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Schwerpunkt „Gesund in kleineren Klassen“

»In Berlin dauert alles zehn Jahre«

Knapp ein Drittel der rund 70 Kolleg*innen der Erika-Mann-Grundschule im Wedding beteiligen sich regelmäßig an den Warnstreiks. Damit gehört die Grundschule zu den streikaktivsten Schulen im Bezirk Mitte. Ein Ortsbesuch.

Konrektorin Sandra Schlesinger (r.): "Die Teilzeit-Quote an unserer Schule ist mit 80 Prozent enorm hoch." Sie weiß: Für nicht wenige Kolleg*innen ist die Teilzeit die Flucht aus der Überlastung.

Noch vor wenigen Jahren galt in der gesamten Bundesrepublik ein Grundsatz in Stein gemeißelt: Lehrkräfte an Grundschulen verdienen weniger als am Gymnasium. »Kleine Kinder – kleines Geld, große Kinder – großes Geld«, lautete die Maxime. Bis die flächendeckende Ungleichbehandlung im Nordosten erste Risse bekam. Mit vielen Streiks hatten die Berliner Lehrkräfte in den Jahren 2015 und 2016 den Senat zum Handeln gezwungen. Berlin machte als erstes Bundesland den Weg frei für E13 beziehungsweise A13 auch für Grundschullehrkräfte – eine jahrzehntealte Forderung der GEW. Viele andere Bundesländer sind seitdem gefolgt.

Sandra Schlesinger erzählt diese Berliner Erfolgsgeschichte immer dann, wenn Kolleg*innen zu ihr kommen und fragen »Warum sollen wir streiken? Mit den kleineren Klassen, das wird doch eh nüscht.« Die E13-Anekdote schließt sie dann ehrlich, aber beherzt mit den Worten: »In Berlin dauert alles zehn Jahre.« Schlesinger ist seit 2009 Konrektorin der Erika-Mann-Grundschule im Wedding. An diesem Novembermorgen steht sie um 7.30 Uhr zusammen mit anderen Kolleg*innen an der großen Flügeltür der Schule und klebt Zettel, auf denen »Heute Warnstreik« steht. Die Gruppe verteilt auch Flyer auf Englisch, Arabisch oder Farsi. Einige wenige Eltern haben tatsächlich im Vorfeld nichts mitbekommen von dem erneuten Warnstreik der GEW BERLIN für kleinere Klassen. An der Schule gibt es nur eine Notbetreuung. »Die überwiegende Mehrheit der Eltern ist sehr solidarisch, weil sie verstehen, dass weniger gestresste Lehrkräfte und kleinere Klassen die Lernbedingungen ihrer Kinder enorm verbessern würden«, sagt Schlesinger. Die GEW-Forderung für die Grundschulen und die Grundstufen der Gemeinschaftsschulen ist, die Zahl der Schüler*innen pro Klasse auf 19 zu begrenzen.

 

Eine streikaktive »Traumschule«

 

Etwas mehr als 600 Schüler*innen lernen in der Utrechter Straße 25 bis 27, gut die Hälfte kommen aus Familien mit nichtdeutscher Herkunftssprache. Der Wedding hat viele soziale Bürden, die er den Kindern jeden Morgen auf die Schultern lädt. Ein Arbeiter*innenviertel, dem ein Stück weit die Arbeit abhandengekommen ist. 17 Prozent der Schulkinder haben einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Trotzdem läuft an der theaterbetonten Schule vieles richtig gut. Das belegen die regelmäßigen überdurchschnittlichen Ergebnisse bei den Grundschul-Vergleichsarbeiten. Die Schule hat eine Kooperation mit dem Deutschen Kinderschutzbund. Dieser übernimmt zum Beispiel das KinderKiezZentrum der Schule und als Träger die ergänzende Betreuung von 6 Uhr morgens bis 18 Uhr abends im rhythmisierten Ganztag.

Sarah Tiedeke ist seit 2020 dort Lehrerin. »Eine Traumschule mit einem klasse Kollegium«, sagt sie. Auch sie steht an dem Novembermorgen als Streikposten vor der Schule. Knapp ein Drittel der rund 70 Kolleg*innen beteiligen sich regelmäßig an den Warnstreiks. Damit gehört die »01G41« zu den streikaktivsten Schulen im Bezirk Mitte. Jung-Lehrerin Tiedeke steht noch am Anfang ihres Berufslebens. Sie hatte einen Start, der dominiert war von den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Schulbetrieb. »Aber was uns von Corona als positive Erfahrung bleibt, waren kleinere Klassen und wie viel mehr Zeit dort für Beziehungsarbeit war und wie viel weniger Lärm und Stress«, schildert sie. Ein Drittel der Kinder in der Klasse der jungen Kollegin kann nicht normal lernen. Neben Sprachbarrieren gibt es Kinder, die eine spezielle Förderung brauchen, weil sie eine körperliche, geistige oder Lernbehinderung mitbringen oder eine emotional-soziale Störung vorliegt. Auf die Unterstützung von Sozialpädagog*innen kann sie nicht dauerhaft bauen, dafür gibt es zu wenige. Mindestens eine Schulsozialarbeiter*innen-Stelle auf 150 Schüler*innen lautet die GEW-Forderung für einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz. Eine Regelung, von der die Schüler*innen in Tiedekes Klasse sehr profitieren würden.

Sarah Tiedeke sagt deshalb beherzt: »Ich streike, weil ich versuche trotz meiner aktuellen Arbeitsbedingungen einen guten Job zu machen.« Noch sei sie jung, engagiert und motiviert. Sie möchte aber auch in Zukunft genug Lebensenergie übrighaben, um für ihre Schüler*innen da zu sein. »Und dafür brauche ich nun mal mehr Zeit für jeden Einzelnen beziehungsweise jede Einzelne.«

 

Teilzeit als Flucht aus der Überlastung

 

Inzwischen ist die Gruppe von der Schule aufgebrochen zum Streikcafé des GEW-Bezirks Mitte in der Mensa Nord der HU Berlin. In der U-Bahn erzählt Konrektorin Sandra Schlesinger, dass die Teilzeit-Quote an der Schule mit 80 Prozent enorm hoch sei. Und sie weiß: Für nicht wenige Kolleg*innen ist Teilzeit die Flucht aus der Überlastung. Diese Zwangs-Teilzeit ist einer der Gründe, warum sich an der Erika-Mann viele Kolleg*innen mit den Streikforderungen solidarisieren.

»Es ist durchaus richtig, und alle geschichtliche Erfahrung bestätigt, dass man das Mögliche nicht erreichte, wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre«, konstatierte Politiksoziologe Max Weber schon vor gut 100 Jahren. Unmöglich ist die Forderung nach einem Tarifvertrag Gesundheitsschutz nun wahrlich nicht, auch wenn Finanzsenator Daniel Wesener das gern behauptet und auf den Arbeitgeberverband Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) verweist. Dabei gibt es im Gesundheitsbereich bereits ähnliche Tarifverträge. Die Ablehnung geschieht also aus politischen und Kostengründen.

In punkto »E13/A13 für alle« ist erst vor wenigen Wochen in Hessen die Entscheidung dafür gefallen. Damit gilt noch in vier Bundesländern eine ungleiche Bezahlung der Grundschullehrkräfte. Länder, in denen sich die Bildungspolitiker*innen immer häufiger unangenehmen Fragen stellen müssen.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
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