Schwerpunkt „Künstliche Intelligenz in der Schule“
KI-Paradoxien
Warum Künstliche Intelligenz Lernprozesse sowohl fördern als auch behindern kann.
Während KI-Systeme das Potenzial haben, Lernprozesse zu verbessern und Lehrkräfte zu entlasten, treten im Schulalltag paradoxe Effekte auf: Entlastung, Kompetenzen, Motivation und einige andere Bereiche stehen in einem oft widersprüchlichen Verhältnis zu den Erwartungen. Möglicherweise ist es ein Teil des kollektiven Lernprozesses, mit den folgenden Paradoxien umzugehen beziehungsweise sie zumindest auszuhalten.
Kollektiv lernen und Widersprüche aushalten
Das Entlastungsparadoxon beschreibt Ent- und Belastung durch KI-Systeme. Ohne Frage können KI-Systeme dazu beitragen, Lehrkräfte in vielerlei Hinsicht zu entlasten. Gleichzeitig tritt dieser Effekt nur ein, wenn eine gewisse Einarbeitungsleistung vollbracht wird. Diese kommt als on-top-Aufgabe und zusätzliche Belastung hinzu. Letztlich muss man erst über den Berg, bevor man den neuen Horizont erblickt.
Ein weiteres Paradoxon betrifft die Kompetenzen. Lehrkräfte und Schüler*innen benötigen ein hohes Kompetenzniveau, wie zum Beispiel sprachliche Fähigkeiten, Prompting und kritisches Denken, um KI-Systeme sinnvoll einsetzen zu können. Gleichzeitig werden verschiedene Fähigkeiten erst entwickelt, wenn die entsprechenden Systeme aktiv genutzt werden.
Das Toolparadoxon beschreibt das schwierige Verhältnis von Lernen und KI-Werkzeugen. Lehrkräfte wissen, dass es nicht auf einzelne KI-Werkzeuge ankommt. Entscheidend sind vielmehr der sich wandelnde Bildungsauftrag, Zukunftskompetenzen und das Lernen in einer von KI geprägten Welt. Gleichzeitig ist der Diskurs überwiegend vom »jetzt kann KI…«-Charakter geprägt. Wir müssten mehr über das Lernen reden, benötigen aber Werkzeuge, um Bildung und Lernen in neuer Weise zu erschließen.
KI entlastet und weckt Misstrauen
Einen weiteren Punkt stellt das Kooperationsparadoxon dar. Lehrkräfte wie Schüler*innen finden die Arbeit mit KI entlastend, gewinnbringend und sinnvoll für verschiedenste Einsatzgebiete. Gleichzeitig gelingt die gemeinsame Akzeptanz im Unterricht an vielen Stellen nicht. Misstrauen und Skepsis verhindern, dass Co-Konstruktionsprozesse mit KI als kollektive Arbeitsweise zur Gewohnheit werden. Im schlimmsten Fall führt das dazu, dass Schüler*innen die Nutzung von KI verschleiern, um sich nicht dem Vorwurf des Betrügens aussetzen zu müssen.
Das Motivationsparadoxon beschreibt, wie KI-Systeme die Motivation der Schüler*innen beeinflussen können. Diese können die Motivation steigern, indem sie personalisierte Unterstützung, sofortiges und individuelles Feedback und flexible Lernumgebungen bieten. Gleichzeitig kann der Einsatz von KI zu einer abnehmenden Eigeninitiative führen (Skill Skipping), möglicherweise sogar zu Kompetenzabbau (Deskilling) und/oder einem Gefühl der Abhängigkeit von der Technologie. Während KI das Lernen erleichtert, könnte sie gleichzeitig die intrinsische Motivation verringern, Herausforderungen eigenständig anzugehen.
KI-Systeme bieten Chancen für mehr Bildungsgerechtigkeit, da sie in weiten Teilen kostenfrei und unabhängig vom Elternhaus zur Verfügung stehen, um Lernende individuell zu fördern. Gleichzeitig profitieren hauptsächlich diejenigen davon, die über ein höheres Bildungsniveau verfügen und die Systeme für sich – dank entsprechender Kompetenzen – zu nutzen wissen. KI wirkt dabei als ein weiterer Verstärker. Die einen ziehen mit zahlreichen individuellen Entfaltungsmöglichkeiten davon, während die anderen noch weiter abgehängt werden. Dieses Problem ist das Gerechtigkeitsparadoxon.
Den Entwicklungen hinterher
Betrachtet man das Tempo der KI-Innovationen müsste sich das Bildungssystem in kürzester Zeit und auf verschiedenen Ebenen an die neuen Gegebenheiten anpassen. Die Zeit, die hierfür benötigt wird, steht jedoch nicht zur Verfügung, sodass Bildungseinrichtungen mit veralteten Systemen und überholten Konzepten arbeiten müssen, obwohl neue und fortschrittlichere Technologien verfügbar wären. Hierbei handelt es sich um das Geschwindigkeitsparadoxon. Neben veralteten Systemen und überholter Technik können auch starre Verwaltungsstrukturen Entwicklungen hemmen. Obwohl die Ebenen der Bildungsadministration die Notwendigkeit erkennen, dass Schulen auf die Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz reagieren müssen, gelingt es nicht, Schulen mit der nötigen Infrastruktur, mit Zugängen zu datenschutzkonformen KI-Tools und/oder Anpassungen im Prüfungsrecht auszustatten. Dieser Widerspruch kann als Administrationsparadoxon bezeichnet werden.
Und zuletzt gibt es noch das Erkenntnisparadoxon. Verständlicherweise wünschen sich viele Beteiligte valide Forschungsergebnisse, die zeigen, welcher KI-Einsatz in welcher Weise wirksam ist. Gleichzeitig lassen sich diese Erkenntnisse nur anhand von Untersuchungen einer bereits veränderten Praxis generieren. Um neue Evidenzen zu erhalten, sind wir gezwungen, ohne forschungsgeleitete Orientierung auszuprobieren und neue Felder des Lehrens und Lernens zu erkunden.
Technologie kann technokratische Perspektiven fördern
Der Lehrer und Bildungsblogger Hauke Pölert hat darauf hingewiesen, dass er noch ein zehntes Paradoxon sieht. Er nennt es Zielparadoxon und beschreibt es folgendermaßen: »Viele KI-affine Lehrpersonen wollen die Möglichkeiten von LLM/KI für die Weiterentwicklung offenerer Lernformen, flexiblerer Lernformate, individuellerer Begleitung und zielgerichteterer Unterstützung im Lernprozess nutzen und damit bestehende Initiativen zur Unterrichtsentwicklung stärken. Gleichzeitig kann die Technologie aber gerade im Bereich Individueller Tutorieller Lernsysteme auch dazu führen, dass mehr Überwachung und Steuerung die technokratische Perspektive auf Lernen und ein technokratisches Verständnis von Lernprozessen im Sinne optimaler Input-Output-Effizienz fördern.«
Wenn wir die technischen Entwicklungen ernst nehmen, können wir nicht einfach weitermachen wie bisher. Künstliche Intelligenz verändert als niedrigschwelliges Denkwerkzeug unser Lernen und den Umgang mit Informationen auf fundamentale Art und Weise. Dies zu ignorieren, führt mindestens zu einer Verschärfung der ohnehin schon bestehenden Entfremdung zwischen Lernenden und dem System Schule.
Diese neuen Möglichkeiten kritisch in der Institution Schule zu erkunden, erfordert Mut und die Bereitschaft, sich selbst als Lernende zu begreifen. Lernende, die gemeinsam im Kollegium und mit Schüler*innen ausprobieren, reflektieren, kritisch bewerten und neue Wege erproben. Idealerweise geht es dabei nicht nur darum, all die beschriebenen Widersprüche auszuhalten, sondern die einzelnen Bereiche aktiv zu gestalten und unsere Rolle in einer sich verändernden Welt bewusst anzunehmen.
Gleichzeitig sind die beschriebenen Aspekte auch ein Call to Action: Auf allen Ebenen des Bildungssystems muss Bewegung entstehen, um Antworten auf die KI-bezogenen Entwicklungen zu finden. Die Analyse der Paradoxien kann dabei helfen, ein tieferes Verständnis der aktuellen Herausforderungen zu entwickeln und im besten Fall zum Auflösen der Widersprüche beitragen.
Joscha Falcks Blogbeitrag »Fünf Dimensionen für den Unterricht« joschafalck.de