Zum Inhalt springen

bbz 12 / 2019

Kinder haben das Recht, dass wir uns um sie kümmern

Matthias Meyer, Schulleiter der »Grundschule am Stadtpark Steglitz«, spricht mit unserem Redakteur Ralf Schiweck über interne und externe Hilfenetze, über Inklusion und Ausschluss und über die Schwierigkeit, jeden Tag für die Kinder da zu sein

Foto: GEW

Lieber Matthias, du warst früher als Sonderpädagoge in Tempelhof-Schöneberg tätig. Seit sieben Jahren bist du jetzt Schulleiter. Was rätst du den Pädagog*innen, wenn sie zu dir kommen und ein Problem mit einem Kind, mit Eltern oder ein anderes Anliegen haben? Was ist das erste, was du in die Wege leitest?

Meyer: Nach wie vor stehe ich gerne selbst als Ansprechpartner für Kolleg*innen, Eltern und andere zur Verfügung. Das hat sich auch nicht verändert, seit ich Schulleiter bin. Es kennzeichnet die Philosophie unseres Hauses, dass wir uns die notwendige Zeit nehmen, um mit den Ratsuchenden gemeinsam nach Lösungen zu forschen und eine schwierige Situation zu »entknoten«. Da spielt die Beziehung, die man zueinander hat, eine sehr große Rolle. Vielleicht bin ich ja gar nicht der »richtige« oder »beste« Ansprechpartner. In diesem Fall lenke ich in Richtung unserer Sonderpädagog*innen und Schulsozialarbeiter*innen. Diese fantastische Ressource nutzen wir täglich! Ich werbe also stets für das gemeinsame Gespräch und dafür, Eltern in und mit ihrer Sorge ernst zu nehmen, empathisch auf ihre Hinweise, Ängste, Bedenken einzugehen und diese miteinander zu besprechen.

Welche Ressourcen »von außen« nutzt ihr?

Meyer: Wir pflegen einen guten Kontakt zum »SIBUZ«, dem Schulpsychologischen und inklusionspädagogischen Beratungs- und Unterstützungszentrum. Regelmäßig tauschen wir uns mit dem dort ansässigen sonderpädagogischen und schulpsychologischen Bereich im Rahmen der »kooperativen Sprechstunde«aus. Ebenso wichtig ist die gute Zusammenarbeit mit dem Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst (KJPD) und dem Kinder- und Jugendgesundheitsdienst (KJGD). Sehr bedeutsam ist auch ein produktiver Austausch und ein vertrauensvolles Miteinander mit dem Regionalen Sozialen Dienst (RSD) des Jugendamtes. All diese Bereiche sind wichtige Partner des außerschulischen Netzwerkes, das oftmals positive Auswirkungen auf die innerschulischen Prozesse hat. Das gilt übrigens auch für die umliegenden Freizeiteinrichtungen, denn in diesen bewegen sich nicht wenige unserer Schüler*innen am Nachmittag. All diese Fachdienste und Fachleute sollen und müssen wissen, dass wir uns an unserer Schule sehr stark engagieren, um den Herausforderungen, denen wir uns täglich gegenübersehen, pädagogisch zu begegnen und zielführende Antworten zu finden.

Was ist eigentlich eine Schulhilfekonferenz? Habt ihr Erfahrung damit?

Meyer: Wir laden regelmäßig zu Schulhilfekonferenzen ein. Das heißt, dass Fachleute von außen an die Schule kommen, um gemeinsam mit den Pädagog*innen und den Eltern über einen Fall zu beraten. Ich werbe aber auch immer in Richtung des Jugendamtes darum, uns zu den Hilfekonferenzen des RSD einzuladen, wenn dort auch der schulische Bereich eines unserer Kinder besprochen wird. Wir organisieren gern, dass Kolleg*innen von uns anwesend sind. Das sollten im besten Falle Lehrkräfte sein, es können aber auch unsere Schulsozialarbeiter*innen sein. Gut funktioniert die Zusammenarbeit mit dem St. Joseph-Krankenhaus. Dies ist das für uns zuständige Krankenhaus für seelische Gesundheit im Kindes- und Jugendalter, das im Bedarfsfall Kinder stationär oder teilstationär aufnimmt. Wir sind mit der dortigen Klinikschule in engem Austausch, wenn es darum geht für ein Kind eine positive Perspektive zu planen. Außerdem nehmen wir an den durch die Klinik initiierten Fallkonferenzen teil. Dieses Verfahren hat sich außerordentlich bewährt.

Du sagst, deine Kolleg*innen können an externen Konferenzen in der Regel teilnehmen. Das bedeutet auch, dass Lehrkräfte ausgeplant werden müssen, richtig?

Meyer: Wenn wir zu den sogenannten Fallkonferenzen eingeladen werden, sorge ich dafür, dass auch Kolleg*innen vor Ort sind. Sie werden dann dafür aus dem Unterricht ausgeplant. Genau. Wenn möglich senden wir die zuständige Klassenlehrer*in mit der der Klasse zugeordneten Schulsozialarbeiter*in. Ich finde es sehr bedauerlich, wenn Fallkonferenzen ohne uns stattfinden. Ich werbe immer wieder dafür, uns zu beteiligen. Im Fall der Klinikschule sind die Fallkonferenzen außerordentlich wichtig für die Gestaltung des Übergangs zurück in die Regelschule.

Gibt es Kinder, die deiner Meinung nach in der Grundschule nicht adäquat gefördert werden können?

Meyer: Ja, gerade Kinder, deren Verhalten extrem auffällt, die in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung dringend Unterstützung benötigen. Man muss immer genau schauen, ob Schule in dem ihr gegebenen Rahmen in der Lage ist, für diese Kinder eine förderliche Atmosphäre herzustellen. Manchmal ist das, realistisch betrachtet, nicht der Fall. Es geht darum zu schauen, was das Kind braucht, um ins Lernen zu finden. Deswegen halte ich die externen Angebote für Kinder, die in ihrer emotionalen und sozialen sowie psychischen Entwicklung dramatischen Förderbedarf haben, grundsätzlich für notwendig. Leider sind diese im Zuge der Inklusion immer weniger geworden. Eine aus meiner Sicht fragwürdige Entwicklung. Kleine Lerngruppen von maximal fünf bis acht Kindern, in denen individuell und ständig intensiv-pädagogisch gearbeitet wird, die braucht es mehr denn je. Wir müssen aufhören, um den heißen Brei herumzureden.

Wie funktioniert bei euch die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Professionen?

Meyer: Wenn wir Schulhilfekonferenzen organisieren, wenn wir uns in kooperativen Sprechstunden über Kinder unterhalten, dann ist es ganz klar, dass wir immer alle im Haus tätigen Professionen einbinden, Lehrer*innen, Sonderpädagog*innen, Erzieher*innen und Schulsozialarbeiter*innen sowie Schulhelfer*innen. Sie alle sind »Experten« für das Kind. Vorerfahrungen, »Querdenken«, unterschiedliche professionsabhängige Blickwinkel und persönliche Kompetenzen zu bündeln, ist aus meiner Sicht unverzichtbar. Erst die Zusammenarbeit im Team befördert die Suche nach dem optimalen Ziel.

Wie gehen andere Eltern mit »schwierigen Kindern« um?

Meyer: Manchmal reden Eltern »gegen« ein Kind, natürlich in verständlicher und zumeist auch nachvollziehbarer Sorge um das eigene. Heutzutage wird sehr schnell eine Anzeige bei der Polizei gemacht, oder auch die Beschwerdestelle eingeschaltet, weil die Schule angeblich nichts machen würde. Diesen Eltern machen wir dann klar, jedes Kind hat das Recht, dass wir uns für dieses einsetzen. Das ist die Haltung und Vorgehensweise an unserer Schule, auch wenn sich das manchmal unglaublich schwierig darstellt. Kinder haben das Recht, dass wir uns um sie kümmern!

Das wäre schon ein gutes Schlusswort, aber ich würde gern noch von dir wissen, ob es Wünsche gibt, die du an die Senatsverwaltung oder den Bezirk hättest, noch weitere Unterstützungsmöglichkeiten?

Meyer: Ich habe den Wunsch, das große Interesse, externe Kleingruppen für Kinder mit einem hohen Förderbedarf in der emotionalen und sozialen Entwicklung nicht nur fest und dauerhaft zu etablieren, sondern darüber hinaus zusätzliche Standorte aufzubauen. Wir brauchen mehr Kleingruppenplätze, um der stetig wachsenden Zahl derer, denen dieses Angebot nicht nur guttut, sondern die es dringend benötigen, gerecht werden zu können. Der Bedarf ist so riesengroß, und alle in der Praxis Tätigen sehen und benennen das. Nun gilt es, Antworten auf die daraus entstehenden Fragen zu geben. Wir müssen der Realität Rechnung tragen, bei aller Sympathie für inklusive Ansätze.

Stößt das Regelschulsystem hier an seine Grenzen?

Meyer: Es gibt viele sehr gute schulinterne Hilfe- und Fördersysteme… auch wir sind ganz passabel aufgestellt. Ich glaube aber fest daran – und weiß aus meiner eigenen Erfahrung als Leiter eines dieser besonderen Schulprojekte für Verhaltensgestörte Kinder –, dass es einer Reihe von Schüler*innen sehr gut täte, für einen gewissen, klar definierten Zeitraum in einem ganz besonderen intensivpädagogischen, meinetwegen auch teiltherapeutischen System, auch schulisch gefördert zu werden, um dann mit dem Rüstzeug an Handlungsalternativen, was es in dieser Zeit mit auf den Weg bekommt, zurück ins Regelschulsystem gehen zu können. Mein Wunsch ist, dass man dafür eine Offenheit gewinnt, nein, besser: wiedergewinnt. Ich habe den Eindruck, dass das mittlerweile auch vielerorts verstanden wird, auch auf den verantwortlichen Ebenen. Wir brauchen diese Nischen dringend für diese besonderen Kinder, die vielleicht in der Gesamtzahl relativ wenige sind, aber Schule in ganz außergewöhnlichem Maße fordern und auch belasten. Auch für diese relativ wenigen Kinder müssen wir ein sinnvolles, förderndes Angebot haben beziehungsweise schaffen, und daran arbeite ich gerne mit.

Das Interview führte Ralf Schiweck,
Schulleiter i.R. und Mitglied der bbz-Redaktion

Dieses Interview ist ein Teil aus unserer aktuellen Ausgabe mit dem Themenschwerpunkt „Helfende Hände – Unterstützungssysteme in der Schule“ (zur Gesamtausgabe)