Schule
Immer nur Goethe
Von der mühseligen Arbeit hin zu einem diverseren Abitur-Kanon.
Wer in Deutschland Abitur macht, liest möglicherweise kein einziges Buch einer »Frau« stellt der Journalist Prado 2021 im Magazin der Süddeutschen Zeitung fest. Ein Deutschlandfunk-Artikel aus 2018 titelt: »Der Kanon ist einfach ein männlich dominierter«. Dass Frauen und nicht-weiße Autor*innen in deutscher Schullektüre unterrepräsentiert sind, wird nicht nur immer wieder in den Medien, sondern auch in pädagogischen Fachzeitschriften, wie beispielsweise in Praxis Deutschunterricht 2021, thematisiert.
Das Thema der Unterrepräsentanz von Frauen und nicht-weißen Autor*innen im deutschen Abitur-Kanon ist nichts Neues und doch ändert sich nichts großartig. Man kann ein beliebiges neues Deutsch-Schulbuch öffnen und findet garantiert mit Abstand mehr männliche, weiße Autoren als alles andere – je weiter man in der Literaturgeschichte zurückgeht, desto auffälliger. Das allseits bekannte »Texte, Themen und Strukturen«-Kursbuch für die Oberstufe Deutsch für das Land Berlin weist zum Beispiel über 100 verschiedene Autoren, aber nur 41 Autorinnen auf. Eine Recherche aller online auffindbaren Pflichtlektüre-Listen für das Deutsch-Abitur 2021 in 12 Bundesländern zählt 22 verschiedene Autoren, aber nur vier Autorinnen: Anna Seghers, Christa Wolf, Juli Zeh (drei Mal), Judith Herrmann. Eine diversere Autorinnenlandschaft, die auch die Literatur vor dem 20. und 21. Jahrhundert abdeckt, scheint nicht abbildbar. Die Vorgaben über die Pflichtlektüre zum Abitur für Berlin und Brandenburg zählt keine einzige weibliche Autorin sowie nicht--weiße Autor*innen auf, weder für das Jahr 2021 noch 2022. Für das Abitur 2023 dient ein Werk von Juli Zeh als Unterrichts-Inhalt, immerhin.
Autorinnen gibt’s nur freiwillig
Eine multikulturelle, diverse und auf Gleichberechtigung ausgerichtete Stadt wie Berlin benötigt aber ein Abitur, welches diese Aspekte widerspiegelt. Sicherlich können Lehrkräfte neben der vorgegebenen Pflichtlektüre schwerpunktmäßig noch weitere Werke für ihre Grund- und Leistungskurse hinzuziehen, dennoch dürfte die unterschwellige Nachricht auch an den Schüler*innen nicht vorbeigehen: Die wirklich wichtige, weil prüfungsrelevante Lektüre, die jede*r gelesen haben sollte, wurde von weißen Männern geschrieben, deren Werke zumeist heterosexuelle Normativität vorleben.
In der Theorie der Sozialisation nach Durkheim und Bourdieu wird der Mensch durch die Gesellschaft geformt. Unsere Umgebung prägt uns mit, durch unsere Sozialisation entwickeln wir einen Habitus, ein Verhalten, das uns unser ganzes Leben lang begleitet. Wenn Autorinnen und nicht-weiße Autor*innen auf Pflichtlektüre-Listen und Abiturprüfungen fehlen, beeinflusst dies das Denken darüber, wer erfolgreiche, bedeutende Literatur schreibt und wer womöglich nicht. Dies sozialisiert und fördert wiederum zukünftige Verhaltensweisen und Denken: Welche Literatur lese ich, welche ist beachtenswerter Kanon? Was traue ich mir aufgrund meines Geschlechtes zu? Die Institution Schule will Inklusion und Diversität leben, spiegelt dies aber bei der gelesenen Literatur nicht wider. Dabei hat Literatur bei Schüler*innen eine Vorbildfunktion, literarisches Lernen ist so viel mehr als nur Textanalyse.
Männer dominieren den Literaturbetrieb
Durch die jahrhundertelange und noch immer bestehende Dominanz von Männern im Literaturbetrieb und der Gesellschaft ergibt sich die soziale Konstruktion eines deutschsprachigen Literaturkanons, der davon ausgeht, dass deutschsprachige Literaturgeschichte fast ausschließlich auf männlichen Autoren fußt und diese deshalb eben noch heute die Abiturpflichtlektüre beherrschen sollten. Fast schon vergessen sind dabei Werke von deutschsprachigen Autorinnen wie beispielsweise Luise Adelgunde Gottsched, Friederike Sophie Hensel, Christiane Karoline Schlegel, Bertha von Suttner, Henriette Rahel Varnhagen und Irmgard Keun, die ebenfalls bis ins 18., 19. und 20. Jahrhundert zurückreichen und Werke von nicht-weißen Autor*innen, wie beispielsweise Saša Stanišic´, Iljia Trojanow, Emine Sevgi Özdamar, Fatma Aydemir, Jackie Thomae, Abbas Khider und Olga Grjasnowa, die die deutsche Literaturlandschaft mindestens genauso weit zurückreichend mitgeprägt haben. Nicht nur Goethe und Schiller haben unsere Literaturgeschichte geprägt, sondern auch andere Personengruppen. So ist zum Beispiel Goethes Werther von Sophie von la Roches (1730-1807) »die Geschichte des Fräuleins von Sternheim« inspiriert, nur wissen das viele Schüler*innen nicht, da ihr Werk nicht gelesen wird. Viele Schriftstellerinnen konnten ihre Kunst nur im Schatten der Ehemänner ausführen, Veröffentlichungen erschienen unter Pseudonym, stets war die Arbeit interpretiert anhand stereotyper Rollenklischees. Eine feministische Schule darf dieser Literaturgeschichte nicht länger den Rücken zukehren.
Zusätzlich ist nicht zu vergessen, dass Verlage und noch lebende Autor*innen finanziell davon profitieren, wenn ihre Bücher in Abiturklassen gelesen werden. Die Dominanz männlicher Autoren und ein sich daraus entwickelnder Habitus nach dem Motte »jede*r Schüler*in muss Goethe und Schiller gelesen haben, aber nicht unbedingt Autor*in XY« verstetigt die Tatsache, dass männliche Autoren auf Pflichtlektüre-Listen und in Abiturprüfungen gehäuft auftreten.
Mehr Diversität einfordern
Die hier geforderte Diversifizierung des Abiturs sollte nur ein weiterer Schritt zu einem facettenreicheren Schulcurriculum für alle Schulstufen sein. Wird dies gelingen?
In einem kürzlich erschienenen Artikel von Sigrid Nieberle, Professorin für neuere deutsche Literatur, bezeichnet diese die Verbreitung weiblicher Literatur als Sisyphos-Arbeit, was man auch im Abitur-Kanon sehen kann: Nur weil die hervorragende Schriftstellerin Juli Zeh in Pflichtlektüre-Listen fürs Abitur deutschlandweit mehrmals auftaucht, heißt es noch lange nicht, dass damit erreicht ist, dass das auch zukünftig passiert oder dass eben auch fast schon vergessene deutsche Schriftstellerinnnen des 18. oder 19. Jahrhunderts auf diesen Listen auftauchen. Die Verleihung des deutschen Buchpreises an Saša Stanišic ´ oder des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an die Schriftstellerin Tsitsi Dangarembga bedeutet auch nicht automatisch, dass Literatur migrantischer Stimmen nun alltäglicher Teil unseres Abitur-Kanons werden wird. Bisher waren und sind es Einzelfälle, wenn diese Personengruppen auf Pflichtlektüre-Listen aufgetaucht sind. Bisherige Auswahlkriterien sind zu sehr auf fachliche Aspekte fokussiert und vernachlässigen zu sehr Aspekte der Diversität. Die Beachtung von Diversitätskriterien muss deshalb verpflichtender Rahmen bei der Erstellung von Pflichtlektüre-Listen und Abiturmaterialien werden. Erst dann, wenn vielfältige Personengruppen konstant in solchen auftauchen, tragen sie dazu bei, so wie Goethe und Schiller ins kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft einzutauchen und ein selbstverständlicher Teil dieser zu sein.
Konkrete Fortschritte
Die noch immer vorherrschende Unterrepräsentanz von Frauen und nicht-weißen Autor*innen im Berliner Deutsch-Abitur hat im Februar 2021 die junge GEW BERLIN zusammen mit dem Vorstandsbereich Schule und dem Landesausschuss für Migration, Diversität und Antidiskriminierung dazu veranlasst, einen Antrag in den Landesvorstand einzubringen, welcher die GEW BERLIN dazu aufforderte, sich für mehr Diversität bei der Auswahl der Autor-*innen bei den verbindlichen Lektüren im Abitur einzusetzen. Nach einstimmiger Annahme des Antrages erfolgte ein konstruktives Informationsgespräch zwischen GEW-Mitgliedern und Vertreterinnen der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, in welchem es um den Prozess der Erstellung und Festlegung von Pflichtlektüre-Listen und Abituraufgaben ging.
Lektüreliste
Für Ideen und Anregungen, wie der Deutschunterricht in der Oberstufe bereits jetzt diverser gestalten werden könnte, haben wir in einer Literaturliste (siehe unten) ein paar Vorschläge gesammelt. Wir freuen uns, wenn ihr Lust habt, die Liste unten zu ergänzen. Hinweise an bbz(at)gew-berlin(dot)de