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Tendenzen

"Ich bin jetzt in der Verantwortung, Stück für Stück Lösungen zu finden"

Die überlasteten Bildungseinrichtungen brauchen eine Perspektive. Die bbz sprach mit Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch über die schwierigen Wege von Kitas, Ganztag und Schulen zu mehr Bildungsqualität. Ungekürzte Version des Interviews.

Foto: Bertolt Prächt

bbz: Sie haben jetzt zum zweiten Mal als Bildungssenatorin ein Schuljahr eröffnet und die Situation des Personalbedarfs erläutert. Wie bewerten Sie die Entwicklung seit Amtsantritt? 

 

Katharina Günther-Wünsch: Die Personaldecke ist seit Jahren angespannt. Wir haben einen bundesweiten Fachkräftemangel. Für Berlin war es auf jeden Fall richtig, die Verbeamtung wieder einzuführen. Wir haben eine geringere Abwanderungswelle, wir haben eine Haltequote der Referendarinnen und Referendare von 80 Prozent. Gleichzeitig braucht es eine gewisse Flexibilität im Personalmanagement. Deswegen haben wir letztes Jahr die Umwandlung von Lehrerstellen in andere Professionen zum einen reversibel gemacht und zum anderen die Anzahl der Professionen erhöht, in die umgewandelt werden kann. Davon machen zunehmend mehr Schulen Gebrauch. Gleichzeitig haben wir auch eine demographische Entwicklung, die gar nicht über Nacht zu einer Trendumkehr führen kann. Denn wir haben viel zu wenig Arbeitnehmer für zu viel Arbeit. Und deswegen sage ich immer, wir müssen mit dem Personal arbeiten, das wir haben. Wir müssen Entlastung in die Schulen bringen. Wir müssen andere Professionen in die Schulen bringen und gleichzeitig dafür sorgen, möglichst viele Pädagoginnen und Pädagogen im Land zu halten. Obwohl ich mich auch nicht der Illusion hingebe, dass Pädagogen nicht mobil seien. Es ist auch für mich als Pädagogin das dritte Bundesland. Die Situation ist nach wie vor nicht zufriedenstellend, aber wir haben das alles so erwartet und wir haben erste Maßnahmen ergriffen, dass zumindest die Schulen das Gefühl und auch die Möglichkeiten haben, etwas gegensteuern zu können. 

 

bbz: Sie sprachen von einer geringeren Abwanderungsquote, gleichzeitig ist der Stand der Kündigungen sehr hoch. Wie passt das zusammen? 

 

Katharina Günther-Wünsch: Lehrkräfte können sich momentan das Bundesland aussuchen. Es ist eine Branche, die intensiv gefragt ist. Und wir haben natürlich auch nach wie vor die Nähe zu Brandenburg. Wir haben junge Beschäftigte, die eine Familie gründen. Auch das ist nachvollziehbar in der Statistik, dass gerade Familien vor der Einschulung ihrer eigenen Kinder in ländliche Gegenden ziehen. Ich lehne es ab zu sagen, dass diese Kündigungen sich ausschließlich darauf beziehen, dass das Arbeitsverhältnis hier unattraktiv wird, weil uns nichts wesentlich von anderen Bundesländern unterscheidet, was den Personalmangel, die Klassenstärken und die Unterrichtserteilung betrifft. Deshalb sollte man nicht immer suggerieren, dass es in anderen Bundesländern so viel attraktiver ist. Und was in dieser von Ihnen angesprochenen Statistik auch noch abgebildet wird, sind die angestellten Lehrkräfte, die zwei, drei Jahre früher in Rente gehen. Auch um dem entgegenzuwirken, setze ich mich sehr dafür ein, Lehrkräfte zu entlasten – durch zusätzliches Personal wie Verwaltungsleitungen oder Schulsozialarbeiterinnen und -sozialarbeiter, aber auch durch digitale Unterstützungsinstrumente.

 

bbz: Ein Teil der Lösung des Problems des Fachkräftemangels sind die derzeitigen Lehramtsanwärter*innen. Die Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung hat jetzt zu einer zusätzlichen Belastung geführt. Ist das in so einer Situation nicht kontraproduktiv? 

 

Katharina Günther-Wünsch: Nein, das sehe ich tatsächlich anders. Bis wir die Unterrichtsverpflichtung auf zehn Stunden erhöht haben, waren wir bundesweit das Bundesland mit der geringsten Verpflichtung zu eigenverantwortlichem Unterricht. Kann man sich das in Zeiten des Fachkräftemangels leisten? Zum einen haben wir der Realität in den Schulen Rechnung getragen. Auf der anderen Seite können wir der Personalknappheit nur gemeinschaftlich begegnen. Und ich denke, es ist auch nicht die Erwartungshaltung der GEW, dass wir erfahrene Pädagoginnen und Pädagogen, die in ihrer eigenen Ausbildung noch mehr Stunden eigenverantwortlichen Unterricht hatten, verpflichten, voll zu arbeiten und der Kollege mit Mitte Zwanzig gibt am wenigsten eigenverantwortlichen Unterricht. Auch der Nachwuchs kann einen Anteil der Aufgabe stemmen, die Schule zu leisten hat.

 

bbz: Sie sprachen davon, dass Sie mehr Entlastung in die Schulen bringen wollen. Die GEW hat seit Jahren die Forderung nach einem Tarifvertrag für den Gesundheitsschutz, für kleinere Klassen und eine bessere Personalbemessung. Ist es in so einer Situation nicht an der Zeit, in Verhandlungen einzusteigen, um den Kolleg*innen zu signalisieren, dass da ein verlässlicher Weg zu einer besseren Arbeitssituation geebnet wird?

 

Katharina Günther-Wünsch: Sie sehen mir nach, dass ich schmunzle. Ich glaube pädagogisch eint uns das Ziel. Wir haben aber gerade darüber gesprochen, wie angespannt die Personallage ist. Das heißt, wenn ich die Klassen verkleinern will, brauche ich schlagartig Hunderte Lehrkräfte mehr. Diese kleineren Klassen müssen unterrichtet und untergebracht werden. Und da haben wir auch ein räumliches Problem, uns fehlen hier in Berlin rechnerisch bald 27.000 Schulplätze. Was soll ich den Pädagoginnen und Pädagogen für eine Perspektive geben? Ich habe Ihnen gesagt, dass das Problem 15 Jahre gewachsen ist, also mitnichten in meiner Verantwortung. Ich bin jetzt in der Verantwortung, Stück für Stück Lösungen zu finden. Ich kann aber zum Stand heute gar nicht sagen, wann wir in den Zustand kommen, dass wir Klassen mal wieder abschmelzen können, weil ich gar nicht sagen kann, wie die demografische Entwicklung sein wird. In den letzten 24 Monaten haben wir schlagartig 14.000 schulpflichtige Kinder dazugewonnen – nicht zuletzt durch die Flüchtlingsbewegungen. All die monetären Anreize haben in den vergangenen Jahren nur die Teilzeitquote erhöht und nie dazu geführt, dass wir eine stabile Personaldecke hatten, die ich bräuchte, um über eine Perspektive bei der Klassenstärke zu sprechen. Worüber ich gerne spreche, und das habe ich der GEW auch immer signalisiert, ist das Thema der Entlastungen. Wie kriegen wir Entlastungsstrukturen rein, die nichts mit der Klassenstärke zu tun haben? 

 

bbz: Bei den nichtpädagogischen Tätigkeiten wäre für Entlastung sicherlich viel Luft nach oben.

 

Katharina Günther-Wünsch: Total. Auch dafür brauche ich Personal oder Digitalisierung. Und an beiden Sachen sind wir dran. Wir sind noch nicht vollständig dort, wo wir gerne wären, aber mit kleineren Klassen hat das nichts zu tun. 

 

bbz: Es geht immer auch darum, wie man langfristig Perspektiven eröffnet. Und da schauen Pädagog*innen natürlich schon: Ist das ein Arbeitgeber, wo ich auch in Zukunft arbeiten will? Die Arbeitszeitstudien für Lehrkräfte sagen schon seit Jahrzehnten, dass ein Großteil der Lehrkräfte über die tarifliche Arbeitszeit hinaus arbeitet. Aber als Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) haben Sie sich dagegen gewandt, bei Lehrkräften die Arbeitszeit zu erfassen. Sehen Sie das Problem an dieser Stelle nicht? 

 

Katharina Günther-Wünsch: Nicht ich habe mich als KMK-Präsidentin dagegen gewandt, sondern alle Bildungsministerinnen und -minister, Bildungssenatorinnen und -senatoren der KMK haben gemeinsam einen Brief an Bundesarbeitsminister Hubertus Heil geschrieben und gefragt, wie er mit dem Gesetz zur Arbeitszeiterfassung, das er vorgelegt hat, die Ausnahmen generieren will. Wie wollen wir zum Beispiel erfassen, was Lehrkräfte am Abend noch arbeiten? Wie wollen wir die Ferienzeiten einbeziehen, die Prüfungszeiträume? Das Gesetz, so wie es jetzt vorliegt, bietet viel mehr Nachteile als Vorteile für die Pädagoginnen und Pädagogen. Ich weiß, dass die GEW eine eigene Studie zur Arbeitszeiterfassung in Auftrag gegeben hat, selbstverständlich habe auch ich ein Interesse daran. Wir haben immer wieder wahrgenommen, dass die Prüfungszeiträume sehr belastend sind. Es gibt aber auch Zeiträume, da haben unsere Kolleginnen und Kollegen Minusstunden gemacht. Wie verrechnet man sowas gut? Da müssen gute Modelle gefunden werden, die allen gerecht werden, insbesondere auch den Teilzeitkräften. Das sind alles Debatten, die in solch einem Gesetz Niederschlag finden müssen. Und dazu gibt es momentan keinen einheitlichen Weg, den es geben müsste, damit er rechtlich bindend ist. 

 

bbz: 20 Jahre Ganztag: Berlin war lange Vorreiter, doch es bröckelt. Die Kolleg*innen sind psychisch belastet, denn der Personalschlüssel ist sehr hoch angesetzt. 22 ist eine hohe Anzahl an Kindern, die betreut werden müssen. Wie haben Sie vor, mehr auf die Gesundheit der Kolleg*innen zu achten?

 

Katharina Günther-Wünsch: Hier führen wir dieselbe Debatte über den Schlüssel, wie wir sie bei den Lehrerinnen und Lehrern führen. Auch da warne ich davor zu sagen, dass es ausschließlich eine Frage des Geldes ist. Ich glaube, wir müssen auch dort Entlastung schaffen. Was ich zunehmend von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern höre, ist, dass sie auf bestimmte Situationen nicht gut vorbereitet sind und sich, gerade auch nach Corona, wo viele Kinder auch mit psychosozialen Problematiken zurückkehren, Qualifizierung wünschen, aber auch Unterstützung durch Therapeuten. Das andere ist die Zusammenarbeit mit Ämtern und da sind Sozialarbeitende noch viel häufiger gefordert. Ich wünsche mir sehr, dass Schule und Jugendhilfe noch viel besser zusammenarbeiten. Das, was ermüdend ist, ist gar nicht das Kind, sondern es sind die Strukturen. Da sind wir erste Wege gegangen mit dem Jugendgewalt-Gipfel, von der Vorgängerregierung angestoßen. Wir sind jetzt in Vorbereitung auf den verpflichtenden Ganztag im Jahr 2026 in der Abstimmung. Wir probieren beim Kita-Chancenjahr, die Zuständigkeiten zwischen den bezirklichen Strukturen und den Schulen viel besser aufeinander abzustimmen. Mit den Sozialgesetzbüchern III und VIII, die häufig in der Jugendhilfe verankert sind, sind wir ein Stück an die Bundesgesetzgebung gebunden. Es hakt aber manchmal auch bei den Regelungen, wer was finanziert. Da sind uns rechtliche Grenzen gesetzt. Klar aber ist: Qualifikation, Entlastung von Bürokratie und klare Zuständigkeiten sind die drei Dinge, die wir auch auf Landesebene steuern können. 

 

bbz: Im Schulgesetz wurde die Priorität für die weitere Entwicklung des Ganztags in Richtung der freien Träger verlagert. Wie wird sich das auf Beschäftigte im öffentlichen Dienst auswirken? 

 

Katharina Günther-Wünsch: Ich glaube, dass diese Aussage nicht richtig ist. Wir haben nicht die Verantwortung in Richtung der freien Träger geschoben. Aber wir haben die freien Träger zu einem erheblichen Teil auch mit im Boot. Wenn wir an den Erzieherberuf denken, dann wird ein Teil des Angebots durch Kolleginnen und Kollegen, die bei freien Trägern angestellt sind, erbracht. Das muss sich auch in den Rechtsgrundlagen widerspiegeln. Für mich ist es wichtig, dass der Ganztag gesichert ist. Worüber wir natürlich reden müssen, ist dessen Zuverlässigkeit. Deshalb hatte Berlin während seiner KMK-Präsidentschaft auch die Qualitätsstandards im Ganztag als ein zentrales Thema gesetzt. Also wie kriegen wir da ein Konstrukt hin, das einen Mehrwert hat jenseits dessen, was früher als Hort galt. Und das ist die Aufgabe, die ich eher sehe: Wir sollten in Zeiten des Fachkräftemangels einen qualitativ gelungenen Ganztag an den Schulen gestalten. 

 

bbz: Qualitativ war der Ganztag früher besser. Er war eben kein Hort, sondern Kolleg*innen hatten mehr Zeit, Angebote zu machen. Das ist zurückgegangen. Auch Vereine machen weniger Angebote im Ganztag.

 

Katharina Günther-Wünsch: Ich teile das, was Sie sagen. Ich sehe da aber auch zum Beispiel die Musikschulen, die Freiwillige Feuerwehr, also viele mögliche Partner, die wir im Kiez haben. Wir haben ein Modellprojekt, das nennt sich Flex-Ganztagsgrundschule und das sieht vor, dass Schulen mit dem zur Verfügung gestellten Geld an ein bis zwei Nachmittagen dauerhafte Kooperationen einkaufen können. Für mich ist das eine Win-Win-Situation. Auf der einen Seite brauche ich immer noch eine Erzieherin, aber ich kann die Gruppe anders gestalten, weil ich natürlich noch den Trainer oder die Musiklehrerin mit dazu hole und das Angebot viel breiter mache. Wir haben das jetzt im dritten Jahr und werden es zeitnah evaluieren, um zu sehen, wie die Zusammenarbeit funktioniert.

 

bbz: Besonders wichtig wäre ja die pädagogische Kontinuität, gerade da, wo die Bedarfe am größten sind. Da hat jetzt der Wegfall der Höhergruppierung für die Erzieher*innen in sogenannten Brennpunktschulen nochmal für weitere Unruhe gesorgt. War das nötig? 

 

Katharina Günther-Wünsch: Da war ich sehr deutlich im Bildungsausschuss des Abgeordnetenhauses, und da bleibe ich auch sehr deutlich. Diese Zulage ist ein Konstrukt, das in der Vergangenheit schlecht gemacht war.

 

bbz: Da sind wir uns einig. 

 

Katharina Günther-Wünsch: Das lag bereits vor meinem Amtsantritt hier seit Jahren in der Schublade mit dem Wissen, dass es zu einem Nachteil der höher eingruppierten Erzieherinnen und Erzieher führen wird. Und es gab weder rechtlich noch haushälterisch eine andere Lösung, als diesen Weg zu gehen. Für mich war wichtig, wenn ich das jetzt schon abräume, dass es zu keinem Nachteil für die Erzieherinnen und Erzieher kommt, sie also schlagartig 300 oder 400 Euro weniger haben, sondern die Differenz schmilzt jetzt mit der Tariferhöhung ab. Sie haben de facto nicht mehr im Portemonnaie, aber auch nicht weniger. Es hat ein dreiviertel Jahr gedauert, mit der Finanzverwaltung darüber zu verhandeln. Und ich halte von den ganzen Zulagen nichts. Das sage ich auch deutlich, denn sie führen zu einer Ungleichbehandlung in ein und derselben Profession. Sie sehen es bei der Brennpunktzulage. Wir hatten Erzieherinnen und Erzieher, die sie bekommen haben und welche, die sie nicht bekommen haben. Das sind Entscheidungen, die hätte ich anders getroffen, die stellen mich jetzt auch nicht zufrieden. Zur Brennpunktzulage gibt es Berichte, dass sie nicht zu dem Ergebnis geführt hat, das man sich gewünscht hat, nämlich, dass die Schulen in prekärer Lage stabiler mit Personal ausgestattet sind. Es geht eben nicht in erster Linie um monetäre Anreize, sondern es geht um Entlastung. Es ändert sich ja nichts an dem belastenden Gefühl, wenn wir 130 Euro mehr im Monat haben. 

 

bbz: Es war auch zunächst unsere Forderung, alternativ dazu Entlastung und eine bessere Ausstattung zu schaffen. Eine Alternative ist immer noch die tarifliche Zulage und die wäre rechtlich möglich. 

 

Katharina Günther-Wünsch: Aber auch nicht in dem Konstrukt, wie wir es jetzt haben. Und mit der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) hatten wir Verhandlungen, da müsste man wieder mit dem Finanzsenator sprechen. Das ist das Maximum, das wir rausholen konnten. Wir müssten darüber gar nicht debattieren, wenn in der Vergangenheit nicht falsche Entscheidungen getroffen worden wären. 

 

bbz: Es gibt ja die Forderung, noch mehr Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen an die Schulen zu holen. Das könnten sie auch ohne die TdL machen. 

 

Katharina Günther-Wünsch: Das haben wir gemacht. Es gibt zusätzliche Stellen sowohl für die Schulsozialarbeit als auch für die Schulpsychologie. Aber auch da gilt, die besetzten Stellen sind nicht alle dauerhaft und verbindlich. Das liegt auch daran, dass die Psychologinnen und Sozialarbeiter nicht auf dem Markt sind und einfach abgeschöpft werden können, sondern das sind auch Berufsgruppen, die Mangelware sind. 

 

bbz: Um nochmal einen Blick auf die Kita-Situation zu werfen: Im Prinzip ist das ähnlich wie im Ganztag, die Kolleg*innen brauchen Entlastung. Wir hatten schon runde Tische mit Gewerkschaften, Eltern- und Kitaverbänden sowie Politiker*innen. Nun fordern Gewerkschaften und Kita-Erzieher*innen Tarifverhandlungen. Gibt es konkrete Überlegungen, wieder Betroffene an einen Tisch zu bringen? 

 

Katharina Günther-Wünsch: Ich habe das sowohl der GEW als auch ver.di immer gesagt, dass wir zu Gesprächsrunden bereit sind. Aber es ist natürlich auch wichtig, dass die Akteure am Austausch interessiert sind. Die Gewerkschaft ver.di nehme ich gerade nicht als konstruktiv und an Lösungen orientiert wahr, sondern eher konfrontativ. Mein Postfach ist voll von Eltern-Mails, die die Nase voll haben. Manche Mütter würden sich wünschen, dass sie diesen Verdienst hätten - und die bringen wir in prekäre Verhältnisse. Das ist das, was mich wirklich ärgert, als vierfache Mutter bin ich selbst auch betroffen. Pauschal zu sagen, alle Erzieherinnen und Erzieher in Berliner Kitas sind in prekären Anstellungsverhältnissen ist schlichtweg falsch. Ich war allein letzte Woche in mehreren Kitas, die nicht mehr voll belegen, weil ihnen die Kinder fehlen. Warum gelingt es den Eigenbetrieben da nicht, ihr Personal zu steuern? Sie wollten in das Konstrukt der Eigenbetriebe, sie sind alle im öffentlichen Dienst angestellt. Dann erwarte ich aber auch, dass man anfängt, sein Personal in dem Verbund in der Region zu steuern. Wir haben mittlerweile Schätzungen der Eigenbetriebe vorliegen, die von weit über 700 Abmeldungen ausgehen. Dies wird langfristig zu einer erheblichen Krise für die Eigenbetriebe führen. Bei allem Verständnis für prekäre Arbeitslagen scheint das System so flexibel zu sein und eine Kapazität sowohl für Arbeitskräfte als auch für Kinder zu haben, dass sich die Gewerkschaften überlegen müssen, wie weit sie das Spiel noch treiben können. Wenn ver.di den eingeschlagenen Kurs fortsetzt, droht den Eigenbetrieben eine Situation, in der es nicht nur weniger Kinder zu betreuen gibt, sondern gar keine mehr.

 

bbz: Pädagog*innen streiken ja nie, weil es ihnen Spaß machen, sondern sie haben ein sehr großes Verantwortungsbewusstsein für die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendliche. Und wenn sich Pädagog*innen dazu veranlasst sehen, solche Maßnahmen zu ergreifen, dann hat das auch immer Gründe. Es gibt einen hohen Krankenstand im Erzieher*innenberuf. Da muss etwas verändert werden. 

 

Katharina Günther-Wünsch: Ich leugne auch nicht, dass es Kieze mit hoher Belastung gibt, ich lehne aber den Weg, den ver.di geht, komplett ab. Verantwortungsübernahme ist keine Einbahnstraße. Wir kommen gerne zu einem runden Tisch zusammen mit den Gewerkschaften, Vertretern der Erzieherinnen und Erzieher und übrigens auch gerne mit Eltern und politisch Verantwortlichen. Ich habe mehrmals die Hand ausgestreckt und bin gesprächsbereit. Wenn diese ausgestreckte Hand aber nicht angenommen wird, sondern immer wieder die Forderung nach einer Tarifverhandlung kommt und ich stets sage, wir werden aus den dargelegten Gründen keine Tarifverhandlungen führen können, dann ist das schon eine Provokation. 

 

bbz: Der Unterschied ist natürlich, dass tarifvertragliche Regelungen verbindlich abgeschlossen werden und damit doch eine andere Qualität haben als runde Tische. Das sind die Möglichkeiten, die Gewerkschaften haben. 

 

Katharina Günther-Wünsch: Das kann man weiterspielen. Die Eltern suchen sich andere Wege und sind erfolgreich. Ich finde das sehr schade, weil wir das Konstrukt der Eigenbetriebe gerade gefährden und auch Familien in prekäre Situationen bringen, wenn sie aufgrund der Streiks nur noch eingeschränkt ihrem Beruf nachgehen können. 

 

bbz:  Sie haben gesagt, Entlastung könne auch dadurch zustande kommen, dass die Ämter besser zusammenarbeiten. Ich merke im pädagogischen Alltag keine Entlastung, wenn der Kindernotdienst die Aufnahme stoppt und ich mehr meiner Arbeitszeit darauf verwenden muss, zu schauen, wie die Kinder aufgefangen werden können. Sind hier Lösungen in Sicht? 

 

Katharina Günther-Wünsch: Wir haben schon einige, aber noch nicht alle 14 neu geschaffenen Stellen besetzt. Es ärgert mich aber wirklich, dass das immer noch falsch dargestellt wird. Der Kindernotdienst nimmt weiter Kinder auf! Der differenzierte und zeitlich befristete Belegungsstopp gilt ausschließlich für Kinder und Jugendliche, die bereits einen Platz in der stationären Kinder- und Jugendhilfe haben. Der Notdienst ist – wie der Name schon sagt – ein Notdienst, das heißt, wenn Sie zur Feierabendzeit oder am Wochenende dringend ein Jugendamt brauchen, und diese nicht mehr erreichbar sind, können Sie sich an den Kindernotdienst wenden. Das gilt zum Beispiel aufgrund von Gewaltvorfällen in den Familien, dafür ist der Kindernotdienst da. Aber diese dafür eingerichteten Plätze standen nicht mehr zur Verfügung – obwohl das laut Gesetz die originäre Zuständigkeit ist –, weil Träger der freien Jugendhilfe aufgrund ihrer eigenen Personaldecke die Kinder übers Wochenende entlassen und beim Kindernotdienst geparkt haben. Wir haben unermüdlich das System des Notdienstes für diese Notfälle gestärkt und jetzt den vierten Standort für den Berliner Notdienst Kinderschutz eingerichtet. Parallel haben wir mehrere Millionen Euro in die Hand genommen, um die stationäre Jugendhilfe auszubauen. Und wir haben inzwischen Träger mit einer Aufnahmeverpflichtung, die sind von uns direkt bezahlt, um diese Kinder mit komplexen Hilfebedarfen aufzunehmen und langfristig zu halten. 

 

bbz: Gibt es Kontrollmöglichkeiten, die Sie jetzt anders ansetzen würden, nachdem so eine Notbremse gezogen werden musste?

 

Katharina Günther-Wünsch: Wir gehen mit den Trägern intensiv ins Gespräch. Wir sind im Bereich der Hilfe zur Erziehung mit der Leistungsbemessung nach oben gegangen, weil die Träger gesagt haben, dass dort ein intensiverer Bedarf besteht. Wir haben auch Kinder mit noch komplexeren Bedarfen und unterschiedlichen Therapiebildern, gerade nach Corona – welche Ursachen das dann auch immer hat. Wir setzen natürlich auch verstärkt auf Mediation und Supervision, um mit den Trägern intensiver in den Austausch zu gehen. Und wir haben das Angebot zur Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch ein Stück weit ausgebaut, weil Personal gebraucht wird, das adäquat reagieren kann, wenn ein Jugendlicher anfängt zu randalieren und aufgrund seiner Symptomatik und Vorgeschichte herausfordernd wird. Und das greift nicht über Nacht, sondern ist ein langfristiger Prozess für alle.

 

bbz: Wir haben jetzt viel über Ressourcen gesprochen, ich möchte auch noch die aktuellen Schulgesetzänderungen ansprechen: Für die Förderprognose von Grundschulkindern sollen in Zukunft nur noch die Fächer Deutsch, Mathematik und erste Fremdsprache entscheidend sein. Liegt dem nicht ein verengter Bildungsbegriff zugrunde?

 

Katharina Günther-Wünsch: Das sehe ich komplett anders. Denn die Wissenschaft sagt ganz deutlich, dass ich die Fähigkeit im mathematischen und sprachlichen Bereich brauche, um in allen anderen Fächern Bildungserfolg zu generieren. Und wir haben in der Vergangenheit suggeriert, dass man mit fehlenden Kompetenzen in Mathe und Deutsch trotzdem Bildungserfolg an einer weiterführenden Schule, auch im besten Fall am Gymnasium, erzielen kann; wir sehen aber, dass das nicht funktioniert. Wir haben relativ schlechte Leistungsdaten und einen hohen Rücklauf der Kinder vom Gymnasium an die ISS und Gemeinschaftsschulen. Und dem tragen wir nun Rechnung. Das ist also eine Entscheidung, die weder einer Ideologie folgt noch aus dem Nichts heraus getroffen worden ist, sondern die sagt: Wir wollen, dass Schülerinnen und Schüler zukünftig an der Schulform landen, wo sie den maximalen Bildungserfolg generieren. Was wir auch abgeschafft haben, ist das Probejahr, dann braucht man auch nicht noch mal ein Jahr bangen. Man hat die Möglichkeit, sich sechs Jahre zu entwickeln und dann wird eine Entscheidung für eine weiterführende Schule getroffen, gegebenenfalls auch durch Probeunterricht.

 

bbz: Es spricht sich auch niemand dagegen aus, in diesen Fächern gute Leistungen anzustreben. Nur bisher gab es die Möglichkeit, zum Beispiel für Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist und die dadurch vielleicht im sprachlichen Bereich benachteiligt sind, auch noch durch Leistungen in anderen Fächern Schwächen auszugleichen. 

 

Katharina Günther-Wünsch: Und trotzdem gehört zur Wahrheit dazu, dass diese Kinder an einer weiterführenden Schule gute Deutschkenntnisse brauchen, um in allen Fächern Erfolge zu erzielen. Das mag als ungerecht gelten, aber in vielen Ländern dieser Welt müssen Sie auch Englisch oder Spanisch beherrschen, um zum Bildungserfolg zu kommen. Bundesweit ist es so, dass Sie immer eine Deutschprüfung haben, egal welchen Schulabschluss Sie machen wollen. Wir tun immer so, als ob wir am Ende der sechsten Klasse eine Entscheidung über Sein und Nichtsein treffen. Aber kein Bildungssystem der anderen Bundesländer ist so durchlässig wie das Berliner Bildungssystem. Ich verstehe die Not gar nicht, dass Eltern der Meinung sind, es müssten alle das Abitur machen. Selbstverständlich kann ein Kind von Klasse 7 bis 10 noch mal eine Entwicklung machen. Aber es kann auch nach Klasse 10 weitermachen ohne Zeit zu verlieren, wenn es denn bis dahin die Fähigkeit für ein Abitur entwickelt hat. 

 

bbz: In Zukunft soll Probeunterricht am Gymnasium für Kinder ohne Gymnasialempfehlung, die aufs Gymnasium wollen, stattfinden. Wie soll eine einzelne Unterrichtsstunde Aufschluss über Kompetenzen geben, wenn es gar keine Beziehung zur Lehrkraft gibt? 

 

Katharina Günther-Wünsch: Es ist keine einzelne Unterrichtsstunde. Der Probeunterricht orientiert sich am Brandenburger Modell. Neben den grundlegenden Fähigkeiten im mathematischen und sprachlichen Bereich werden auch überfachliche Kompetenzen für die Feststellung der Eignung betrachtet. Wir sollten auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Gymnasium schlichtweg anders strukturiert ist. 96 Prozent der Unterrichtsstunden am Gymnasium dienen ausschließlich zur Erteilung des Fachunterrichts, während sie in den ISS und Gemeinschaftsschulen tatsächlich noch ein Drittel für ergänzende Angebote wie Förderunterricht haben. Da braucht es tatsächlich auch ein anderes Rüstzeug bei den Schülerinnen und Schülern. 

 

bbz: Dann müssten die Eltern mehr über die Möglichkeiten ihrer Kinder aufgeklärt werden, denn die haben oft richtig Panik in der 4. bis 6. Klasse. Wo kommt mein Kind hin? Schafft es den Weg? Oder man reformiert die Gymnasien, passt die Inhalte und pädagogischen Aufgaben an. 

 

Katharina Günther-Wünsch: Die Eltern habe ich aufgeklärt. Ich glaube, ich war die erste Bildungssenatorin, die durch alle zwölf Bezirksausschüsse gegangen ist und die Schulgesetznovelle vorgestellt hat. Ich frage mich, warum wir immer etwas reformieren müssen. Vielleicht erkennen wir einfach an, dass wir die Gaußsche Verteilungskurve auch bei unseren Kindern haben. Und es ist vollkommen in Ordnung, dass wir Kinder haben, die mit dem Mittleren Schulabschluss (MSA) abschließen. Schließlich brauchen wir Fachkräfte. Vor 15 Jahren waren die Abschlussquoten ganz andere hier in Berlin, aber auch die Übergänge in die Berufsausbildung. Deswegen möchte ich nicht das Gymnasium reformieren, sondern dafür plädieren, dass wir endlich anfangen, auch den MSA und den BBR als einen sehr wertvollen Schulabschluss wertzuschätzen und eher diese Schulen stärken. Mein oberstes Ziel ist es, noch mehr junge Menschen in den letzten Übergang zu führen, den verlieren wir häufig aus dem Blick. 

 

bbz: Das 11. Pflichtschuljahr unterstützen wir ja, aber sehen schon die Sorge, dass es eher zu einem Jahr Nachsitzen werden könnte für Schüler*innen, die sowieso Misserfolge in ihrer Schulbiografie hatten. Wie kann das verhindert werden? 

 

Katharina Günther-Wünsch: Der Name mag vielleicht suggerieren, dass es ein weiteres Schuljahr ist, aber das Konzept ist wichtig und das ist auch nahezu finalisiert. Es ist ein Ausbau, eine weitere Differenzierung, gerade weil es um Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bedarfen geht. Wir haben starke Wirtschaftspartner, wir haben aber auch kleine Wirtschaftsunternehmen, die sich der Aufgabe bewusst sind, dass das keine einfachen Jugendlichen sind. Deswegen arbeiten wir dort nicht nur mit der Jugendberufsagentur intensiv zusammen, sondern versuchen auch, das Ganze mit Mitteln aus der Jugendberufshilfe zu unterlegen. Für mich wäre es tatsächlich ein großer Erfolg, wenn die jungen Menschen am Ende des Jahres sagen, jetzt geht es in die Integrierte Berufsausbildungsvorbereitung (IBA) oder bestenfalls habe ich einen Ausbildungsvertrag. Gott sei Dank kann man bei uns auch ohne Schulabschluss eine Ausbildung machen. 

 

bbz: Vielen Dank für das Gespräch!

 

Das Interview wurde am 2. September 2024 von Antje Jessa und Christoph Wälz geführt.

 

Lesetipp: Interview mit Bildungssenator Klaus Böger in der blz 4/5 2000: https://www.gew-berlin.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=91105&token=0e65736a93181e7941326e42e667c9809c1f35d1&sdownload=&n=blz-2000-04-05.pdf 

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