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bbz 09 / 2019

Lernlust statt Lernfrust

Ein veränderter Blick auf Schüler*innen kann Lehrkräften helfen, ihren Unterricht zu verbessern. Eine Ergotherapeutin und ein Lehrer berichten von ihrem Projekt

Nicht wenige Lehrkräfte an Brennpunktschulen berichten von einer insgesamt eher schlechten Lernatmosphäre in ihren Lerngruppen. Viele Schüler*innen können ihr Verhalten kaum regulieren, sind abgelenkt und stören den Unterricht. Sie sagen in der Regel von sich selbst, dass sie nur wenig motiviert sind und nicht gerne zur Schule gehen. Einerseits liegt das daran, dass sie keine Freude im Unterricht erleben. Andererseits bleiben ihre Lernfortschritte oft nur sehr gering. Dieser Zustand frustriert Schüler-*innen und Lehrkräfte gleichermaßen.

Potenzial von Schüler*innen erkennen

Diese Schilderungen eines Lehrers aus seinem Alltag machten eine Therapeutin neugierig, sie wollte ihn unterstützen. Dazu beobachtete sie das Verhalten von Kindern und Jugendlichen im Unterricht. Ihre Beobachtungen bestätigten zunächst die genannten Schilderungen. Darüber hinaus konnte sie erstaunliche Parallelen zum Verhalten der überwiegend vier- bis sechsjährigen Kinder erkennen, die sie in der Frühförderung betreut. Dies brachte sie zu der anfangs durchaus gewagten These: Die pädagogischen und kommunikativen Maßnahmen, mit denen Kinder im Vorschulalter unterstützt werden, können auch in der Arbeit mit älteren Kindern und Jugendlichen genutzt werden.

Damit war ein gemeinsames Projekt geboren: »Schule in Balance!« Es sollte ein Beratungs- und Fortbildungsprojekt für Lehrkräfte sein, das zum Ziel hat, Lehrkräfte in ihrem Umgang mit verhaltensauffälligen Schüler*innen zu fördern, indem der Blickwinkel des pädagogischen und didaktischen Handelns der Lehrkräfte auf das individuelle Potenzial der Schüler*innen erweitert wird. Dies geschah im Rahmen von Fortbildungsseminaren in kleinen Gruppen, sowie bei Unterrichts-hospitationen mit einer individuellen personenbezogenen Beratung. Im Mittelpunkt der Veränderungen standen dabei die Teilbereiche Verhaltensregulation und Lernmotivation.

Zentral für das Projekt ist die Behauptung, dass sich erst die Lehrkräfte verändern müssen: In ihrem Auftreten, in ihrer Interaktion und darin, wie sie Kindern und Jugendlichen Erfolgserlebnisse verschaffen. Erst dann werden die Kinder sich verändern können. Denn die Voraussetzung für diesen Prozess ist die Entwicklung der dafür notwendigen kognitiven und emotional-sozialen aber auch volitionalen Fähigkeiten, die bei diesen Kindern in der Regel auf Grund ihrer Lernvoraussetzungen noch nicht altersgemäß entwickelt sind.

Der lernpsychologische Ausgangspunkt des Projekts besteht in der Annahme, dass Schüler*innen nur dann erfolgreich am Schulunterricht teilnehmen können, wenn sie in der Lage sind, ihr Verhalten zu regulieren. Dazu bedarf es der Ausprägung so genannter exekutiver Funktionen. Sie sind für den schulischen Erfolg genauso wichtig, wie die Intelligenz. Schüler*innen können beispielsweise nur dann im Unterricht erfolgreich lernen, wenn sie erstens Informationen kurzzeitig speichern und mit den gespeicherten Informationen arbeiten können (Arbeitsgedächtnis), wenn sie sich zweitens auf neue Situationen und Anforderungen schneller und besser einstellen können (kognitive Flexibilität) und wenn sie drittens Impulse kontrollieren, Emotionen steuern und ihre Aufmerksamkeit fokussieren können (Inhibition). Wenn diese Funktionen bei Schüler*innen nur unzureichend ausgebildet sind, dann heißt das, dass der Unterricht und das Verhalten der Lehrkraft an diese Bedingungen angepasst sein müssen. Einerseits muss dabei positiv und verstärkend an das niedrige Niveau der vorhandenen exekutiven Funktionen angeknüpft werden. Anderseits können die exekutiven Funktionen darüber hinaus auch noch explizit weiter ausgebaut werden.

Neuro- und verhaltensbiologische Grundlagen des Lernens beachten

Schüler*innen, die den Unterricht stören oder auch nur teilnahmslos dem Unterricht beiwohnen, beschäftigen sich oft nur mit sich selbst. Die Befriedigung eigener Wünsche steht für sie im Vordergrund. Sie benötigen Anerkennung und wollen wahrgenommen werden. Dies erklärt in der Regel ihr als abweichend angesehenes und für den Unterricht störendes Verhalten.

Daraus folgt, dass diese Schüler*innen attraktive Anreize benötigen, um ihr Verhalten zu verändern. Gleiche Regeln und gleichbleibende Abläufe unterstützen die Kinder und Jugendlichen dabei. Entsprechend des Lernmodells der operanten Konditionierung sollten Lehrkräfte durch ihr pädagogisches Handeln nicht nur unerwünschtes Verhalten unterbinden, sondern mindestens im gleichen Maße, wenn nicht sogar vordergründig, möglichst oft Schüler*innen zu erwünschtem Verhalten verhelfen und dieses positiv verstärken. Die als besonders schwierig wahrgenommenen Schüler*innen kennen positive, lobende und anerkennende Reaktionen auf ihr Verhalten in der Regel nicht von zu Hause. Spielerische Rituale, Anknüpfen an sehr einfache Themen aus dem Alltag der Schüler*innen, Wahlmöglichkeiten für Verhalten, aber auch das Wissen auf Seiten der Schüler*innen darum, dass störendes unsoziales Verhalten unmittelbar Konsequenzen haben wird, sind Beispiele dafür, wie Kinder motiviert werden können.

Aus den Neurowissenschaften ist bekannt, dass erfolgreiches Lernen von den Botenstoffen Serotonin und Dopamin im Gehirn beeinflusst wird. Während Serotonin Emotionen reduziert, körperliche Aktivität fördert und Lern- sowie Gedächtnisprozesse unterstützt, reguliert Dopamin die Motivation dadurch, dass das Erlebte im Belohnungssystem eine positive Bedeutung erhält. Das Belohnungssystem wirkt, wenn etwas neu, gut und besser als erwartet ist. Aus dem Sport ist bekannt, dass Entwicklungen gerade dann möglich sind, wenn die Anforderungen passgerecht steigen, die Übungen Spaß und keinen Stress bereiten, es klare Regeln gibt, mit Geduld und Konsequenz gearbeitet wird und Mitbestimmung gegeben ist.

Erfolg schafft Motivation

Diese neuro- und verhaltensbiologischen Erkenntnisse können Lehrkräfte im Unterricht nutzen und mit didaktischen Grundsätzen verknüpfen. Jede*r Schüler*in kann in jeder Unterrichtsstunde etwas dazulernen, auch wenn nicht alle Schüler*innen die gleichen Lernschritte in der gleichen Zeit vollziehen können. Der bewusste individuelle Lernzuwachs ermöglicht allen Schüler*innen Erfolgserlebnisse, die die Motivation steigern. Die zentrale didaktische Aufgabe für Lehrkräfte besteht demnach darin, die Unterrichtsstunde, das Unterrichtsgespräch und/oder Aufgaben und Materialien so zu gestalten, dass sich jede*r Schüler*in wenigstens einmal in einer Unterrichtsstunde erfolgreich in den gemeinsamen Lerngegenstand einbringen kann. Dadurch kann das Kind etwas Neues dazulernen. Vor allem aber kann es sein Können zeigen und erhält Zuspruch, Lob und Anerkennung. Das Interaktionsverhalten der Schüler*innen kann sich so schrittweise ändern und Unterricht und Schule können eine neue Bedeutung erlangen.

Auch Lehrkräfte können lernen

Das Projekt hat gezeigt, dass Lehrkräfte einen veränderten Blick auf das Verhalten der Schüler*innen, ihre Lernvoraussetzungen und Lernprozesse sowie die pädagogische Interaktion erlernen können. Dazu benötigen sie einen entsprechenden fachlichen Input mit Beispielen und Erläuterungen aus ihrem eigenen Unterricht. Darüber hinaus brauchen sie Handlungs- und Gestaltungsalternativen sowie die Möglichkeit, diese zu erproben. Ein Feedback im Anschluss an eine Unterrichtshospitation hilft Lehrkräften dabei, ihr Verhalten zu verstehen, zu reflektieren, kritisch zu hinterfragen und zu verändern. Das Projekt hat aber auch deutlich gemacht, dass Lehrkräfte auch bereit sein müssen, ihr bisheriges Verhalten und ihren Anspruch zu verändern, wenn sie Veränderungen bei den Schüler*innen bewirken möchten. Diese werden nur dann ihr Verhalten ändern, wenn Lehrkräfte sie zuvor stärker in den Unterricht einbinden, ihnen Erfolgserlebnisse bieten und sie darin unterstützen ihr Verhalten zu regulieren.     

 

Wir bedanken uns für die Unterstützung der Schulleiterin der Carl-von-Ossietzky-Gemeinschaftsschule.