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Schule

Klassenzugehörigkeit versus Identität

In der Linken stehen sich derzeit zwei verschiedene Erklärungsmuster für Unterdrückung gegenüber. Die Frage ist, ob sie mehr als nur Spaltung mit sich bringen.

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Foto: Imago

Innerhalb der Linken besteht ein Konflikt, der bei künftigen Wahlen eine Mehrheit links von der CDU erschweren bis verhindern könnte. Es geht um nichts Geringeres als um ein grundsätzliches Politikverständnis, das sich äußerlich als Generationenkonflikt darstellt. Am deutlichsten werden die Unterschiede zur Zeit bei den Grünen, denen die Jungen davonlaufen, weil sie radikalere und spürbarere Einschnitte in die bisherige Politik fordern und dem Umwelt- und Klimaschutz alles andere unterordnen. Mit der »Klimaliste« gibt es eine neue Öko- und Umweltbewegung, die als Partei im März 2021 in Baden-Württemberg und im September in Berlin unter dem Logo »radikal: klima« zur Landtagswahl antritt. Sie wird über die Grünen hinaus in die Linke und die SPD abstrahlen. Dabei sind zwischen den beiden Richtungen nicht die Ziele strittig, sondern der Ausgangspunkt und die Herangehensweise.

Die Altlinken erklärten die unterschiedlichen Lebensbedingungen und Chancen mit dem ökonomisch begründeten Klassenwiderspruch nach Marx, was aber von vielen Jüngeren nicht mehr als hinreichend akzeptiert wird. Für sie sind Individualität und die Identität einer Person weit wichtiger. Diese Sichtweise findet sich auch bei radikalen Feministinnen, bei Tierschützer*innen, bei Migrant*innen, bei People of Color. Sie thematisieren Missstände und Demokratiedefizite, die bisher innerhalb der Linken zwar wahrgenommen, aber auch achselzuckend hingenommen wurden.

Nicht allein ein Generationenkonflikt

Die Altlinken verstanden sich als »die Gleichstellungsbeauftragten der Geschichte« (Justus Bender in der FAS vom 2.8.20), sie wollten die Arbeiterklasse aus den Fängen des Kapitalismus befreien, die Frauen aus dem Patriarchat, die Homo-sexuellen aus der Diskriminierung, die Menschen in der Dritten Welt aus der Ausbeutung.

Gleichstellung war ihr Ziel, alle Menschen sind gleich und sollen gleich behandelt werden. Sie beriefen sich, soweit sie nicht Anhänger*innen Lenins oder Maos waren, neben Marx auf Kant; alle Menschen sind gleich, ohne Unten und Oben, ohne Sprechverbote und Machtgefälle. Das Spektrum reichte von »sozialistisch« bis »linksliberal«, es stand für Freiheit und Gleichheit. Die Rechte bestand dagegen schon immer auf einem Unterschied zwischen Männern und Frauen, zwischen Deutschen und Ausländern, zwischen Schwulen und Heteros. Sie arbeitet bis heute mit Ab- und Ausgrenzung.

Ungleichheit sichtbar machen

Vor einigen Jahren wurde »Identität« zum Ausgangspunkt zunächst rechter, dann auch linker Politik. Im linken Verständnis steht Identität für individuelle Verschiedenheit, die zu politischer Ungleichheit führt; ein Mann ist keine Frau, ein Schwarzer kein Weißer, die sexuelle Orientierung ist divers. Es geht darum, die Ungleichheit sichtbar zu machen, den Opfern von Diskriminierung nicht ihre Erfahrung abzusprechen. Ihnen soll geglaubt werden, kein Weißer soll sie einschüchtern, kein Mann und erst recht kein weißer Mann. Wer als Weißer andere Aspekte, zum Beispiel die Klassenzugehörigkeit oder die soziale Lage oder das Wohnquartier, als Erklärung heranzieht, agiert als Vertreter seiner Ethnie und erkennt die Opferperspektive nicht an. Universalismus, Autonomie, Freiheit, die Werte der Aufklärung, sind für die junge Linke zweitrangig. Sie werden wieder aufgegriffen, wenn die Identitätsfrage geklärt ist. Es folgte ein Frontalzusammenstoß, alte Sozialist*innen und Linksliberale gegen junge Linksidentitäre, gepaart mit dem wechselseitigen Vorwurf eines defizitären Politikverständnisses.

Aus linksidentitärer Sicht besteht die gemeinsame Basis aller, die schwarz sind oder einer Minderheit angehören, in der Unterdrückung. Deshalb können sie niemals Rassist*innen sein. Das können nur Weiße, denn sie haben diese Erfahrung nicht gemacht; eine fragwürdige Verengung. Eine deutsche weiße Familie mit vier Kindern auf Wohnungssuche in Berlin oder ein rumänischer Bauarbeiter mit fünf Euro Stundenlohn werden auch unterdrückt und diskriminiert. Und Antisemitismus, der Zwillingsbruder des Rassismus, ist nicht an die Hautfarbe gebunden, auf Täter- wie auf Opferseite nicht. Die Junglinken sagen, nur wenn die Unterschiede schonungslos benannt würden, könnten sie überwunden werden und eine universelle Emanzipation einleiten, was zu grotesken Verzerrungen führt. Es gibt einen Wettbewerb unter den Opfergruppen um die Frage, wer die schlimmsten Verletzungen erlebt hat und die wenigsten Privilegien besitzt. Das führt zu einer neuen Hierarchie. Die schwarze lesbische Frau steht ganz oben, der weiße Hetero-Mann ganz unten. Für Anna Peters, Vorsitzende der Grünen Jugend, bedarf es der Sichtbarmachung von diskriminierenden Strukturen durch Identitätspolitik, um Diskriminierung überwinden zu können. Dafür müssen Weiße schweigen und Schwarzen und anderen diskriminierten Personen das Wort überlassen. Sie fordert »Safer Spaces«, das sind Räume, in die Weiße oder Männer oder Heteros nicht hineindürfen. Erst die Zuhörphase, dann die Lösungsphase.

Zwei Wege, ein Ziel

Die Auswirkungen auf die Schule lassen sich am Umgang mit einem Kind in einer Neuköllner Brennpunktschule verdeutlichen. Eine Lehrkraft altlinker Prägung wird bei diesem Kind den Klassenstandpunkt betonen. Danach ist es deutlich weniger wichtig, ob es sich um ein deut-sches, weißes Kind mit Eltern aus der einfachen Arbeiterschicht handelt oder um ein Kind mit Migrationshintergrund, in dessen Elternhaus nur rudimentär deutsch gesprochen wird. Entscheidend ist, dass beide Familien zur Klasse der Unterprivilegierten gehören, deren Leben gekennzeichnet ist durch geringe Entlohnung, sprich Ausbeutung, oder durch Arbeitslosigkeit, beengte Wohnverhältnisse und Perspektivlosigkeit. Das sind allesamt ökonomisch bedingte Faktoren, die sich aus ungleichen Besitz- und Teilhabeverhältnissen ableiten lassen, die man ändern muss, wenn man die Lage des Kindes verbessern will. Unter identitären Gesichtspunkten spielt zunächst einmal das Geschlecht des Kindes eine entscheidende Rolle, dann die Hautfarbe und die ethnische Herkunft. Förderung unter diesem Aspekt läuft darauf hinaus, die Ich-Identität des Kindes zu stärken, wenn es sich um ein Mädchen handelt, es zu ermutigen, sich nicht Gott- oder Allah-ergeben mit einer dienenden Rolle abzufinden, einen Beruf anzustreben, der ein von einem (Ehe)Mann unabhängiges Leben ermöglicht, und sich aus der Aufsicht des Vaters oder Bruders zu befreien. Beides sind linke Ansätze mit erheblichen, unterschiedlichen Auswirkungen, in der Schule erscheinen mir die Gegensätze aber überwindbar. Wie im Unterschied dazu rechte Identitätspolitik agiert, wurde vor einiger Zeit klar, als der CDU--Fraktionsvorsitzende Carsten Linnemann forderte, nur Kinder, die gut deutsch sprechen, sollten in der Grundschule aufgenommen werden, und im nächsten Atemzug eine Verbindung zu schweren Strafvergehen nicht-deutscher Täter zog. Hier wurde Identität künstlich betont und zur Ausgrenzung benutzt.

Alle linksidentitären Gruppen benennen konkrete Missstände, am offensichtlichsten die Me-Too-Bewegung und die Black-Lives-Matter-Revolte. Aber ihre Wirksamkeit ist fraglich. So unerbittlich, wie die Auseinandersetzung geführt wird, kann man zwar mediale Aufmerksamkeit erlangen, eine Nachrichtensprecherin im ZDF zur Gendersprechpause bringen, aber mit einer Cancel Culture, mit Sprechverboten und Sprachregelungen, schafft man keine Mehrheiten. Zehn Frauen in Dax-Vorständen sind Symbolpolitik, und das Weltklima wird nicht auf der Kantstraße in Berlin gerettet. Das sind unbequeme Wahrheiten, selbst wenn man die dahinterliegenden Maßnahmen für richtig hält. Die Erklärung der Welt von einem Punkt aus wird die Zahl der Menschen, die man für wirksame Veränderungen erreichen muss, verkleinern und letztlich zu Spaltungen wie in den USA führen.          

Auf Wunsch des Autors wurde der Artikel nicht durchgängig nach den Redaktionsrichtlinien gegendert.

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