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Housing First in Berlin
Housing First bietet obdachlosen Menschen mit komplexen Problemlagen Wohnraum ohne Vorbedingungen. Die Selbstbestimmung der Betroffenen steht dabei im Vordergrund – ein Paradigmenwechsel.
Der Ansatz wurde in den 1990er Jahren in New York von Sam Tsemberis entwickelt, um besonders für Menschen mit schweren psychischen oder Suchterkrankungen eine stabile Lebensgrundlage zu schaffen. Der sofortige Zugang zu eigenem Wohnraum bildet die Basis für eine langfristige soziale Integration. Der Wohnraum wird nicht als das Ergebnis eines langen Hilfeprozesses verstanden, sondern als Ausgangspunkt, um die Menschen dabei zu unterstützen, sich zu stabilisieren.
Durch Housing First zeichnet sich ein Paradigmenwechsel in der Wohnungslosenhilfe ab, da sich die Machtverhältnisse zwischen Hilfesuchenden und Hilfsanbietern verschieben. In herkömmlichen Modellen der Wohnungslosenhilfe steht oft die Erfüllung bestimmter Bedingungen im Vordergrund, bevor eine Person in eine dauerhafte Wohnung vermittelt wird. Housing First kehrt dieses Prinzip um, indem den Menschen sofort ein eigenes Zuhause angeboten wird, ohne dass sie zuvor Bedingungen erfüllen müssen. Statt Kontrolle und Zwang steht die Eigenverantwortung und Selbstbestimmung der Betroffenen im Fokus. Der Ansatz zielt darauf ab, ihnen nicht nur ein dauerhaftes Zuhause zu bieten, sondern ihnen auch eine umfassende soziale Teilhabe zu ermöglichen.
In der öffentlichen Diskussion wird Housing First in Deutschland oft emotional und mit Missverständnissen betrachtet. Häufig wird der Ansatz fälschlicherweise mit traditionellen Modellen gleichgesetzt, obwohl sich Housing First klar davon unterscheidet. Oder es wird als reine Wohnraumvermittlung für obdachlose Menschen fehlinterpretiert und nicht als strukturiertes und nachhaltiges Hilfsangebot. Das Erfolgsbeispiel anderer Länder zeigt jedoch, dass der Ansatz auch in Deutschland langfristig positive Effekte haben kann.
Langfristig und unbürokratisch finanzieren
Housing First wurde in Deutschland erstmals 2015 über das Düsseldorfer Straßenmagazin FiftyFifty eingeführt. Mittlerweile gibt es rund 40 Projekte, die diesen Ansatz verfolgen. Zu den bekanntesten Projekten gehören »Housing First Berlin« und »Housing First für Frauen«, die beide seit 2018 aktiv sind. Der Bundesverband Housing First e. V., der 2022 gegründet wurde, fördert die Vernetzung der Projekte und sorgt für eine einheitliche Umsetzung der klar definierten Prinzipien des Programms. Aufgrund des Erfolgs von Housing First Berlin und Housing First für Frauen wurden in Berlin weitere Housing First-Projekte gestartet, darunter von My Way Soziale Dienste, Schwulenberatung Berlin, ZIK – Zuhause im Kiez und Phinove e.V.
Um Housing First in Berlin erfolgreich umzusetzen, ist eine stabile und langfristige Finanzierung unabdingbar, damit die Projekte, die bereits gut arbeiten, weiter ausgebaut und fest implementiert werden können. Derzeit ist die Finanzierung oft von zeitlich begrenzten Projektmitteln abhängig, was die Planungssicherheit und die Kapazität der Projekte einschränkt. Ein weiteres Problem ist die Finanzierung der sozialen Hilfen für die Klient*innen. Aktuell ist die Anzahl der Teilnehmenden oft begrenzt, da die Finanzierung von den verfügbaren Projektmitteln abhängt. Eine gesetzliche Regelung, die diese Hilfen langfristig absichert, wäre eine sinnvolle Lösung. Dadurch könnten mehr Menschen in das Programm aufgenommen und kontinuierlich betreut werden. Es ist außerdem wichtig, dass die notwendigen Mittel flexibel und ohne bürokratische Hürden abrufbar sind, um den spezifischen Bedürfnissen der Klienten gerecht zu werden. Insbesondere bei Housing First hängt der Erfolg der Hilfe von der Anpassungsfähigkeit der Unterstützungen an die Bedarfe der Klient*innen ab.
Bezahlbarer Wohnraum gesucht
Ein weiteres zentrales Problem ist der Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Es reicht nicht aus, neue Wohnungen zu schaffen, sie müssen auch für die Zielgruppe von Housing First, obdachlose Menschen oder Menschen mit psychischen und Suchterkrankungen, zugänglich sein. Berlin, wie viele andere Großstädte, leidet unter Wohnraumknappheit, insbesondere im Bereich des unteren Preissegments. Hier muss die Politik gezielt eingreifen und Maßnahmen zur Wohnraumbeschaffung und -verteilung ergreifen. Zudem stellt die Zusammenarbeit mit Vermietern eine Herausforderung dar, da es oft Vorurteile gegenüber der Zielgruppe von Housing First gibt. Viele Vermieter*innen sind zurückhaltend, wenn es darum geht, Wohnungen an Menschen zu vermieten, die zuvor obdachlos waren oder komplexe Problemlagen haben. Daher müssen Strategien entwickelt werden, um das Vertrauen der Vermieter zu gewinnen und den Zugang zum Wohnungsmarkt zu erleichtern.
Ein nachhaltiges Erfolgsmodell
Trotz dieser Herausforderungen hat sich Housing First in anderen Ländern, insbesondere in Finnland, als äußerst erfolgreich erwiesen. Finnland hat durch eine umfassende nationale Strategie, die den Bau von Wohnungen mit der Bereitstellung von Unterstützung nach den Prinzipien von Housing First für obdachlose Menschen kombiniert, die Obdachlosigkeit nahezu vollständig überwunden. Dieses Beispiel zeigt, dass ähnliche Erfolge auch in Deutschland, insbesondere in Berlin, erzielt werden könnten, wenn die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die erfolgreiche Umsetzung von Housing First in Berlin einen ganzheitlichen Ansatz erfordert. Neben der Bereitstellung von Wohnraum müssen langfristige Finanzierung und politische Unterstützung gewährleistet werden. Nur wenn alle diese Faktoren zusammenwirken, kann Housing First sein volles Potenzial entfalten. Die bisherigen Erfolge der Projekte in Berlin und anderen deutschen Städten zeigen, dass der Ansatz funktioniert und es möglich ist, Wohnungslosigkeit gesamtgesellschaftlich zu überwinden.