Kinder-, Jugendhilfe und Sozialarbeit
Interkulturelle Öffnung der Berliner Ämter gewünscht
Cetin Sahin begleitet Ratsuchende durch die Behörden- und Antragswelt von Berlin. Ihnen werden häufig große Hürden in den Weg gestellt und nicht selten treffen sie auf diskriminierende Vorurteile.
bbz: Wer bist du und wie bist du zur sozialen Arbeit gekommen?
Cetin Sahin: Ich bin Cetin Sahin und bin 51 Jahre alt. Ich habe in Istanbul Germanistik studiert und kam 1995 nach Berlin, um meinen Master zu machen. Ich habe dann meine Pläne geändert und angefangen, Soziale Arbeit zu studieren. Während meiner Studienzeit habe ich in verschiedenen sozialen Bereichen gearbeitet. Im »Nesthäkchen« habe ich kurdische unbegleitete Geflüchtete pädagogisch begleitet und später im Kotti e.V. in Kreuzberg gearbeitet. Jetzt arbeite ich seit 2014 im AWO Landesverband e.V. im Programm Migrationssozialdienst (MSD). Ich berate Personen, die über 27 Jahre alt sind und länger als drei Jahre in Deutschland leben, aber wegen sprachlicher Barrieren Unterstützung benötigen. Das kann von jungen Leuten bis hoch ins Rentenalter sein.
Warum hast du dich für diese Einrichtung entschieden?
Sahin: Ich habe selber sehr lange in verschiedenen Projekten gearbeitet. Ganz am Anfang habe ich geflüchtete junge Menschen begleitet, anschließend in einer stationären Drogentherapie gearbeitet, danach war ich als Quartiersmanager im Soldiner Kiez tätig und später als Projektleiter der Diakonie in der Müllerstraße. Ich habe auch in Kriseneinrichtungen für missbrauchte Kinder- und Jugendliche gearbeitet. Das alles hat mir sehr viel gegeben, aber einiges hat mich auch emotional mitgenommen und an meine Grenzen gebracht. Unter anderem habe ich deshalb dieses neue Wirkungsfeld mit der Beratung gewählt. Ich kann hier viele meiner Fähigkeiten einsetzen und verknüpfe Aufgabenfelder aus den früheren Arbeitsbereichen. Das Wichtigste war, dass ich bereits ein Netzwerk aufgebaut hatte. Ich mag meine Arbeit als Berater, sie ist angenehm und die Menschen, mit denen ich täglich zu tun habe, sind es auch.
Welchen Schwerpunkt und welche Angebote habt ihr?
Sahin: An unserem Standpunkt Tempelhof-Schöneberg in der Fachstelle für Integration und Migration haben wir fünf verschiedene Programme, die auf verschiedene Ratsuchende ausgerichtet sind. Neben dem MSD gibt es den Jugendmigrationsdienst (JMD). Die Kolleg*innen beraten junge Menschen bis zum Alter von 27 Jahren. Hier ist eine Aufenthaltsdauer nicht relevant. Dann haben wir die Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer*innen (MBE), hier werden neu ankommende Personen beraten, die eine erste Orientierung suchen. Die Respekt Coaches gehen direkt an die Schulen. Hier geht es in erster Linie um Demokratiebildung und Antisemitismus- und Antirassismus-Projekte, also um politische Bildungsarbeit. Der Kollege, der den Bereich Garantiefond Hochschule (GFH) betreut, ist für die Anerkennung von ausländischen Abschlüssen und die finanzielle Unterstützung von geflüchteten Personen, die in ihrem Heimatland studiert haben und in Deutschland weiter studieren möchten, zuständig.
Was machst du da genau?
Sahin: Zu mir kommen Menschen aus den verschiedensten Ländern, von Lateinamerika bis Asien. Einen Schwerpunkt meiner Tätigkeit macht die Arbeit mit türkisch sprechenden Personen, Personen aus Bulgarien und Rumänien aus. Meistens finden sie den Weg über Empfehlungen von Bekannten zu mir. Ich berate zu Themen wie ALG II, ALG I, Sozialhilfe, Kindergeld, Kindergeldzuschlag, Arbeitssuche, Rente, Schwerbehindertenausweis, familiäre Gewalt und Begleitung zu Terminen bei der Ausländerbehörde und Einbürgerungen. Viele kommen auch mit dem Thema Wohnungssuche zu uns, doch hier reichen leider unsere Kapazitäten nicht aus, um diesen Anfragen nachzugehen.
Was glaubst du, welche Kompetenzen man in deinem Job braucht?
Sahin: Für die Beratung brauche ich ein solides rechtliches Wissen über die ganzen Anträge, Gesetze und Vorschriften. Dann viel Empathie, Einsicht und Verständnis für die Lebenswelten von Menschen in den vielfältigsten Lebenssituationen. Daneben ist es ratsam, geduldig zu sein und sich gut strukturieren zu können. Oft sind die Probleme so vielschichtig, dass sie verschiedene Beratungsschwerpunkte miteinander verknüpfen.
Gibt es Erlebnisse, die dich besonders geprägt haben?
Sahin: Natürlich gibt es Erlebnisse, die mich besonders geprägt haben, auch viele positive. Es kam schon vor, dass sich Klient*innen familiär aufgehoben fühlten und Kaffee oder Schokolade für das Team mitgebracht haben. Die Kehrseite der Arbeit ist, dass ich mit Ratsuchenden Vorurteile, Diskriminierungen und rassistische Äußerungen von einzelnen Mitarbeiter*innen von Behörden erlebt habe, vom Jobcenter bis hin zu städtischen Wohnungsbaugesellschaften, wie Stadt und Land. So werden sehr große Hürden aufgebaut, wie zum Beispiel eine zehnjährige Aufenthaltsbescheinigung von EU-Bürgern, obwohl dies gesetzlich nicht gefordert wird und der Ausweis und ein Meldeschein ausreichen. Oder genau die Wohnungen, die verfügbar waren, werden erst einmal auf Asbest saniert. Es schien oft, dass sie bestimmte Personengruppen abwimmeln wollten. Auch im Jobcenter werden teilweise Dokumente verlangt, die in anderen Fällen nicht vorgelegt werden müssen. So wurde eine bulgarische Ratsuchende aufgefordert, den Beziehungsstatus zum Hauptmieter offen zu legen und eine Meldebescheinigung von eben diesem vorzulegen. Das ist nicht rechtens, schon aus Datenschutzgründen.
Was macht dir besonders Spaß?
Sahin: Ich mag die Kommunikation mit den Ratsuchenden und es freut mich immer, wenn meine Unterstützung zu einem Erfolg führt und die Personen aus einer prekären Situation in eine »normale« finanzielle Lage kommen. Das heißt, dass sie Essen und eine Wohnung haben. Sehr viele Ratsuchende sind sehr herzlich und dankbar.
Wo siehst du Herausforderungen?
Sahin: Ich sehe Herausforderungen in dem Sinne, dass sich die Behörden interkulturell öffnen müssen und zwar nicht nur auf dem Papier. Es gibt bereits Mitarbeitende mit Migrationshintergrund, doch diese dürfen oft nicht in ihrer Muttersprache Beratungen anbieten. Weiterhin braucht es eine Einsicht für die verschiedenen Lebenswelten. Wir sind in Berlin, im 21. Jahrhundert, über 70 Nationen leben hier und da müssen noch mehr Anträge, auch beim Jobcenter, in verschiedenen Sprachen ausgestellt werden, damit die Personen selbständiger agieren können. Sonst sind sie immer abhängig von verschiedenen Vereinen und Verbänden. Andererseits sollten sie auf den Behörden Dolmetscher*innendienste gleich vor Ort und ohne große Hürden zur Verfügung stellen, damit der ganze Arbeitsstau sich auflöst. Das sind alles Probleme, die durchaus schon offen liegen, ob sie bewusst offenbleiben, bleibt fraglich.
Was würdest du dir wünschen?
Sahin: Ich wünsche mir eine interkulturelle Öffnung, eine leichtere Sprache, eine bessere Erreichbarkeit und Verständnis für die Lebenswelten der Menschen von allen Mitarbeitenden von Behörden und den Systemen selbst.