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bbz 10 / 2018

Keine Zeit für Revolution

50 Jahre nach Beginn der 68er Bewegung stellt sich die Frage: Was treiben die Studierenden von heute an den Universitäten? Kann etwas davon Politik genannt werden?

Kundgebung und Demonstration streikender studentischer Beschäftigter an Berliner Hochschulen für einen Tarifvertrag (TV-Stud). (Foto: Christian von Polentz / transitfoto.de)

Durch den Streik der Studentischen Hilfskräfte kam kurzzeitig wieder das Gefühl auf, an den Universitäten der Hauptstadt würden noch Menschen politisiert. Ein politischer Höhepunkt der Kampagne für einen studentischen Tarifvertrag TVStud fand mit der Besetzung des Audimax der Technischen Universität Berlin am 13. Juni durch verschiedene studentische Gruppen statt. Fünf Tage später jedoch wurde von der Polizei auf Anweisung der Universitätsleitung geräumt, obwohl kurz vorher ein Gesprächsangebot von Seiten der Besetzer*innengruppe geäußert wurde.

Ein ähnlich hoffnungsvolles Ereignis war die Besetzung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Humboldt-Universität im Jahr 2017, bei der Studierende für die Rücknahme der Entscheidung, den wissenschaftlichen Mitarbeiter Andrej Holm zu entlassen, demonstrierten. Bald weiteten sich diese Forderungen jedoch aus und es wurde über Wohnungs- und Stadtpolitik diskutiert. Schlussendlich erreichten die Protestierenden nach vier Wochen Besetzung, dass Andrej Holm wieder an der HU lehren darf (siehe unten). Vielleicht wurde sogar darüber hinaus ein Raum geschaffen, in dem die Politisierung der Studierenden weitergetragen wird. Zumindest zeigte sich in beiden Protesten, dass Solidarität in den verschiedenen Sektoren der Universität und ein Kampf für ein klares Ziel möglich sind.

Der Fall Holm, der Tarifkampf der Studentischen Beschäftigten, mit diesen Ereignissen im Kopf lässt sich eine fast rosige Studierendengeschichte der letzten drei Jahre schreiben. Leider zerplatzt diese schöne Blase an den tatsächlichen Begebenheiten des Studierendenlebens in Berlin. Neben allerlei Clubs, Museen, nahegelegenen Seen und was auch immer die hippen Kulturzeitschriften der Stadt mal wieder offerieren, hat Berlin für Studis vor allem zweierlei zu bieten: schnell ansteigende Mieten, eine Steigerung von 9,4 Prozent innerhalb von zwei Jahren und eine permanente Situation der Überbuchung in den beliebtesten Studiengängen.

Ersteres ist (fast) Dauerkritikpunkt an Berlin, zumindest scheint sich hier seit spätestens letztem Jahr breiterer gesellschaftlicher Widerstand zu regen.

Letzteres wird höflich ignoriert, scheint es. Wenige Gruppen an den großen Universitäten kritisieren den Umstand, dass Studierende während Vorlesungen auf dem Boden hocken müssen, Betreuer*innen für Abschlussarbeiten kaum zu finden sind und kaum persönlicher Kontakt zu Dozierenden, besonders Professor*innen, besteht. Haben sich alle damit abgefunden?

Politische Organisierung wie regelmäßiger Austausch über die Semestergrenzen hinweg finden oft zu wenig statt, von Kontakt zwischen verschiedenen Statusgruppen ganz zu schweigen. Dies liegt nicht, wie oftmals beschworen, an dem vermeintlichen mangelnden Interesse an Politik der heutigen Studiengeneration, sondern vor allem an den weitreichenden Veränderungen des Universitätsalltags. Die Bologna-Reform, hoch gelobt als das Einheitsprinzip des Studierens in Europa, sorgt vor allem dafür, dass das Studium schneller, regelkonformer absolviert werden muss. Zeit für frei eingeteiltes Lernen und kritische Auseinandersetzung bleibt dabei immer weniger. In Regelstudienzeit verbringen Bachelor-Studierende nur drei Jahre an der Universität, die Räume für Engagement sind enger geworden.

Statt Proteste zu planen, müssen die Studierenden heute Credit Points sammeln, BAföG-Verlängerungen hinterherrennen, unbezahlte Praktika zeitgleich zum Nebenjob absolvieren. Gleichzeitig bekommen immer weniger Studierende die Möglichkeit, sich das Studium über BAföG mitzufinanzieren. Weniger als 15 Prozent der eingeschriebenen Studierenden erhalten derzeit die staatliche Unterstützung (vergleiche BAföG-Artikel in der vorletzten Ausgabe). Ein Wert, der in Relation zu der Quote von Menschen an der Universität aus nicht-akademischen Elternhäusern steht. Räume der Vernetzung, unabhängig von den reglementierten Lesesälen und Gruppenräumen, stehen kaum mehr zur Verfügung: das Rote Café an der Freien Universität Berlin (FU) musste wegen Asbest- und Schimmelschäden schließen und ist nun provisorisch in einem kleinen Kellerverlies untergebracht. Schlimmer hat es das Studierendencafé Zwille an der TU getroffen, welches ohne Vorwarnung geräumt wurde. Gehört zu einer exzellenten Universität das Fehlen jeglicher kritischeren Stimmen dazu? Ironisch begleitet werden solche Aktivitäten der Universität mit dem zeitgleichen positiven Bezug auf die Studierendenproteste. Rudi Dutschkes Porträt hängt verstaubt von der Decke des Henry--Ford-Baus der FU, politische Motivationen sollen ebenso verstauben.

Klagen über die fehlende Organisierung der Studierenden, auch in den Gewerkschaften, werden gerne geäußert. Doch woher soll diese Zeit kommen? Woher die Energie, Engagement und Bildungsarbeit zu leisten, wenn das oft auch heißt, weniger Zeit zu haben, Geld für die Miete zu verdienen oder lebenslaufverschönernde Praktika zu absolvieren?

Der Traum des Studiums im hippen Berlin besteht für viele Studierende (und besonders für solche aus weniger privilegierten Verhältnissen) wenig aus Selbstgestaltung, ehrenamtlichen Engagement, Freizeit und dafür umso mehr aus (prekärer) Lohnarbeit, öden Pflichtveranstaltungen und oftmals ewig dauernder Wohnungssuche. Lösungen dafür liegen nicht nur bei den Studierenden, es müssten höhere BAföG-Bezüge her, höhere Freibeträge, mehr Studierendenwohnungen, eine längere Regelstudienzeit. Hochschulen könnten Credit Points oder andere Formen des Ausgleichs für engagierte Studierende anbieten und damit Engagement ihrer Studierenden fördern. Sie könnten Räume anbieten, in denen Studierende sich vernetzen.

Um diese Forderungen durchzusetzen, müssen sich Studierende aber ihrer Rechte bewusst werden und sich gemeinsam über verschiedene Statusgruppen hinweg organisieren. Studentische Proteste wie die TVStud-Kampagne geben dabei Hoffnung. Weitergehend muss politische Organisierung jedoch kampagnenunabhängiger auch außerhalb der Hochschule stattfinden. So wurde die eingangs erwähnte Bewegung der 68er nicht nur von angehenden Akademiker*innen getragen, sondern auch von Lehrlingen und Auszubildenden. So polemisch sie klingen mag, lautet meine Forderung daher: kommt raus, organisiert euch, kämpft gegen Leistungsdruck und Prekarisierung! Einen besseren Zeitpunkt als kurz vor der anstehenden Bewerbung der großen Berliner Universitäten als »Exzellenzuniversitäten« wird es so bald nicht mehr geben.


Andrej Holm ist ein deutscher Sozialwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Stadtentwicklung und Wohnungspolitik. Er hatte bei seiner Einstellung an der Humboldt-Universität eine falsche Angabe über eine Tätigkeit als Offiziersschüler bei der Stasi gemacht. Nach fünfwöchiger Amtszeit als Staatssekretär für Wohnen im rot-rot-grünen Senat war er deswegen entlassen worden. Seit Februar 2017 berät Holm die Senatsverwaltung von Senatorin Lompscher als Mitglied des »Begleitkreises zum Stadtentwicklungsplan Wohnen 2030«.


Dieser Artikel ist Teil des bbz-Themenschwerpunkts „Studieren in Berlin“  [zur gesamten Ausgabe]