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Schwerpunkt "Diskriminierungssensible Pädagogik"

Kolonialität und Diskriminierungskritik im Kunstunterricht

Das Wissen um die verschiedenen Ebenen sozialer Ungleichheit kann neue Perspektiven eröffnen und den weißen, eurozentrischen Räumen der Kunstpädagogik etwas entgegensetzen.

Foto: Adobe Stock

Eine Studentin der Kunstpädagogik erzählte mir folgende Geschichte: Sie habe im Kunstunterricht in einer 7. Klasse im Rhein-Main-Gebiet hospitiert und dabei eine sie verunsichernde Situation beobachtet. Das Unterrichtsthema sei »Portrait« gewesen. Die Lehrerin habe zu Beginn das Proportionsschema eines Kopfes mit Kreide an die Tafel gezeichnet. Sie habe die Klasse zunächst aufgefordert, dieses Tafelbild mit Bleistift auf Papier abzuzeichnen. Im Anschluss habe sie den Schüler*innen die Aufgabe gestellt, ein Portrait ihrer*s jeweiligen Banknachbar*innen zu zeichnen und dabei das Proportionsschema als Hilfestellung zu verwenden. Eine Gruppe Jungen hätte beide Aufträge nicht erfüllt. Stattdessen hätten die Mitglieder der Gruppe Shishas gezeichnet, viele davon. Auch nach wiederholter Aufforderung der Lehrerin, Köpfe zu zeichnen, wäre das Shishazeichnen weitergegangen. Auch Drohen habe nichts geholfen. Die Frage, die der Studentin aus der beobachteten Situation erwuchs, war: Wie kann die Lehrerin diese Schüler dazu bringen, die von ihr gestellte Aufgabe zu erfüllen? Sie beurteilte deren Verhalten gegenüber der Lehrerin als respektlos.

Die Wirksamkeit von Kolonialität

Das analytische Konzept der »Kolonialität« wurde von dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano Obregón im Jahr 1992 erstmals veröffentlicht. Die allgegenwärtigen und globalen Auswirkungen von Kolonialität werden als »Koloniale Matrix der Macht« bezeichnet. In dieser Matrix verschränken sich verschiedene hierarchische Verhältnisse: die globale Klassenbildung mit einer Verlagerung des Industrieproletariats in den Süden; die Unterscheidung von Zentrum und Peripherie; ein vom Westen kontrolliertes politisch-militärisches System; eine Skala rassifizierter Unterscheidung, die weiße Europäer*innen privilegiert; eine Geschlechterhierarchie, die das europäische Patriarchat privilegiert; eine sexuelle Hierarchie mit der Bevorzugung von Heterosexuellen; eine spirituelle Hierarchie, die das Christentum bevorzugt; eine weltanschauliche Hierarchie, die das westliche Wissen und Weltverständnis absolut setzt; und eine sprachliche Hierarchie, die europäische Sprachen, insbesondere Englisch als Weltsprache durchsetzt. An dieser Beschreibung wird deutlich, dass es für die Wirksamkeit der kolonialen Matrix keine nationale Kolonialgeschichte braucht. Kolonialität durchdringt vielmehr die gesellschaftlichen Verhältnisse so gut wie überall auf der Welt.

Die koloniale Matrix der Macht im Kunstunterricht

Auch in der oben skizzierten Unterrichtsstunde lassen sich die Spuren der kolonialen Matrix der Macht lesen. Zum Beispiel im Gegenstand, der Portraitzeichnung, in Verbindung mit dem zeichentechnischen Hilfsmittel, dem Proportionsschema. Letzteres entstammt der europäischen Bildtradition seit der Renaissance, die mit dem »Vitruvianischen Menschen« verbunden ist. Der »Vitruvianische Mensch« ist eine Körpernorm, die am weißen männlichen Europäer orientiert ist. Die Autor*innenschaft wird Leonardo Da Vinci zugeschrieben, der sich seinerseits auf Vitruv, einen Architekten der römischen Antike, bezog. Das Entstehungsdatum wird auf Anfang der 1490er Jahre datiert. Unter anderem Albrecht Dürer entwickelte die so begründete Proportionslehre im 16. Jahrhundert weiter. Sie entwickelt sich also zeitgleich mit der europäischen kolonialen Expansion. Seit über 500 Jahren bildet sie eine Grundlage für die Einteilung von Menschen und Nicht-Menschen, von schön und nicht-schön, von gesund und krank, Dabei handelt es sich um Einteilungen, denen ihrerseits rassistische, klassistische und sexistische Zuschreibungen unterliegen. Auch wenn es inzwischen Unterrichtsvorschläge gibt, die bei der Vermittlung dieses Schemas zumindest sich wandelnde Schönheitsideale reflektieren, bleibt es doch die Norm. In der Mode oder der Architektur bildet der darauf beruhende, sogenannte »goldene Schnitt« den Standard von Größenverhältnissen.

Ich kann mich aus meinem eigenen Kunstunterricht und aus dem Aktzeichnen in der Kunsthochschule noch gut an die Befriedigung erinnern, dass die Zeichnung eines Körpers, eines Kopfes tatsächlich »gelingen« kann, wenn ich mich daran halte. Zu keinem Zeitpunkt in meiner Ausbildung wurde problematisiert, dass nur vergleichsweise wenige ausgewählte Körper dieser Welt da hineinpassen. Das Erfolgserlebnis beim Körper- und Portraitzeichnen war und ist daher Teil einer Herstellungspraxis von weißen, eurozentrischen Räumen der Kunstpädagogik.

Meine Kollegin Yalız Akbaba, der ich die Geschichte erzählte, rückte das Motiv der Zeichnungen der Gruppe, die Shisha, genauer in meinen Blick. Sie machte mich darauf aufmerksam, dass die Geschichte in einer Schule im Rhein-Main-Gebiet spielte, etwa ein Jahr nach dem rassistischen Terroranschlag in Hanau auf eine Shishabar, ein weiteres Lokal und ein Kiosk, bei dem neun Menschen ums Leben kamen. Die Aufklärung des Tathergangs, der vom Versagen der Polizei geprägt war, ereignete sich schleppend und ist bis heute nicht abgeschlossen. Zum Zeitpunkt der Unterrichtsstunde im Winter 2020/21 waren gerade zahlreiche öffentliche Protest- und Gedenkaktivitäten in der Region im Gange. Stellt man das Handeln der Schüler*innen in diesen gegenwartshistorischen Zusammenhang, wird das Potenzial der Selbstermächtigung durch ästhetische Praxis deutlich: Das beharrliche Weiterzeichnen von Shishas im Angesicht von strukturellem Rassismus und Klassismus lässt sich als vielleicht nicht intentionale, aber nichtsdestotrotz widerständige Aneignung der kunstpädagogischen Situation lesen.

Diskriminierungskritische Perspektiven im Kunstunterricht

Der beschriebene Kunstunterricht ist aus meiner Sicht also eine von Kolonialität geprägte Zumutung: Warum sollten die Schüler*innen die ihnen gestellte Aufgabe erfüllen? Warum sollten sie sich mit dem Abzeichnen des Proportionsschemas und dem handzeichnerischen Portraitieren ihrer*s Banknachbar*innen beschäftigen? So wie wir im Biologieunterricht (hoffentlich) nicht mehr vermitteln, dass es überlegene und unterlegene Menschenrassen gibt, so sollten wir im Kunstunterricht nicht vermitteln, es gäbe ein Körperschema, das für alle, die als Menschen bezeichnet werden, passt. Die gesellschaftliche und persönliche Relevanz des Themas Portrait steht für mich dabei außer Frage. Es sollte meines Erachtens aber grundsätzlich darum gehen, Kunstunterricht diskriminierungskritisch zu entwickeln, um die koloniale Matrix der Macht zu durchkreuzen.

Ein solcher Unterricht würde einen offeneren Zugang zum Portrait bieten, der die Darstellung von Gegenständen, zum Beispiel von Shishas, als Teil der Darstellung von Persönlichkeiten begreift. Den Schüler*innen würden in einem solchen Unterricht vielgestaltige Beispiele von Begründungen, Kontexten, Funktionen und Ästhetiken von Portraits angeboten, aus der historischen Kunst, der Alltagskultur und der Gegenwartskunst verschiedener Kontexte der Welt. Dabei würde deutlich werden, dass Portraits mit machtvollen, aber auch mit selbstermächtigenden Handlungen und Absichten verbunden sind: Identifizieren und Zuschreiben, Idealisieren, Denunzieren und Karikieren. All dies geschieht entlang von Achsen sozialer Unterscheidung wie Geschlecht, Klasse, Rassifizierung, Behinderung. Geben Sie beispielsweise »Phantombild« in eine digitale Suchmaschine ein, liefert der Algorithmus Portraitzeichnungen von fast immer männlichen, meist zudem migrantisierten Gesichtern. Gleichzeitig stellt auch der visuelle Auftritt der Proteste und Gedenkveranstaltungen zu den rassistischen Morden in Hanau Portraits der Ermordeten ins Zentrum der Kampagne.

Auf der Basis solcher Beispiele würden die Lernenden sich zunächst fragen, in welchem Kontext die von ihnen anzufertigenden Kopfbilder jeweils stehen sollen, welche Ziele sie damit verbinden und was dies für ihre jeweilige Darstellungsweise und künstlerische Strategie bedeutet. Für die Herstellung der Portraits würde ein diskriminierungskritischer Unterricht neben der Bleistiftzeichnung auch weitere künstlerische Techniken zur Wahl stellen und dabei an jugendkulturelles Wissen zum Portrait anknüpfen, wie beispielsweise digitale Verfahren, Collage und Drucktechniken, um die realistische Handzeichnung nach dem Vorbild der Renaissance im 21. Jahrhundert nicht mehr unhinterfragt als allgemeingültig einzuführen.

Grundlagen für einen diskriminierungskritischen Unterricht sind das Wissen um die genannten Achsen sozialer Ungleichheit und eine entsprechende selbstkritische Reflexion der Lehrperson. Damit verbunden ist eine diskriminierungskritische Lesefähigkeit ihres Repertoires an Kunstbeispielen und Methoden und die Bereitschaft zu deren Veränderung und Erweiterung, der Erarbeitung eines anderen, diskriminierungskritischen Kunst-Wissens. Nützlich ist zudem ein positives Verhältnis zur Kontingenz. Damit ist eine Aufmerksamkeit und Offenheit für das Wissen gemeint, das in Störungen steckt, wenn der Unterricht nicht nach Plan läuft. Einen solchen produktiven Kontingenzmoment habe ich in der Geschichte über die Shishazeichner wahrgenommen und hier versucht, ihn diskriminierungskritisch auszulegen.

Jedoch muss bei diskriminierungskritischen Perspektiven im Kunstunterricht die kontinuierliche Arbeit an der diskriminierungskritisch informierten Veränderung der Strukturen und der damit einhergehenden Diversifizierung des Lehrpersonals im Zentrum aller Bemühungen stehen. Denn solange sich Studierende angesichts von strukturellem Rassismus in Studium, Referendariat, Lehrplänen und Pädagog*innenzimmern gegen den Beruf der Kunstlehrer*in entscheiden, nützen auch die hier entfalteten Veränderungen des Kanons und der Methoden wenig.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
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