strom durch meinen Körper gejagt. Hauptsächlich an den Brustwarzen angeschlossen bis ich bewusstlos wurde. Noch heute schmerzen meine Hände und Finger davon. Ich musste die ganze Zeit knien. Dann schlugen sie mich mit einer Eisenstange auf meinen Bauch. Ich hatte Schmerzen, wie ich sie nie zuvor ertragen musste.
Sie schmissen mich in den Dreck und ließen mich liegen. Ich bin dann von anderen gerettet und zu meiner Familie gebracht worden. Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich stand völlig unter Schock. Hörte nur das Weinen meiner Mutter. Ich weiß nur, dass ich überlebt habe, weil sie mich für tot hielten. Ich habe zwei Wochen gebraucht, um wieder laufen zu können. Mein Bauch ist seitdem von einer riesigen Narbe bedeckt, es schmerzt immer noch. Daher kann ich das wohl nie vergessen. Oft sehe ich die Bilder wieder vor mir. Seltsam ist, dass wir alle nie davon nachts träumen. Wir denken nur immerzu daran. Nach dem Erlebnis sind unsere Eltern mit uns geflüchtet. Wir versteckten uns bei wildfremden Menschen, die uns halfen. Das ist komisch an diesem Krieg: Er ist schrecklich, aber er bringt auch die Menschen zusammen. Immer wieder wurde uns geholfen. Einfach so. Sonst hätten wir nicht überlebt.
Meine Schwester Bushra ist zurzeit sehr unglücklich. Bushra war eine sehr gute Schülerin in Syrien. Auch hier lernt sie fleißig. Besser als ich. Aber ihr fehlt ein halbes Jahr Schule. Die Schule gab es einfach gar nicht mehr. Jetzt kann sie nicht in die 11. Klasse gehen. In Syrien wäre sie in der 12. Klasse. Sie möchte Abitur machen und Zahnärztin werden. Das schafft sie auch, ich bin mir da sicher. Mir tut es weh, meine Schwester so traurig zu sehen. Gerne würde ich sie wieder lachen sehen.
Ich heiße Odei (16). Ich kann es nicht vergessen. Überall wurde geschossen. Wenn nicht mehr auf Menschen geschossen wurde, haben sie einfach auf Haustiere geschossen, nur so, aus Vergnügen. Das hat es so schlimm gemacht. Wir hatten den Eindruck, als wenn diese Menschen alle Menschlichkeit verloren haben. Der Tod auf den Straßen wurde normal. Ich kann nicht vergessen, was ich gesehen habe. Die Bilder, die Schreie, das Blut, die abgetrennten Körperteile, die in den Straßen lagen. Die Angst wurde täglich schlimmer, manchmal waren wir nur noch müde, dann war uns alles egal. Wir sind dann geflohen.
Über das Meer nach Italien. Ich denke immer daran. Selbst Freude schafft diese Bilder und Gedanken nicht weg. Meine Verwandten und Freunde sind noch in Syrien. Wir versuchen über Skype in Kontakt zu bleiben. Wenn es Strom gibt. Das ist das größte Problem. Strom und Wasser fehlen in Syrien überall.
Mein Name ist Lana (17). Ich komme aus der Stadt, in der 2011 der Bürgerkrieg begonnen hat, aus Daraa. Ein paar Kinder haben die Wände besprayt, mit politischen Parolen. Es waren Kindereien. Sie wurde verhaftet und schrecklich gefoltert. Kinder zwischen 9 und 14 Jahren. Kinder, die einfach übermütig waren. Ihnen wurden die Zehennägel und die Fingernägel herausgerissen, sie wurden verstümmelt, missbraucht, mit Elektroschocks gefoltert. Dann gingen ihre Eltern auf die Straße und forderten ihre Kinder zurück. Meine ganze Stadt beteiligte sich daran. Zuletzt haben sie die geschundenen Kinder wieder zurückgebracht. Wir jubelten alle, aber die Kinder waren mehr tot als lebendig. Dann begannen im ganzen Land die Proteste. Meine Familie konnte auch nicht mehr dort bleiben. Wir flohen unter schlimmen Umständen über das Meer, nach Ägypten, dann Italien, von dort nach Deutschland.
Mein Name ist Marah (17). Die Flucht war das Schlimmste, was ich jemals erlebt habe.
Aber wir leben. Das ist die Hauptsache! Wir flohen mit einem Boot, das mehr Wrack war als Fischerboot und mussten dafür viel Geld bezahlen. Wir wollten nach Ägypten. Sieben Tage verbrachten wir auf dem Meer. Es war so schrecklich, dass ich mich nach einiger Zeit nicht mehr fürchtete, denn ich wusste nicht, wovor ich mehr Angst haben sollte: vor dem Meer oder diesen schrecklichen Männern. Auf hoher See drohten sie dann, uns Kinder, auch Neugeborene, ins Meer zu werfen, weil wir nicht genug bezahlt hätten.
Meine Mutter und all die anderen Frauen gaben ihren Goldschmuck her, auch unsere Handys. So konnten wir im Boot bleiben. Wir hatten nichts mehr, nur unser Leben, aber das ist viel in diesen Zeiten. Wir flohen dann weiter über Italien nach Deutschland, denn es hieß, dass die Deutschen sehr freundlich zu uns Syrern sind. Das stimmt. Wir sind alle froh hier zu sein.
Die Lehrer fragen uns, wieso wir immer so fröhlich sind, obwohl doch alles schlimm war. So sind wir Syrer nun mal und man muss doch vorwärts schauen. Im Unterricht lernen wir auch deutsche Lieder, Klavier oder Gitarre. Dann sind wir glücklich. Und nun singen wir auch wieder gerne die Lieder unserer Kindheit. Wir haben zwar alles verloren, aber Hauptsache ist doch, dass wir noch leben. Und wir haben wieder Hoffnung und Träume.
Dieser Artikel ist Teil des blz-Themenschwerpunkts „Geflüchtete Kinder“