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Glosse

Ick hab‘ heut‘ frei!

Kinder zwischen 30 Joghurtsorten, Klavierunterricht und Segelkurs.

Girl under big Tree, retro
Foto: Adobe Stock

Im Kindergarten: Tim und Yannick sind in ihr Spiel vertieft. Sie haben einen Zoo gebaut und müssen noch winzige Elefanten, Zebras und Eisbären in winzigen Gehegen unterbringen. Tims Mutter wird ungeduldig. »Komm jetzt, Tim, wir müssen noch schnell einkaufen!« Tim schiebt zwei Affen über den Fußboden: »Ich will aber erst noch mit Yannick fertig spielen!« Die Mutter schaut in ihr Smartphone und antwortet: »Du kannst doch Yannick am Donnerstag zu uns einladen. Da ist dein Freundetag.« Yannicks Mama kommt mit ihrem Timer dazu: »Donnerstags kann er leider nicht, da hat er seinen Segelkurs.« Schade. Tim und Yannick müssen ihr Spiel abbrechen. Yannick wird im SUV zum Kinder-Yoga gefahren. Am Zaun der Kita steht Emma, klammert sich an einen Pfosten und kreischt. Wie jede Woche will sie nicht zum Klavierunterricht. Wie jede Woche löst Emma-Mama ihr Kind sanft vom Zaun und führt es zu ihrem SUV. »Du hast so ein schönes Klavier! Mama hätte auch gern ein Instrument gelernt, aber wir hatten kein Geld.« Das interessiert Emma nicht. Warum darf sie nicht einfach Fußball spielen?

Tim muss im nächsten Supermarkt den Stress über sich ergehen lassen, welche von den 30 Sorten Joghurt er gern hätte. »Schau mal, Kirsch mit Schokostreuseln. – Oder lieber Himbeere? – Es gibt auch Rhabarber-Zitrone. Oder Stracciatella. Oder Apfel mit Müsli. – Welches möchtest du denn nun? Das hier? Nicht lieber Mango-Ananas? Oder vielleicht Banane?« – »Dauert das noch lange?« Eine Frau jenseits der Kinderaufzuchtphase schiebt sich entnervt zwischen Mutter, Kind und Joghurt.

Montags wird Tim zur Ergotherapie gefahren. Dienstags zum Schlagzeugkurs. Mittwochs hat er Hockey, am Donnerstag »Freundetag« zum Anknüpfen und Verfestigen sozialer Beziehungen. Am Freitag chauffiert Mama ihn zum Kinder-Karate. Am Wochenende besucht Tim abwechselnd seine Omas und wird Papas jeweiligem Kultur- und Bildungsprogramm unterzogen.

Eine Psychologin hat mal zusammengestellt, was manche Kinder in ihrer »Freizeit« so alles machen (müssen). Fast 50 Stunden in der Woche sind viele Kinder fremdbestimmt und festgezurrt zwischen Terminen, Angeboten und Aktivitäten. Es gibt keinen Leerlauf, keine Zeit für Langeweile oder eigene Ideen. Kein Wunder, dass manche Kinder über Bauchschmerzen und Schlafstörungen klagen. Aber die Eltern meinen es schließlich ja nur gut. Ihr Kind soll alle Möglichkeiten bekommen, vor allem die, die sie selber nicht hatten. Und wer will schon ein unsportliches Kind ohne Zukunftschancen, das nur vorm Computer hockt und Chips mampft? Und wer weiß, was Kindern passiert, wenn man sie unbeaufsichtigt auf die Straße lässt?

Tims Erzieherin sitzt mit einigen Kindern im Garten. Sie knüpfen Freundschaftsarmbänder. Die Kinder erzählen, was sie heute noch alles machen. Marie geht zum Ballett, Katharina macht mit ihrer Mutter Wellness, Emil besucht einen Computerlehrgang, und Line lernt Japanisch im Kurs für hochbegabte Vorschulkinder. »Und du, Mascha?« Die Berliner Göre springt auf und ruft begeistert: »Ick hab‘ heut‘ frei!«   

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