Schwerpunkt „Risse in der Hochschulfassade“
Machtmissbrauch in der Wissenschaft
Machtmissbrauch hat unterschiedliche Facetten. Dabei wird das Problem nicht nur strukturell begünstigt, sondern von den Verantwortlichen oft auch unter den Tisch gekehrt.
In der Öffentlichkeit wird derzeit wieder verstärkt über Fälle von Machtmissbrauch in der Wissenschaft diskutiert. Doch diese Aufmerksamkeit für das Thema darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Machtmissbrauch in der Wissenschaft immer schon weit verbreitet war.
Zudem ist nicht immer eindeutig, was Machtmissbrauch überhaupt bedeutet. In diesem Beitrag wollen wir einen kurzen Überblick über Machtmissbrauch in der Wissenschaft geben und machtkritische Perspektiven auf das Wissenschaftssystem eröffnen. Wir sind uns darüber bewusst, dass wir keine Deutungshoheit beanspruchen können und möchten mit Bedacht für die Vielfalt von Machtmissbrauch in der Wissenschaft sensibilisieren.
Es geht uns nicht um die Abschaffung von Macht im Wissenschaftssystem oder um möglichst »flache Hierarchien«. Macht an sich ist nichts Verwerfliches und notwendig, um Organisationen gut zu führen. Dennoch bedarf es einer kritischen Reflexion bestehender Verhältnisse, auch um das Potenzial für den Missbrauch zu begrenzen. Deshalb stellt sich erst einmal die Frage, wie die vorhandene Macht im Wissenschaftssystem verteilt wird und wie und welche Personen überhaupt mächtig werden können. Daran anknüpfend ist es wichtig zu analysieren, wie Personen mit Macht umgehen.
Die in den Medien aufgegriffenen Fälle von Machtmissbrauch thematisieren vor allem sexualisierte Übergriffe, Gewalt und Diskriminierung. Damit benennen die Medienberichte vor allem die Diskriminierungskategorie Geschlecht und Sexualität als Mittel der Machtausübung.
Sichtbare und unsichtbare Betroffene
Dabei haben andere von Diskriminierungen betroffene Personen wie beispielsweise Black, Indigenous, and People of Color (BIPoC), Menschen mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen oder Menschen, die aufgrund ihres sozialen Status diskriminiert werden, diese mediale Aufmerksamkeit nicht. Zudem können verschiedene Diskriminierungskategorien miteinander verschränkt sein (Intersektionalität), was besondere Betroffenheit mit sich bringt.
Es ist zweifelsohne wichtig, dass sexualisierte Diskriminierung sichtbar gemacht wird. Es stellt sich aber die Frage, wieso andere Diskriminierungskategorien nicht sichtbar werden oder unsichtbar gemacht werden. Begünstigt wird das durch die institutionell verankerte geschlechtsbezogene Gleichstellungsarbeit in der Wissenschaft. Dadurch wird ein weiß-zentriertes Verständnis von Gleichstellung umgesetzt, das andere Diskriminierungskategorien und -strukturen ausklammert.
Universitäre Strukturen begünstigen Machtmissbrauch
Um Machtmissbrauch allgemeiner zu bestimmen, arbeiten wir mit einer Minimaldefinition, die mit verschiedenen Besonderheiten des Wissenschaftssystems verschränkt ist.
Machtmissbrauch ist demnach der Gebrauch oder Missbrauch der eigenen Machtposition, durch den andere Personen geschädigt, ausgeschlossen und/oder benachteiligt werden, um möglicherweise sich selbst oder andere ungerechtfertigt zu begünstigen.
Aus dieser Minimaldefinition ergeben sich viele mögliche Verschränkungen mit den Besonderheiten des Wissenschaftssystems wie zum Beispiel den Anforderungen guter wissenschaftlicher Praxis, prekären Beschäftigungsbedingungen, multiplen Abhängigkeiten etc.
Diese Themen verdeutlichen, dass Machtmissbrauch durch universitäre Strukturen begünstigt wird. Das heißt aber nicht, dass Individuen nicht für ihr Handeln verantwortlich wären. Es sind nicht die Strukturen, sondern Menschen, die Macht missbrauchen.
Das Narrativ vom Einzelfall
Das deutsche Wissenschaftssystem ist von extremen Abhängigkeiten geprägt. So entscheiden Vorgesetzte über Ausgestaltung und Dauer des Arbeitsvertrags, betreuen die alltägliche Arbeit sowie Weiterqualifikation und bewerten Qualifikationsarbeiten.
So eine Ansammlung von Funktionen bei einer Person birgt ein besonders hohes Potenzial für Machtmissbrauch. Gleichzeitig ermöglichen es kurze und befristete Arbeitsverträge, sich ohne Begründung Mitarbeiter*innen zu entledigen. Zudem kommt erschwerend hinzu, dass Wissenschaftler*innen in Führungspositionen (Professor*innen) gut in ihren Forschungsfeldern vernetzt sind und so versuchen, ihren Einfluss auszuweiten oder aber damit drohen, die Karriere negativ zu beeinflussen.
Fälle in der eigenen Organisation sind oftmals nicht bekannt. So wird das Narrativ des bedauernswerten Einzelfalls immer wieder reproduziert, Betroffene werden systematisch vereinzelt. Erhebungen über Machtmissbrauch in der Wissenschaft liegen nur für wenige Hochschulen und Forschungseinrichtungen vor und berücksichtigen nur bestimmte Statusgruppen. Dieser Umstand erschwert es, das Narrativ vom Einzelfall zu entkräften. Gleichzeitig wird dies gerne als Argument dafür genutzt, dass keine Gegenmaßnahmen von Seiten der Institution ergriffen werden, da es sich nicht um ein weitverbreitetes Problem handeln würde.
Aus unserer Tätigkeit im Netzwerk gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft e. V. (kurz: MaWi) sind uns verschiedene Erscheinungsformen bekannt, wie beispielsweise rassistische Diskriminierung, Mobbing, Be- oder Verhinderung von Vertragsverlängerungen, Nötigung zur Datenfälschung, Forderung unbezahlter Mehrarbeit, Unterdrückung und Ausschluss internationaler Studierender und Forschender. Diese Erscheinungsformen sind unterschiedlich weit verbreitet, bekannt und betreffen nicht alle Statusgruppen gleichermaßen. Daran wird deutlich, wie divers und gravierend die Konsequenzen von Machtmissbrauch sein können.
Anlaufstellen für Betroffene werden selten genutzt
Aus unserer Erfahrung werden Betroffene von Machtmissbrauch an viele verschiedenen Stellen wie Gleichstellungsbeauftragte, Ombudsstellen, Personalrat und andere Beratungseinheiten verwiesen. Beschwerden und Beschwerdeverfahren werden im Sinne der Selbstkontrolle der Wissenschaft an der Organisation geführt, der sowohl Täter*in als auch Betroffene*r angehören.
Aus Sorge vor Vergeltung, mangelnder Vertraulichkeit, weil die Stellen unbekannt sind oder Beschwerderichtlinien fehlen, wenden sich viele Betroffene nicht dorthin. Darüber hinaus wird Fehlverhalten oft gar nicht oder nur geringfügig sanktioniert. Dabei hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) Machtmissbrauch als wissenschaftliches Fehlverhalten anerkannt. Deshalb müssen alle Forschungseinrichtungen, die Fördermittel von der DFG beziehen möchten, unter anderem Ombudspersonen ernennen, die Ansprechpartner*innen für Fehlverhalten und gute wissenschaftliche Praxis sind. Allerdings stellt auch hier die institutionelle Einbindung der Ombudspersonen ein Hindernis für Betroffene dar.
Zusammenfassend ist Machtmissbrauch in der Wissenschaft ein weitverbreitetes Phänomen, das sich durch verschiedene Querschnittsdimensionen und unterschiedliche Erscheinungsformen auszeichnet. Machtmissbrauch wird durch die Strukturen des Wissenschaftssystems begünstigt. Um Machtmissbrauch angemessen entgegenzuwirken, ihn zu verhindern und zu sanktionieren, müssen diese Strukturen verändert werden. Unserer Erfahrung nach ist die dafür notwendige Veränderungsbereitschaft aktuell nur sehr begrenzt vorhanden.