Schwerpunkt "Diskriminierungssensible Pädagogik"
Lehrkräftebildung für die Schule der Vielfalt
Die Ausbildung von Lehrkräften trägt der Realität einer bunteren Gesellschaft immer mehr Rechnung. In allen drei Phasen der Lehrkräftebildung gibt es eine Entwicklung zu mehr Sensibilität.
Wie ist es um die Lehrkräftebildung in der (post-)migrantischen Gesellschaft bestellt? Auf diese Frage tendiere ich zu antworten: Läuft bei uns. Die Antwort ist in ihrer Pauschalität natürlich falsch. Mit ihr kann ich aber meine Wertschätzung für diejenigen am besten ausdrücken, die in den letzten Jahren durch ihr wissenschaftliches oder pädagogisches Arbeiten neue Maßstäbe gesetzt haben, indem sie auf der Veränderbarkeit bestehender Ungleichheitsverhältnisse beharren und sich für die Rechte derjenigen engagieren, die als vermeintlich »Andere« ausgegrenzt werden.
Im Folgenden möchte ich diese Momentaufnahme mit Blick auf die drei Phasen der Lehrkräftebildung als soziale Arenen skizzieren, in denen jeweils unterschiedliche Kämpfe um Anerkennung geführt werden.
Anerkennung des Wissens in der Ersten Phase
Mit dem Rückenwind gesellschaftlicher und bildungspolitischer Anstrengungen einer »Lehrerbildung für eine Schule der Vielfalt«, wie es in der gemeinsamen Empfehlung von Kultusminister- und Hochschulrektor*innenkonferenz aus dem März 2015 heißt, wurde Inklusion als Querschnittsaufgabe für alle Lehrkräfte an allen Schulformen bestimmt. Daraus wurde die Anforderung an alle in der Lehrkräftebildung beteiligten Organisationen und Akteur*innen abgeleitet, die angehenden Lehrkräfte für einen »konstruktiven und professionellen Umgang mit Diversität« zu qualifizieren.
Dieser Versuch einer Top-down-Steuerung wurde von den lehrkräftebildenden Hochschulen zwar mehr oder weniger ignoriert, aber in diesem Fall machte das nichts. Denn das Thema war in einer Bottom-up-Bewegung längst erblüht. Ich würde das jedoch weniger an Modulbeschreibungen oder einer Auswertung von Vorlesungsverzeichnissen festmachen, die angesichts der Lehrplanungsorganisation nur wenig aussagekräftig sind, sondern an folgenden Punkten: Erstens an der weithin sichtbaren Forschung und den vielen Nachwuchsforscher*innen, zweitens an den auflagenstarken Lehrwerken sowie drittens am großen Interesse von Lehramtsstudierenden, sich in den Bereichen Migrationspädagogik oder interkulturelle Bildung prüfen zu lassen.
Ich behaupte, dass in der Ersten Phase der Lehrkräftebildung, dem Lehramtsstudium, mittlerweile solche Anfragen wie »Darf ich mal deine Haare anfassen?« oder »Wo kommst du wirklich her?« längst in der Mottenkiste eingelagert wurden. Die Lehramtsstudierenden beschäftigen sich heute vielmehr mit Konzepten wie dem »monolingualen Habitus«, mit diskriminierungskritischer institutioneller Entwicklung von Schulen, mit »natio-ethno-kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten«, mit Bildungsungleichheiten in der Einwanderungsgesellschaft, mit Alltagsrassismus sowie mit Grundbegriffen wie Heterogenität, Diversity oder Intersektionalität.
Anerkennung der Erfahrung in der Zweiten Phase
In der Zweiten Phase der Lehrkräftebildung, dem Referendariat, ist es schwieriger als an den Hochschulen, die Professionalisierung der Lehramtsanwärter*innen angemessen zu erfassen. Ich springe daher zur Programmatik der Zweiten Phase, in der ausgehend von dem in der Ersten Phase erworbenen Wissen die pädagogische Praxis erschlossen und reflektiert werden soll.
Im Studienseminar lässt sich das besondere Potenzial der Mehrperspektivität für das Verständnis des Einzelfalls nutzen. Im geschützten Raum des Seminars ist genügend Zeit, die eigene Erfahrung, die mir selbst möglicherweise sehr nahegegangen ist, zu perspektivieren und zu relativieren, indem auf kollegialer Ebene verschiedene Interpretationen des Geschehenen entwickelt werden. Besondere Aufmerksamkeit könnte dabei dem Uneingeordneten, Mehrdeutigen oder Widersprüchlichen zuteilwerden. Denn ohne Zweifel oder Irritation ist kein kritisches Hinterfragen für selbstverständlich gehaltener Ordnungen und der eigenen Rolle darin möglich. Das Seminar sollte der Ort sein, an dem ungerechte Machtverhältnisse aufgebrochen werden. Wir können dort auf einzelne Verstimmungen hören, aber auch leise Zwischentöne und den Nachhall wahrnehmen, was das mit Lehrkräften und Schüler*innen macht – Gehör zu finden oder zum Still-Sein ermahnt zu werden.
An einem Beispiel möchte ich aufzeigen, wie entscheidend die eigene Erfahrung für die Problemwahrnehmung ist: Einer meiner ehemaligen Schüler, dessen Erstsprache Türkisch ist, hat mir einmal erzählt, dass er als kleines Kind in der Kita immer wieder ermahnt wurde, Deutsch zu sprechen. Er verstand diese Ermahnung damals als Aufforderung, zu schweigen. Für ihn war »Deutsch sprechen« gleichbedeutend mit »still sein«.
Ziemlich sicher wollten die Erzieher*innen in der Kita den Jungen nicht zum Schweigen bringen, sondern ihn beim Erwerb der deutschen Sprache fördern. Das Beispiel zeigt, dass auch ohne Absicht eine Diskriminierung erfolgen kann. Für den Jungen muss damals die Anforderung Deutsch zu sprechen als Abwertung seiner Erstsprache vorgekommen sein, durch die ihm das Recht zu Sprechen entzogen wurde.
Anerkennung der pädagogischen Beziehung in der Dritten Phase
Das Lebenslange Lernen wird in der Lehrerkräftebildung als Dritte Phase verstanden. Was machen fünf, zehn und mehr Jahre im Schuldienst mit Lehrkräften, wenn der Schulalltag als kräftezehrend und belastend erlebt wird? Ich vermute, dass das Erleben andauernder Überlastungen bei einigen Lehrkräften dazu führt, Mehrdeutigkeit, Widerstand oder Unordnung generell abzuwehren, um die eigene Position als unangreifbar und überlegen zu sichern.
Dabei ist das Offen- und Sensibel-Bleiben für die Sichtweise meines Gegenübers entscheidend dafür, dass sich ein stabiles Arbeitsbündnis zwischen Lehrkraft und Schüler*in entwickeln kann. Schüler*innen brauchen Lehrkräfte, denen sie vertrauen und die auf ihre Interessen, Wünsche und Bedürfnisse eingehen können. Die umgekehrte Perspektive ist genauso bedeutsam: Lehrkräfte, die das Gefühl haben, ihre Schüler*innen gut zu verstehen und von ihnen respektiert zu werden, zeigen sich im Schulalltag weniger gestresst und belastet.
Das gut hinzubekommen, ist berufsbiographisch eine der wesentlichen Entwicklungsaufgaben für die Dritte Phase. Im Herbst 2020 war ich nach einigen Jahren in der universitären Lehrkräftebildung zurück im Dienst an meiner alten Schule. Dabei habe ich Kolleg*innen von früher wiedergetroffen, die genau das hervorragend können – ihre Schüler*innen individuell wertschätzen, durch Prioritätensetzungen Zeit schaffen und sich darauf freuen, wie die Schüler*innen wohl in der nächsten Stunde auf eine interessante Frage antworten werden.
Mir sind keine Weiterbildungsangebote bekannt, mit denen es an zwei oder drei Nachmittagen im Jahr gelingen könnte, Lehrkräfte wirksam zu unterstützen, denen der Aufbau anerkennender pädagogischer Beziehungen schwerfällt. Dazu bräuchte es ganz andere Formate. Eine niedrigschwellige Möglichkeit zum Heraustreten aus der eigenen Komfortzone könnte zumindest sein, sich in der großen Pause im Lehrkräftezimmer mal neben die Kolleg*innen zu setzen, denen die Gestaltung pädagogischer Beziehungen besonders gut gelingt. Ja, Sie wissen, wer das ist.