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Gewerkschaft

In einer Endlosschleife

Die Arbeitszeit der Lehrkräfte ist seit Jahrzehnten Gegenstand von Diskussionen und gewerkschaftlichen Kämpfen.

Foto: Adobe Stock

Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung für Lehrkräfte war seit Anfang der 60er Jahre Thema in der GEW. Der damalige bildungspolitische Aufbruch nahm einerseits Bildungsinhalte und die Schulstruktur in den Blick, andererseits aber auch Qualitätsstandards, die aktuell wieder Schwerpunkt der Tarifpolitik vieler Gewerkschaften sind: die Arbeitsbedingungen. 

Als 1961 erstmals das Thema Arbeitszeitverkürzung für Lehrkräfte auf der politischen Agenda stand, wurde – wie heute – das Argument »Lehrkräftemangel« zur Abwehr der Forderung eingesetzt. Damals schrieb der Vorsitzende der Finanzministerkonferenz an den Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz: »Die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit auch nur um eine Stunde bedeutet eine entscheidende Verschärfung des Lehrermangels in allen Schularten. Wir wären Ihnen dankbar, wenn die Frage der Arbeitszeitverkürzung erst dann wieder aufgegriffen würde, wenn der Lehrermangel zumindest in einigen Schularten entscheidend gelindert ist.«

 

Eine gute Schule setzt gute Arbeitsbedingungen voraus

 

Auf Lehrkräftemangel folgte ein rechnerisch erzeugter Überhang. Um die erneute Forderung nach Arbeitszeitverkürzung abzuwehren, gaben die Konferenzen der Innen-, Finanz- und Kultusminister ein Millionengutachten bei der Schweizer Firma Knight/Wegenstein zur Lehrkräftearbeitszeit in Auftrag. Ergebnis: Auch unter Einrechnung der Ferien arbeiten Lehrkräfte überdurchschnittlich viel, nämlich 45,1 Stunden in der Woche.

Das Gutachten ließ die Politik in der Schublade verschwinden. Eine Vielzahl weiterer Gutachten bestätigten seitdem die Ergebnisse – immer folgenlos. 

Seit den 60er wurden Jahr für Jahr alle fertig ausgebildeten Lehrkräfte eingestellt. Das änderte sich 1984. Erstmals sollte nur etwa ein Drittel der Referendar*innen nach dem 2. Staatsexamen eingestellt werden. Vielen wurde zudem nur ein Jahresvertrag angeboten, was den Druck auf den Arbeitsmarkt Schule stark erhöhte. Bundesweit gab es 50.000 arbeitslose Lehrkräfte.

Die GEW warnte vor einem sich immer wiederholenden Krisenzyklus von Mangel und Überhang, dem die Finanzminister durch Drehen an den drei bedarfsbestimmenden Schrauben: Pflichtstunden, Frequenzen und Stundentafel begegneten. Dabei wäre durch antizyklische Einstellungen der massive Mangel seit den 2010er Jahren – verstärkt durch die Pensionierungswelle – vermeidbar gewesen.

Im Zuge der Tarifrunden im öffentlichen Dienst 1974 und 1984 spielte die Forderung nach Senkung der Arbeitszeit eine große Rolle. Die GEW war jedoch wenig kampferfahren, ihre Mitgliedschaft bestand überwiegend aus verbeamteten Lehrkräften. Es kam zwar in einigen Landesverbänden zu Urabstimmungen und Warnstreiks, dabei scheiterte die GEW jedoch: Niederlagen in Urabstimmungen, geringe Streikbeteiligung und fehlende Unterstützung in der Öffentlichkeit kennzeichneten die Lage. Tarifpolitisch war die GEW anfangs weder selbst an den Verhandlungen beteiligt, noch gab es verbindliche Beteiligungsregelungen zwischen ÖTV (heute ver.di) und GEW. Die von der ÖTV erzielten Tarifergebnisse mussten in teilweise zähen Verhandlungen um Anschlusstarifverträge auf den Lehrkräftebereich übertragen werden. Eine Gestaltungsmacht war dabei nicht vorhanden. 

Ende der 80er Jahre gab es eine breite Kampagne zur Durchsetzung der 35-Stunden-Woche sowohl im Bereich der Industriegewerkschaften als auch im öffentlichen Dienst. 

Die Gewerkschaften hatten 1987 mit der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung von 40 auf 38,5 Stunden in drei Stufen vereinbart. Dabei wurde keine Beschäftigungsgruppe ausgenommen. Diese Arbeitszeitsenkung war durch alle Beschäftigten und damit auch durch die rund 600.000 Lehrkräfte der alten Bundesländer durch sehr niedrige Lohnsteigerungen über drei Jahre bezahlt worden. Erst langsam stellte sich heraus, dass die Landesregierungen im Traum nicht daran dachten, die Arbeitszeitverkürzung durch Senkung der Pflichtstundenzahl auf die Lehrkräfte zu übertragen. Doch dieses Mal war der Widerstand in der GEW größer als 1974: Die bundesweit organisierten Proteste zeigten in den meisten Ländern, darunter Berlin, Erfolge.

So kündigte 1988 die damalige CDU-Schulsenatorin Laurien die lineare Senkung der Pflichtstunden um eine Stunde an. Wegen der kurz danach stattfindenden Neuwahlen setzte dann die Koalition von SPD und Alternativer Liste die zugesagte Pflichtstundenreduzierung um. Jedoch währte die Freude nicht allzu lang. Mitte 1991 regierte wieder eine CDU/SPD-Koalition. 

 

Der 1992er-Streik gegen die Pflichtstundenerhöhung

 

Im August 1991 wurde die GEW darüber informiert, dass im kommenden Haushalt 2,7 Milliarden DM einzusparen seien. Durch den Abbau von circa 10.000 Stellen sollten allein 500 Millionen erbracht werden: 1.500 Stellen im Kita-Bereich, 1.000 Stellen durch Auslagerung auf freie Träger, 1.000 Stellen im technischen Dienst, 1.200 Stellen bei der Polizei/Inneres und – trotz steigender Schüler*innenzahlen – 800 Stellen im Lehrkräftebereich, weitere 1.500 Stellen sollten durch Erhöhung der Pflichtstunden entfallen. Der Rest sollte durch pauschale Minderausgaben erbracht werden. Durch den Beschluss der CDU/SPD-Koalition, nur für Lehrkräfte die Arbeitszeit zu erhöhen, wurde ein beispielloser Tarifbetrug begangen. Mit der Wende bot sich den Finanzministern der Länder die Chance, die Arbeitsstandards im öffentlichen Dienst dramatisch zu verschlechtern. Die sehr viel günstigere Pflichtstundenregelung in den neuen Bundesländern wurde unter Bruch der Regelung im Einigungsvertrag auf »Westniveau« heraufgesetzt – und damit ein massiver Überhang erzeugt. Allein in Berlin betrug dieser 2.600 Stellen. Die Folge davon war, dass die GEW vorrangig gegen Kündigungen und für Arbeitsplatzsicherung kämpfen musste – denkbar schlechte Voraussetzungen für eine Fortsetzung der Arbeitszeitpolitik.

Am 9. März 1992 stand es fest: Die mühsam erkämpfe Senkung der Pflichtstundenzahl zum 1. August 1989 wird durch einen »faulen Kompromiss« zurückgenommen. Vorangegangen waren massive Proteste, Aktionstage, öffentlichkeitswirksame Aktionen in U-Bahnen bis hin zu einem großen Warnstreik am 25. März 1992, an dem sich 12.000 verbeamtete genauso wie angestellte Lehrkräfte beteiligten. Eltern und Schüler*innen unterstützten die GEW. Für die SPD wurde es zu einer schweren Zerreißprobe. Durch zahlreiche Gespräche mit SPD-Parteienvertreter*innen, Volksbildungsstadträten und Senator*innen glaubte die GEW kurz an Verhandlungsbereitschaft. Unterstützt wurde die GEW durch Resolutionen vieler Schulgruppen, der Eltern und Schüler*innen. Intensiv suchte die GEW mit ihren Bündnispartner*innen nach Lösungen. Dabei blieb jedoch die Zielsetzung, 2.300 Stellen zu streichen, weiterhin bestehen. 

Alle Proteste blieben erfolglos. Die CDU/SPD-Koalition beschloss trotz der massiven Proteste, die Pflichtstundenzahl aller Lehrkräfte um eine Stunde zu erhöhen, für die Lehrkräfte des 2. Bildungsweges sogar um zwei. Dazu kamen massive Kürzungen der Stundentafel, eine Erhöhung der Anrechnung des Unterrichts der Referendar*innen, was die Ausstattung für jede Schule reduzierte. Eine Stunde Altersermäßigung wurde gestrichen, der Einstieg auf das 53. Lebensjahr verschoben. Als Beruhigung für die aufgebrachten Lehrkräfte wurde zugesichert, dass es in der laufenden Legislaturperiode keine weiteren Kürzungen geben werde und – viel wichtiger – der maßgeblich durch die Pflichtstundenerhöhung um weitere 1.500 Stellen vergrößerte Überhang werde nicht durch Kündigungen aus Bedarfsgründen oder wie in den anderen neuen Bundesländern durch Zwangsteilzeit abgebaut. Um dies abzusichern, schloss die GEW am 15. Mai 1992 mit dem Senat eine »koalitionsrechtliche Vereinbarung zu Gunsten Dritter«, in der neben dem Verzicht auf Kündigungen der bestehende Überhang für Abminderungen für Fortbildungen eingesetzt wurde. 

Eine Teilkompensation folgte aus der gleichzeitig wiedereingeführten Ermäßigung für Klassenleiter*innen. 

Die Empörung über die Kürzungspolitik hielt an. Im Schuljahr 92/93 verweigerte die Mehrheit der Lehrkräfte – organisiert von der GEW – jede Mehrarbeit und startete eine Kampagne »Dienst nach Vorschrift«. Durch jährliche Vereinbarungen gelang es der GEW, weitere Verschlechterungen im Bildungsbereich zu verhindern. Ab 1995 drohte der Senat, die mehr als 1.000 Fristverträgler*innen nicht weiter zu beschäftigen. Dagegen organisierte die GEW BERLIN mit ihren Personalräten eine strategisch optimal vorbereitete Klagewelle bis zum Bundesarbeitsgericht und rettete alle »Fristies«.

 

Mangel als Dauerzustand

 

Die Zusage, in der Wahlperiode keine weiteren Verschlechterungen im Bildungsbereich zu beschließen, hielt bis 1998. Unter der nächsten Schulsenatorin Stahmer (SPD) wurde 1998 die zweite massive Pflichtstundenerhöhung beschlossen und gegen den erbitterten Widerstand der GEW BERLIN schließlich – gefolgt von der dritten Erhöhung 2003 – durchgesetzt.

Im Ergebnis wurde in diesen 10 Jahren die Arbeitszeit für Lehrkräfte um 20 bis 30 Prozent erhöht, die Stundentafel um ein ganzes Schuljahr gekürzt und die Frequenzen wurden um 20 Prozent erhöht. Die Konsequenz dieser Politik: der 60 Jahre währende Zyklus aus Mangel und Überhang ist seit den 2010er Jahren in einen Zustand dauerhaften Mangels übergegangen.

 

Wie vor 100 Jahren

 

Während die Arbeitszeit für alle im öffentlichen Dienst kontinuierlich sank, wurden die Pflichtstunden der Lehrkräfte in den Bundesländern zwischen 1990 und heute dreimal erhöht, so dass die Arbeitszeit der Lehrkräfte heute auf dem Niveau von 1908 und teilweise darüber liegt.