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bbz 06 / 2018

»Ich finde keine Wohnung«

Der türkische Gewerkschafter Haydar Deniz hat mit uns über die politische Situation in der Türkei und seine Flucht nach Berlin gesprochen.

Haydar Deniz (links) und Safter Çınar (Foto: Hanisch)

Haydar, seit Jahrzehnten engagierst du dich in der türkischen Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen und kämpfst für ein gerechtes und demokratisches Bildungssystem. Im letzten Jahr bist du nach Deutschland geflohen. Wie ist es dazu gekommen?
Deniz: Wie so viele Kolleg*innen wurde ich in Folge des Putschversuches im Sommer 2015 angeklagt. Dazu muss man wissen, dass der Putschversuch der Fethullah-Gülen-Bewegung zugerechnet wird. Das ist eine Bewegung, die gemeinsam mit Erdoğans AKP viele Jahre an der Staatsunterwanderung gearbeitet hat. Irgendwann waren sie sich dann nicht mehr einig. Und obwohl FETO, wie die Gülen-Bewegung in der Türkei genannt wird, mit Linken und Gewerkschaften nichts zu tun hat, mussten wir die auf den Putsch folgenden Repressionen ertragen. Nach dem Putschversuch wurde der Ausnahmezustand erklärt und 152.000 Menschen aus dem Staatsdienst entfernt. Darunter waren viele Funktionär*innen von KESK (Kamu Emekçileri Sendikaları Konfederasyonu – »Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter«), DİSK (Türkiye Devrimci İşçi Sendikaları Konfederasyonu – »Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei«) und Eğitim Sen. Auch ich war unter ihnen.

Die Repressionen gegen dich und deine Kolleg*innen reichen schon viel länger zurück. Bereits im Jahr 2009 musstest du ein halbes Jahr ins Gefängnis.
Deniz: Im Mai 2009 startete die Regierung eine Verhaftungskampagne von Kurd*innen und Demokrat*innen; verhaftet wurden vor allem viele Funktionär*innen von KESK und Eğitim Sen. Begleitet wurden die Verhaftungen von massivem staatlichem Terror. Polizei und Militär haben um vier Uhr morgens mein Haus überfallen und alles auseinander genommen, sogar die Schulhefte meiner Tochter, die weinend dabei saß. Sie haben mich und einige Kolleg*innen festgenommen und wir mussten zunächst sechs Monate ins Gefängnis. Dann wurden wir aus der Haft entlassen, aber nicht freigesprochen. Am 13. März 2011 war dann der letzte Tag vor Gericht, aber bevor das Gericht sein Urteil fällen konnte, wurden zwei von drei Richter*innen ausgetauscht und wir wurden zu sechs Jahren und drei Monaten Haft wegen terroristischer Aktivitäten verurteilt. Wir haben dann Berufung eingelegt und durften zunächst weiter arbeiten und uns gewerkschaftlich engagieren.

Und wann hast du dich entschlossen, das Land zu verlassen?
Deniz: An meinem Geburtstag, am 7. Februar 2017, wurde ich durch die Verordnung mit Gesetzeskraft Nr. 686 (KHK) mit zehntausenden aus dem Staatsdienst entfernt. Am 20. Mai 2017 wurde meine Berufung abgelehnt und das Urteil gegen mich rechtskräftig. Ich habe mich dann mit meinen Kolleg*innen in Izmir getroffen und dort haben wir beschlossen, das Land zu verlassen. Allerdings hatte man ein Ausreiseverbot verhängt und uns unsere Pässe abgenommen, was uns die Flucht erschwerte. Wir waren über einen Monat lang in Griechenland und haben dann Wege nach Deutschland, Schweden, in die Schweiz und in andere europäische Staaten gefunden.

Wie geht es dir inzwischen hier in Berlin?
Deniz: Mein Asyl-Gesuch wurde anerkannt und im Oktober 2017 habe ich eine dreijährige Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Der Berliner Senat will ja jetzt den Türkischunterricht in den Schulen übernehmen – da habe ich mich beworben. Mir fehlt nur noch ein Dokument aus der Türkei. Zurzeit besuche ich Integrationskurse und lebe mit einigen hundert Leuten in sehr engen Verhältnissen in einem Flüchtlingsheim. Ich finde keine Wohnung – das ist gerade mein Hauptproblem.

Sind Eğitim Sen und die anderen Gewerkschaften in der Lage, den Inhaftierten und ihren Familien in der Türkei zu helfen?
Deniz: Unser Gewerkschaftsbund KESK hat einen Fond gegründet um die betroffenen Familien zu unterstützen. Und die Gewerkschafter*innen, die nicht im Gefängnis sind, versuchen, die Familien der Inhaftierten finanziell zu unterstützen.

Die Gewerkschaften stehen ja unter sehr starkem Druck. Inwieweit können sie überhaupt noch aktiv sein?
Deniz: Die Gewerkschaften haben eine starke Vergangenheit. Es gibt Repression aber die Solidarität ist groß. In Izmir gibt es immer noch fünf Bezirksverbände von Eğitim Sen und jeden Sonntag organisiert ein Bezirk eine Demonstration unter dem Motto: »Wir wollen unseren Job zurück«. Natürlich werden nach solchen Aktionen weiterhin Kolleg*innen festgenommen. Erst letzte Woche waren es wieder fünf.

Du sagtest, mehr als 150.000 Menschen wurden nach dem Putschversuch entlassen. Erdoğan hat auf einen Schlag seinen ganzen Staatsapparat ausgetauscht. Tausende Richter*innen, abertausende Lehrkräfte. Wo kommen die vielen neu Eingestellten her? Sind sie überhaupt qualifiziert?
Deniz: Die neu eingestellten Richter*innen sind schon Jurist*innen. Die allermeisten waren vorher in der AKP. Die Anforderungen wurden aber abgesenkt: Früher gab es schriftliche Prüfungen für den Staatsdienst, inzwischen gibt es nur noch mündliche. Auch die Anforderungen an die Ausbildungszeiten wurden stark verkürzt. Was die Lehrkräfte angeht: Schätzungsweise gab es zu der Zeit der massenhaften Entlassungen 150.000 ausgebildete arbeitslose Lehrkräfte, die freiberuflich gearbeitet haben. Von denen haben sie dann all die eingestellt, die systemkonform waren.

Was für einen Einfluss haben die Entlassungen und die Repression gegen Andersdenkende auf die Schulen? Geht ein Riss durch die Kollegien?
Deniz: Viele Lehrkräfte trauen sich nicht mehr, an Aktionen der Eğitim Sen teilzunehmen oder in der Schule zu opponieren. Das hat natürlich zu einem massiven Qualitätsverfall des Unterrichts geführt. Alle sechs Monate gibt es neue Regelungen und keiner blickt mehr durch. Jeder muss sein Kind in der fünften Klasse an der Schule anmelden, die dem eigenen Wohnort am nächsten ist. Auf diese Weise werden viele Eltern gezwungen, ihre Kinder an den sogenannten Prediger*-Schulen anzumelden, die in den letzten Jahren immer mehr geworden sind.

Was habe ich mir unter »Prediger*-Schulen« vorzustellen?
Deniz: Im Jahr 2008 hat die AKP damit begonnen, eine Reform mit dem Namen »4+4+4« umzusetzen. 4+4+4 steht für 4 Jahre Grundschule, 4 Jahre Mittelschule und 4 Jahre Gymnasium. Es gab damals bereits Gymnasien, die Prediger* für die Moscheen ausgebildet haben. Die Regierung hat mit dem Modell 4+4+4 das Ziel verfolgt, diese Gymnasien zu islamisieren und hat dabei die Inhalte dieser Gymnasien bereits auf die Mittelschule ausgedehnt. Das Ziel war, möglichst viele Schulen in Prediger*gymnasien umzuwandeln. Mit unseren Protesten gegen diese Reform wurden KESK und Eğitim Sen zur eigentlichen Opposition gegen die AKP-Regierung.

Noch einmal zurück zu dir: Du hast gemeinsam mit einer Reihe anderer geflüchteter Gewerkschafter*innen einen Solidaritätsaufruf für die Menschen in Afrin und gegen den Einmarsch der Türkei unterzeichnet. Wie gut bist du mit den anderen Geflüchteten vernetzt?
Deniz: Wir haben zum Beispiel eine WhatsApp-Gruppe für alle KESK-Kolleg*innen, die in Europa sind. Wir tauschen uns aus und wenn wir es schaffen, nehmen wir an Aktionen teil. Die geflüchteten türkischen Akademiker*innen in Berlin haben einen Verein gegründet, wo ich auch Mitglied werden möchte. Wir wollen übrigens jetzt auch GEW-Mitglieder werden.

Macht ihr aus dem Exil heraus weiter Oppositionsarbeit?
Deniz: Man kann sich vorstellen, was passieren würde, wenn Menschen in der Türkei so einen Aufruf wie unseren unterschrieben hätten. In der Türkei sind hunderte Menschen festgenommen worden, schon weil sie auf ihren Facebook-Accounts Solidarität bekundet haben. Der Einmarsch in Afrin widerspricht internationalem Recht und es gibt eine Völkermordtendenz und deswegen machen wir darauf aufmerksam.

Was können wir tun, um demokratischen Oppositionellen in der Türkei zu helfen?
Deniz: Generell finde ich, dass die Gewerkschaften in Deutschland nicht genug getan haben angesichts der Lage in der Türkei und in Afrin. Das gilt auch für die GEW. Bei ihrem Protest gegen die Zustände in der Türkei haben sich die Gewerkschaften grundsätzlich etwas zu sehr auf die arbeitsrechtlichen Belange beschränkt, so auch der Europäische Gewerkschaftsbund. Aber ich möchte nicht missverstanden werden: Die GEW leistet den exilierten türkischen Kolleg*innen viel Unterstützung.


Zu den Personen

Haydar Deniz (links im Bild), 1974 in Erzurum geboren, studierte an der Atatürk-Universität Türkisch auf Lehramt. Als Student politisierte sich Deniz angesichts der undemokratischen Verhältnisse, die in den 90er Jahren schon in der Türkei herrschten und trat in die Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen ein. Zunächst arbeitete er in Adıyaman als Lehrer. Wegen seines dortigen Engagements gegen die Repression der kurdischen Bevölkerung wurde er im Jahr 2004 in ein Bergdorf nahe Izmir zwangsversetzt. Im Jahr 2008 wurde Deniz in den Kontrollrat des Hauptvorstandes der Eğitim Sen gewählt. Zuletzt arbeitete er als stellvertretender Rektor an einer Grundschule in Izmir. Seine Frau, die ebenfalls Lehrerin ist, und seine zwei Töchter musste er auf seiner Flucht im Jahr 2017 zurücklassen.

Safter Çınar, 1946 in Brüssel geboren, war von 1983 bis 89 zweiter Vorsitzender und von 89 bis 91 Vorsitzender der GEW BERLIN. Er war zudem Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Sprecher des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg, Vorsitzender des Türkischen Elternvereins Berlin-Brandenburg und ist Migrationsbeauftragter des DGB. Çınar ist deutscher und türkischer Staatsbürger und lebt seit 1967 in Berlin.