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Tendenzen

Kurz vor dem Aus

Die Senatsverwaltung stellte im Frühjahr die Förderung unzähliger wichtiger Bildungsinitiativen ein. Ein Aufklärungsprojekt zu türkischem Rechtsextremismus hätte fast seine Arbeit einstellen müssen.

Quelle: IBIM.e.V.

Mitte Februar erreichte viele Berliner Bildungsinitiativen eine Schocknachricht: Die Senatsverwaltung kündigte an, dass die Förderung für zahlreiche Projekte zum 31. März 2025 eingestellt
wird. Begründet wurde dies mit der angespannten Haushaltslage – betroffen sind auch die sogenannten »freiwilligen Leistungen« des Landes Berlin, darunter zahlreiche Angebote zu Migration, Antidiskriminierung und Demokratiebildung. Auch wir, das Intersektionale Bildungswerk in der Migrationsgesellschaft (IBIM e.V.), waren als Teil dieses Angebotes betroffen.
 

Unsere freiwillige Leistung des Landes Berlin heißt Antisemitismus und Demokratiefeindlichkeit in türkischnationalistischen Kontexten, kurz: Türkischer Rechtsextremismus und Ultra-Nationalis-
mus. Wir bieten hauptsächlich Workshops mit Jugendlichen an Schulen sowie Fortbildungen für Lehrer*innen und andere Fachkräfte an. Türkeibezogene Konflikte und Themen, insbesondere die Wissensvermittlung über die Türkei, türkischen Ultra-/Nationalismus und Rechtsextremismus, bilden die tragende Säule unserer Arbeit. Die GEW ist mit dieser Thematik vertraut: Als 1980 der Lehrer und Gewerkschafter Celalettin Kesim von Grauen Wölfen ermordet wurde, setzte sich die GEW für die Erinnerung ein. Intersektionalität – das Überlagern von Identitäten und Ungleichheitsverhältnissen – beziehen wir zentral auf »Minderheiten in den Minderheiten«. Neben Fortbildungen und Workshops unterstützen wir vor allem Schulen dabei, die Türkei und damit verbundene Fragen auf attraktive Weise zum Thema zu machen. Es geht dabei keinesfalls nur um Schulen mit überwiegend türkeistämmigen Schüler*innen, auch wenn der Bedarf dort am 
größten ist.

 

Existenzängste und Unsicherheiten wachsen

 

Die E-Mail ließ keine sechs Wochen Kündigungsfrist, und anfechtbar ist die Entscheidung nicht – wie immer gab es nur einen vorläufigen Bewilligungsbescheid bis zum 31. März. Im Kopf rattert es los, während der Puls steigt: Habe ich in fünf Wochen noch einen Arbeitsplatz? Wie viele Stunden, was geben unsere anderen Projekte her? Für wie viele der gestrichenen Kolleg*innen? Welche unserer »Maßnahmen« sagen wir ab? Die Veranstaltung »Die Türkei im Zweiten Weltkrieg«? Der Vertrag ging gerade an die Referentin! Haben wir einen anderen Topf für das Honorar? Und: Sagen wir jetzt alles ab – oder erst mal gar nichts? Lassen sich die vereinbarten Workshops an Schulen irgendwie anders bezahlen? Vielleicht lässt sich doch eine Weiterförderung erzielen? 
 

Wo gibt es überhaupt mehr Informationen? War nicht vorhin auf Instagram ein queeres Projekt, das auch gestrichen wurde? Machen wir auch einen Beitrag? Kann man sich mit anderen kurzschließen?Soll ich mich jetzt auf eine andere Stelle bewerben, mich bei einem Stellenportal anmelden? Aber wenn überall in diesem Bereich gekürzt wird? Jetzt suchen auf einen Schlag ganz viele Kolleg*innen, wir machen uns überall Konkurrenz. Was ist mit unseren Teamer*innen, informieren wir sie – sofort, später, überhaupt? Die freiberuflichen Teamer*innen finanzieren oft ihr Studium über uns. Und arbeiten in der Regel bei mehreren Trägern – wird ihnen jetzt überall abgesagt? Die Konkurrenz wird stärker. Suchen sie sich andere Erwerbsmöglichkeiten, haben wir 
niemanden mehr, der*die für uns in die Schulen geht? Aber wir können ja gar nicht mehr in die Schulen gehen! Müssen selbst mehr freiberuflich arbeiten, verstärken die Konkurrenz. Wie kann man jetzt eben nicht in Konkurrenz gehen, sondern solidarisch miteinander umgehen? Nicht nur für das eigene Projekt kämpfen, sondern Forderungen für alle stellen? Es geht um Gelder der Bildungsverwaltung, die Streichungen und Kürzungen betreffen, wie seit Jahren schon, auch das Regelsystem der Schule und Jugendhilfe. Was sagt eigentlich die GEW? 
 

Solche Gedankenströme wurden bei einer Unzahl von überwiegend prekär Beschäftigten ausgelöst, die seit Jahren und teilweise auch Jahrzehnten auf mehr- oder immer wieder nur einjährig befristeten Stellen »freiwillige Leistungen« verrichten. Dabei sind es notwendige Angebote zu Migration, Antidiskriminierung und Diversität, Queerfeindlichkeit und queerem Leben, zu Antisemitismus und jüdischem Leben und zu anderen alltagsweltlichen Realitäten, die in Studium und Referendariat selten oder auch gar nicht vorkommen. Jugendliche Lebenswelten, die Schule und Jugendarbeit bestimmen, ohne dass pädagogische Fachkräfte im Umgang damit qualifiziert sind. Seit April wird IBIM e.V. nun von der Landesantidiskriminierungsstelle (LADS) gefördert.

 

Betroffene stärken  und Empowerment fördern


Zentral ist, sich dem Rechtsextremismus über die Perspektive von Betroffenen zu nähern, neben progressiven Communitys aus der Türkei vor allem Kurd*innen, Alevit*innen und andere Minderheiten. Zunehmend engagieren sich auch junge Menschen dieser Gruppen für die Anerkennung der eigenen Zugehörigkeit, die Pflege der eigenen Religion und kultureller Praktiken, sehr oft auch für die Anerkennung von extremen Gewaltverbrechen des türkischen Staates gegen die eigene Gruppe. Ihr Empowerment ist oft ein doppeltes: Sie werden meist als Türk*innen gelesen und sind sowohl entsprechendem Rassismus als auch der spezifischen antikurdischen, antialevitischen, antiarmenischen Feindlichkeit der nationalistischen und meist islamistischen türkischen Rechten ausgesetzt.

 

Rassismus verstehen, heißt komplex denken

 

Trotz der großen türkischen Einwanderungsbevölkerung in Berlin sind vielen Lehrer*innen und anderen Fachkräften die komplexen Verhältnisse innerhalb der extrem diversen türkeistämmigen Schüler*innenschaft überhaupt nicht klar. Und nicht selten ist es für ein Kollegium überraschend, bei einer Fortbildung festzustellen, dass allein unter der Handvoll Kolleg*innen aus der Türkei schon verschiedene Zugehörigkeiten und kollektivbiografische Bezugnahmen vertreten sind. Es sind viele Fragen, die sich für Schulen stellen: Ist es überhaupt gut, diverse Zugehörigkeiten und Gewaltverbrechen anzusprechen, oder werden Konflikte dadurch erst geweckt? Was ist, wenn die Lehrkraft für Türkisch sich als Anhänger*in der Rechten entpuppt? Was passiert, wenn wir Kurdischunterricht einführen wollen? Und wäre es rassistisch, angesichts der Bedrohung durch die AfD türkischen Nationalismus zum Thema zu machen? Fühlen sich unsere Schüler*innen dann stigmatisiert? Wie geht man die Thematik an, ohne dass Ventile für den eigenen Rassismus geöffnet werden? Warum überhaupt sind Jugendliche, die selbst Rassismus erfahren, rassistisch 
gegenüber anderen?

Allein diese Fragen zu formulieren und in den Austausch darüber gehen zu können, ist ein großer Schritt vorwärts. Grundsätzlich muss jeder auslandsbasierte Rechtsextremismus, ob türkisch, russisch oder andere, genauso wie der deutsche als menschenverachtende Haltung gesehen und behandelt werden. Gleichzeitig gibt es Spezifika, die die jeweiligen nationalen Narrative ausmachen. Die große Bedeutung des türkischen Ultranationalismus ergibt sich unter anderem aus dem Einfluss einer gefestigten Organisationsstruktur. Ebenso aus der Attraktivität der chauvinistischen Selbstüberhöhung als Türk*in angesichts des hiesigen Rassismus. Dass solche Haltungen aber überhaupt unter den eigenen Schüler*innen vorhanden sind, lässt sich nicht 
einfach voraussetzen. Soziale Medien, Online-Serien, Moscheevereine sowie das Elternhaus spielen eine große und manchmal auch widersprüchliche Rolle.
 

Lehrkräfte und andere Fachkräfte sind angesichts der komplexen Gemengelage dankbar für Unterstützung und Impulse von außen. Die Berliner Bildungsverwaltung hat ihre Entscheidung »mit Bedauern« getroffen – vielleicht gibt es ja doch neue Spielräume. 


www.ibim.info