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bbz-Schwerpunkt "Mehr Lehrkräfte gut ausbilden"

Lehrkräftebildung hat immer noch keine Priorität

Der Lehrkräftemangel in Berlin ist hausgemacht. Jahrzehntelange politische Fehlentscheidungen und Versäumnisse rächen sich. Die Probleme müssen endlich richtig angegangen werden.

Foto: Adobe Stock

Lehrkräftemangel! Das Wort war vor 20 Jahren noch gar nicht im Sprachgebrauch. Zum Schuljahr 2005/06 hatte Berlin gerade mal 120 neue Lehrkräfte eingestellt. Gleichzeitig wurde massiv die Axt an die Ausbildungskapazitäten gelegt. 400 Stellen für das Referendariat wurden gestrichen. Es gab lange Wartezeiten. Die GEW BERLIN unterstützte massenhaft Klagen der jungen Kolleg*innen. Viele Lehrkräfte mussten schon nach dem Studium Berlin verlassen, weil sie hier keinen Referendariatsplatz bekamen. Der »Rest« war nach dem Referendariat weg, weil Berlin kaum neue Einstellungen vornahm.

Dabei zeichnete sich angesichts der Altersstruktur der Berliner Lehrkräfte schon damals ab, dass Berlin in nur wenigen Jahren in eine bildungspolitische Katastrophe schlittern würde.

»GEW BERLIN erwartet dramatischen Einbruch in der Lehrerbildung« heißt es in einer Presseerklärung vom 15. Januar 2004. »Von 2005 bis 2010/11 müssen insgesamt 7.000 neue Lehrkräfte in Berlin eingestellt werden. Wo die herkommen sollen, ist uns ein Rätsel.«

Die GEW war die Ruferin in der Wüste. In der Bildungs- und Hochschulpolitik zu Beginn der 2000er Jahre wurden die Prioritäten anders gesetzt. Es war Kürzungszeit und Berlin Haushaltsnotlagenland. Überall wurde zusammengestrichen und verkauft, was nur ging. Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst wurden gezwungen, auf im Schnitt zehn Prozent ihres Einkommens zu verzichten, um betriebsbedingte Kündigungen zu vermeiden. Den Berliner Lehrkräften wurde eine Erhöhung ihrer Arbeitszeit aufgedrückt, was zu noch weniger Einstellungen führte.

Seit 2014 muss Berlin jährlich mindestens 3.000 neue Lehrkräfte einstellen. Nur – die sind nicht da.

Im Jahr 2017 hatte bereits fast jede zweite neu eingestellte Lehrkraft in den Berliner Schulen kein Lehramtsstudium absolviert, in den Grundschulen sogar mehr als die Hälfte! Ab Schuljahresbeginn 2018/19 reichten selbst die Quereinsteiger*innen nicht mehr aus, um die Stellen zu besetzen. Die Zahl der Referendariatsplätze wurde vor allem durch den beharrlichen Druck der GEW BERLIN ab 2008 schrittweise wieder erhöht. Allerdings bleiben von den 2.700 Plätzen regelmäßig fast 1.000 unbesetzt. Es fehlen schlicht die Lehramtsabsolvent*innen.

Die Universitäten waren ab dem Jahr 2002 damit beschäftigt, die bisherigen Diplom- und Magisterstudiengänge auf Bachelor und Master umzustellen, die sogenannte Bologna-Reform. Die Staatsexamensstudiengänge im Lehramt wurden im Nachgang in die Reform einbezogen – mit Experimenten, die der Lehramtsausbildung eher schadeten als nützten. Wer erinnert sich noch an den Spruch: Kleine Kinder, kleiner Master, kleines Geld? Die künftigen Grundschullehrer*innen wurden nach dem sechs-semestrigen Bachelorstudium mit einem einjährigen Masterstudium abgespeist, obwohl nach der Bologna-Reform ein fünfjähriges Studium vorgesehen war. Der »kleine Master« reiche doch für Lehrer*innen in der Grundschule. Und für das anschließende Referendariat seien 12 Monate mehr als genug (Achtung, Zynismus).

Veränderungen in der Lehrkräfteausbildung

Nach der Schulstrukturreform mit der Bildung der Integrierten Sekundarschulen im Jahr 2010 sickerte die Erkenntnis in der Politik durch, dass auch die Lehramtsausbildung verändert werden muss. Nach einem über zweijährigen Diskussionsprozess und auf Grundlage des Berichts einer Expert*innenkommission (der sogenannten Baumert-Kommission) wurde 2014 ein komplett neues Lehrkräftebildungsgesetz aus der Taufe gehoben. Ziel war vor allem, die fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Kenntnisse in Mathematik und Sprachbildung der angehenden Grundschullehrkräfte zu verbessern. Gleichzeitig wurde eine einheitliche Lehramtsausbildung für Lehrkräfte im Bereich Sek I und Sek II geschaffen, das sogenannte Lehramt ISS/Gymnasium.

Um die Integration und schließlich Inklusion auch in der Ausbildung zu verankern, wurde Sonderpädagogik als eigenständiges Lehramt abgeschafft. Seitdem können in allen drei neuen Lehrämtern, neben den zwei bereits genannten noch das für Berufliche Schulen, Sonderpädagogik beziehungsweise zwei sonderpädagogische Fachrichtungen anstelle eines Faches studiert werden. Alle Lehramtsstudierenden hatten fortan ein einheitlich langes Studium von sechs Semestern Bachelor und vier Semestern Master, einschließlich eines Praxissemesters, was es vorher nicht gab.

In den Universitäten wurden sogenannte Zentren für Lehrkräftebildung errichtet, die später in die Gründung der Schools of Education mündeten. Die Universität der Künste bildet die Ausnahme, sie hat keine School of Education, sondern eine Ständige Gemeinsame Kommission – Zentrum für künstlerische Lehrkräftebildung.

Die GEW BERLIN hat diesen Prozess intensiv begleitet und grundsätzlich begrüßt. Die Universitäten mussten diese erneute Strukturreform umsetzen, was natürlich nicht von heute auf morgen geht und nicht konfliktfrei verläuft. Um die Kapazitäten kümmerte sich die Politik zu dem Zeitpunkt immer noch nicht.

Die Zahl der Quereinsteiger*innen in Schule wächst

Erst als ab 2015 die Zahlen immer dramatischer wurden, immer mehr Schüler*innen in die Schulen strömten und Berlin zusätzlich geflüchtete Kinder und Jugendliche aufnahm, konnte die Politik den bereits voll zugeschlagenen Lehrkräftemangel nicht mehr ignorieren. Vor allem in den Grundschulen wuchs die Zahl der Quereinsteiger*innen und der Lehrkräfte ohne volle Lehrbefähigung (LovL, heute beschönigend Seiteneinsteiger*innen genannt).

In einem ersten Schritt wurde die Zahl der Studienplätze für das Grundschullehramt erhöht – faktisch 10 Jahre zu spät!

»Besser spät als nie«, könnten wir die heutige Bildungssenatorin Busse zitieren, als sie im Mai dieses Jahres die Wiedereinführung der Verbeamtung feierte.

Die Erhöhung der Studienplatzkapazitäten ist aber nicht von heute auf morgen umzusetzen. Es braucht nicht nur zusätzliche finanzielle Mittel, sondern auch Personal, Räume und Ausstattung.

In den Hochschulverträgen zwischen dem Land Berlin und den Hochschulen von 2014 bis 2018 verpflichteten sich die Universitäten, die Zahl der Lehramtsabsolvent*innen auf 1.000 pro Jahr zu erhöhen. Diese Zielzahl wurde in den Folgeverträgen von 2018 bis 2022 noch mal auf 2.000 verdoppelt. Im Juni 2020 wurden mit dem Sonderprogramm »Beste Lehrkräftebildung für Berlin« weitere Maßnahmen beschlossen, um die angestrebte Anzahl von 2.000 Absolvent*innen zu erreichen. Dazu gehörten unter anderem zusätzliche Professuren und weitere Personalstellen sowie Tutorien. Dafür stellte Berlin zusätzliche Mittel zur Verfügung, im Jahr 2020 2,3 Millionen Euro und in den Jahren 2021 und 2022 jeweils 6,55 Millionen Euro.

Seit 2015 gibt es einen deutlichen Aufwuchs bei den Studienplätzen und den Studierenden. Im Grundschullehramt wurde die Zahl der Studienplätze fast vervierfacht (im Masterstudium von 372 auf knapp 1.000), im Lehramt ISS/Gym sind es über 30 Prozent mehr (im Masterstudium aktuell knapp 1.400).

Es mangelt an Lehramtsabsolvent*innen

 

Trotzdem hakt es gewaltig. Bis 2021 beendeten pro Jahr nicht einmal die schon vorher beschlossenen 1.000 Lehramtsabsolvent*innen ihr Studium an den  vier Berliner Universitäten (siehe Tabelle). Große Verwunderung in der Berliner Politik. Warum klappt das nicht? Wo bleiben die angehenden Lehrkräfte? Eine große Blackbox.

Aktuelle Zahlen belegen, dass vor allem im Bachelorstudium mit Lehramtsoption nicht nur die Immatrikulationszahlen rückläufig sind, sondern die Zahl der Exmatrikulationen deutlich höher ist als im Masterstudium. Viele Studierende gehen bereits im Bachelorstudium verloren, da es dort kaum eine »Lehramtsidentität« gibt. Misslich ist, dass die Universitäten nicht wissen und bisher auch nicht erheben, wohin die Studierenden gehen, also ob sie tatsächlich abbrechen oder in andere Studiengänge wechseln. Das aber wäre dringend notwendig, um Licht in die Blackbox zu bringen.

Im Masterstudium liegen die Probleme eher in der Betreuung und Unterstützung der Studierenden, unter anderem bei der Erstellung der Masterarbeiten. Eine der Ursachen dafür ist, dass die neu geschaffenen Stellen im akademischen Mittelbau in der Regel solche mit einer sehr hohen Lehrverpflichtung sind, sprich wissenschaftliche Mitarbeiter*innen mit dem Schwerpunkt Lehre und Lehrkräfte für besondere Aufgaben. Durch die stark gestiegenen Studierendenzahlen und die in der Lehrkräftebildung sehr hohe Dichte von Klausuren und Prüfungen, bleibt dann für die individuelle Betreuung der Studierenden häufig kaum Zeit. Das hat der offene Brief von wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen in der Lehrkräftebildung der Freien Universität von Juni 2021 sehr deutlich aufgezeigt (siehe Link in Marginalspalte).

Das an sich sinnvolle Praxissemester im Masterstudium ist viel zu bürokratisch und zu starr organisiert. Das betrifft unter anderem die Vergabe der Schulplätze, die schlechte Vereinbarkeit von Erwerbs- mit Carearbeit sowie den festen Zeitraum im Wintersemester. Nicht nur durch die Pandemie haben sich die Betreuungsverhältnisse im Praxissemester deutlich verschlechtert.

Und – es fehlt schlicht an ausreichenden Räumen für die Studierenden. Während der Pandemie wurde das durch die Online-Lehre mehr oder weniger verdeckt. Jetzt zeigt sich, wie groß das Problem ist und wie sehr das Lehramtsstudium darunter leidet.

Lehrkräftebildung hat immer noch keine Priorität

Trotz aller Sonntagsreden ist nach wie vor nicht erkennbar, dass der Berliner Senat die Lehrkräftebildung zur Priorität macht. Es ist zu befürchten, dass die Probleme erneut ausgesessen werden. 

Der Lehrkräftebedarf wird weiter deutlich steigen, nicht nur in Berlin und nicht nur wegen der vielen geflüchteten Kinder und Jugendlichen aus dem Kriegsgebiet Ukraine. Die dafür benötigten Lehrkräfte werden nicht von allein kommen.

Wir brauchen eine echte Ausbildungsoffensive. Lehrkräftebildung muss zur Chef*innen-Sache werden. Das Programm »Beste Lehrkräftebildung für Berlin« muss fortgesetzt und ausgebaut werden. Die in der Koalition verabredeten zusätzlichen 10 Millionen Euro für die Lehrkräftebildung müssen für wirksame Maßnahmen zur Erhöhung der Zahl der Lehramtsabsolvent*innen verwendet werden. In den Hochschulverträgen ab 2024 sind konkrete und finanziell abgesicherte Vereinbarungen zur Verbesserung der Studienbedingungen und der Betreuung der Studierenden zu verankern. Dazu gehören die Absenkung der Lehrverpflichtung bei den sogenannten Hochdeputatsstellen und die stärkere Anrechnung der betreuungsintensiven Veranstaltungen in der Lehrkräftebildung. Ein Stipendium für alle Studierenden im Lehramtsmaster könnte dazu beitragen, den Studienerfolg zu erhöhen und Lehrkräfte an Berlin zu binden.

Nicht zuletzt hängt die Entscheidung der Studierenden für oder gegen das Lehramt davon ab, wie attraktiv der Beruf und der Arbeitsplatz Schule ist. Wer im ersten Praktikum im Bachelorstudium mit der aktuellen Schulrealität konfrontiert wird und feststellt, dass alle im Kollegium total überlastet sind, dass das Gebäude marode ist, dass die Klassen aus allen Nähten platzen und nicht mal der Kopierer funktioniert, wird schnell Reißaus nehmen.  

Offener Brief zur Lehrkräftebildung an der FU: Brief

Mehr zu den Forderungen der GEW BERLIN im neuen LDV-Beschluss: LDV-Beschluss 2022

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
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