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Schule

»Immer nimmst du meinen Bleistift weg!«

Cihan Mutlu ist der Neue im Team der Fachaufsicht der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer und zuständig für die Grundschulen. Er möchte dazu beitragen, Schule als demokratischen Lern- und Lebensort zu gestalten.

Foto: PRIVAT

bbz: Cihan, seit letztem Schuljahr 20/21 bist du als Fachaufsicht verantwortlich für den Bereich »Gesellschaftswissenschaften 5/6« und die Förderung von Demokratie und Akzeptanz von Vielfalt. Was genau machst du da?

Mutlu: Meine Aufgabe besteht zum einen in der fachlichen Unterstützung in »Gewi 5/6« und »Sachunterricht«, zum anderen darin, Demokratiebildung an Grundschulen zu fördern. Dabei geht es nicht nur darum, Formate wie etwa den Klassenrat oder die Arbeit der Schüler*innenvertretung (SV) zu stärken, sondern auch Schulen dabei zu unterstützen, den Kindern Themen der historisch-politischen Bildung sowie Kompetenzen der Demokratiebildung zu vermitteln.

Ich halte demokratisches Sprechen für sehr wichtig: eine eigene Meinung formulieren und begründen zu können, argumentieren zu können, um in der Lage zu sein, ein differenziertes Urteil zu fällen. Dazu gehört auch eine Kommunikationsform, die gewaltfrei ist. In der Grundschule verwenden die Kinder häufig Worte wie »immer« oder »nie«. »Immer nimmst du meinen Bleistift weg« – »Nie wischst du den Tisch ab.« Verallgemeinernd, vorwurfsvoll. Das ist erlernt. Ich finde es wesentlich, dass sie möglichst früh lernen, konstruktiv zu kommunizieren.

Wie unterstützt du die Kolleg*innen dabei, diese Dinge umzusetzen?

Mutlu: Ich arbeite in einem Team aus Kolleg*innen mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Wir unterstützen Schulen auf verschiedenen Wegen. Einerseits veröffentlichen wir Handreichungen und Fachbriefe, in denen Impulse für den Unterricht oder für Schulentwicklungsprozesse gegeben werden.

Andererseits sind wir natürlich auch im direkten Kontakt. Entweder wenden sich Schulen an uns, beispielsweise wenn sie im Rahmen des Schulentwicklungsprozesses Beratung und Unterstützung brauchen. Oder ich selbst trete proaktiv in Kontakt mit Schulen, wenn ich sehe, dass sie ein super Demokratie-Konzept an ihrer Schule haben, um Best-Practice-Beispiele weitervermitteln zu können. Außerdem stehen wir im engen Kontakt mit vielen Trägern, die wir für Bildungsangebote finanziell unterstützen und an Schulen vermitteln. Die Schulen selbst erhalten auch eine finanzielle Unterstützung.

Seit Anfang 2021 können Schulen über das Programm Politische Bildung bei der Senatsbildungsverwaltung 2.000 Euro pro Kalenderjahr für Maßnahmen der Demokratiebildung abrufen. Welche Maßnahmen sind das?

Mutlu: Das entscheidet jede Schule für sich selbst, am besten in einem demokratischen Entscheidungsprozess unter Beteiligung der Schüler*innen, Eltern und des Kollegiums. Mit dem Budget können Schulentwicklungsprozesse angestoßen werden, beispielsweise zur Etablierung eines Klassenratssystems, zur Stärkung der SV-Arbeit oder, was immer mehr Schulen machen, zur Einrichtung einer Assembly, einer Versammlung der gesamten Schulgemeinschaft, in der das Mit- und Füreinander im Zentrum steht und auch partizipativ und basisdemokratisch Entscheidungen getroffen werden können.

Je nach Bedarf kann sich eine Schule aber auch zielgruppenorientiert konkreten Themen widmen. Zum Beispiel können mit dem Ziel einer nachhaltigen Schulentwicklung Projekttage im Bereich »Akzeptanz von Vielfalt« organisiert werden – oder Studientage zu gewaltfreier Kommunikation, Fortbildungen zu selbstverantwortetem Lernen oder einer positiven Feedbackkultur, Schul-Projekte zu Nachhaltigkeit, globalem Lernen oder Kinderrechten, Anti-Mobbing-Workshops und so weiter.

In der Berliner Trägerlandschaft gibt es sehr viele NGOs mit sehr vielen guten Angeboten, die Schulen in ihrem Entwicklungsprozess unterstützen und die wir gerne an die Schulen vermitteln.

Neben deiner Tätigkeit als Fachaufsicht arbeitest du immer noch den Großteil deiner Stelle in der Schule. Du bist Geschichts- und Lateinlehrer, ausgebildet an einem Gymnasium, hast dich aber zu Beginn deiner Tätigkeit dafür entschieden, an einer Grundschule zu arbeiten. Warum?

Mutlu: Das hat etwas mit meinen pädagogischen Idealen zu tun. Ich bin an die Grundschule gegangen, weil ich dort viel mehr Möglichkeiten sah, mit größerem persönlichen Kontakt fächerübergreifend und projektorientiert zu arbeiten und auch über meine studierten Fächer hinaus zu unterrichten. Ich hatte eine 3. Klasse in Deutsch, Kunst, Sachunterricht (später dann Gesellschafts- und Naturwissenschaften) übernommen, konnte in Zusammenarbeit mit anderen Fächern und der Klassenerzieherin projektorientiert arbeiten, und wir haben mit unseren Projekten sogar Preise gewonnen. Die Kinder lernen, sich zu engagieren, sich eigenverantwortlich einzubringen, Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen. Wir haben demokratisch entschieden, dass wir am Schüler*innenwettbewerb der Bundeszentrale für politische Bildung teilnehmen wollen, und dass das erste Thema »Kindernachrichten« sein soll.

So ein Projekt zu gestalten, ist sehr motivierend. Schule wird als positiver Ort erlebt, an dem sich die Kinder mehr verwirklichen können als im regulären Unterricht, weil sie auch ihren eigenen Interessen nachgehen können, weil sie mehr zusammenarbeiten als sonst. Sie wollen gemeinsam den Wettbewerb gewinnen und nicht individuell ein Lob oder eine gute Note für eine Meldung bekommen. Und natürlich ist das auch sehr nachhaltig. Das, was die Kinder im Rahmen dieser Projekte gelernt haben, können sie heute immer noch abrufen. Weil es verknüpft war mit Emotionen, mit ihren Interessen – nicht nur Lernen für eine Klassenarbeit.

In deiner Aufgabenbezeichnung findet sich auch die »Akzeptanz von Vielfalt«. Welche Rolle spielt die Repräsentanz von Pädagog­*innen mit Migrationshintergrund beziehungsweise People of Colour Pädagog*innen an Schule für Demokratiebildung – Stichwort Partizipation?

Mutlu: Die Sichtbarkeit ist definitiv sehr wichtig. Zu meiner Zeit als Schüler gab es das nicht. Mittlerweile wandelt sich das. Es gibt immer mehr Lehrkräfte, die divers sind, andere Perspektiven einbringen, andere Zugänge haben, andere Vorbilder darstellen.

Du bist gebürtiger Berliner, deine Eltern sind in der Türkei geboren. Damit gehörst du an der Berliner Schule unter den Lehrkräften zu einer Minderheit. Inwieweit beeinflusst das deine Arbeit mit Schüler*innen?

Mutlu: Das spielt definitiv eine Rolle, gerade für die Schüler*innen mit einer Migrationsgeschichte ist das etwas total Positives, das sehe ich an den Blicken, wenn ich in der ersten Stunde den Raum betrete. Die Schüler*innen vermitteln den Eindruck, als ob sie sich mit mir freier fühlen und offener sein können. Andererseits nehmen sie von mir auch mehr an. Und gerade in der Grundstufe bin ich natürlich auch als jung gelesener Mann etwas Besonderes.

Hast du auch Diskriminierungserfahrungen gemacht?

Mutlu: Schwarze Haare, braune Augen, nichtdeutscher Name. Sind da Diskriminierungserfahrungen nicht vorprogrammiert? Zum Glück lässt mich der Großteil meines Kollegiums keinen Rassismus spüren. Es ist für mich nicht hinnehmbar, wenn vor allem Schüler*innen als Schutzbedürftige Diskriminierungserfahrungen machen, das melden sie mir auch zurück und das habe ich auch selbst als Schüler nicht selten erlebt.

Wie gehst du damit um?

Mutlu: Ich thematisiere Diskriminierung, in jeglicher Form. Die Kinder können das häufig noch nicht einordnen. Sie spüren eine Diskriminierung, aber verstehen das nicht so ganz – strukturell. Das thematisiere ich in einfacher Sprache. Ich spreche von meinen eigenen Erfahrungen als Schüler und wie ich damit umgegangen bin. Dass sie sich Hilfe holen sollten, darüber reden sollten. Mir ist es vor allem wichtig, die Schüler*innen zu empowern, sich selbst helfen zu können. Andererseits setze ich mich mit vielen Kolleg*innen für strukturelle Veränderungen in der Schule ein.

Es wird sehr deutlich, wie gerne du mit Schüler*innen arbeitest. Warum hast du dich entschieden, den Job der Fachaufsicht zu übernehmen? Gibt es etwas Bestimmtes, was du gerne erreichen möchtest?

Mutlu: Meine größte Motivation, warum ich diese Stelle übernommen habe, ist, dazu beizutragen, wie Schule als demokratischer Lern- und Lebensort gestaltet werden kann. Sei es im Kleinen im Unterricht oder im Großen in der gesamten Schulstruktur.

Wenn ich die demokratische Traumschule beschreiben müsste, wäre das für mich persönlich eine Schule, die echte Partizipation ermöglicht, in der es offene Unterrichtsarrangement gibt, in der die Lernenden sich selbst entfalten können, selbstverantwortet, selbstgesteuert, projektorientiert, kooperativ arbeiten können. Eine Schule mit positiver Feedbackkultur. Ganz einfach eine Schule, in der die Kinder nicht unterrichtet, sondern aufgerichtet werden.       

Cihan Mutlu, Fachaufsicht »Gesellschaftswissenschaften 5/6«, Demokratiebildung und Akzeptanz von Vielfalt an Grundschulen bei der Senatsbildungsverwaltung und Lehrer an der Lina-Morgenstern-Gemeinschaftsschule

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
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