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30 Jahre Kita-Streik

Märchen und Mythen

Durch eine beispielhafte Mobilisierung konnten die Gewerkschaften den Organisationsgrad der Erzieher*innen erhöhen und den Streik zuspitzen.

Foto: GEW BERLIN

Seit dem ersten Warnstreik 1979 wurde gewerkschaftsintern und in der Fachöffentlichkeit eine intensive Debatte um Qualitätsstandards, angemessene Eingruppierung im Vergleich zu männerdominierten Berufen und Arbeitsbedingungen im Kitabereich zielorientiert geführt. Der Organisationsgrad der Erzieher*innen lag anfangs bei gerade mal 20 Prozent, in den zuständigen DGB-Gewerkschaften GEW und ÖTV (heute ver.di) zusammengenommen. Die gemeinsame Einschätzung war, dass dies keine ausreichende Basis für einen schwierigen Arbeitskampf darstellte. Erstes Ziel war somit, den Organisationsgrad zu erhöhen. Dies gelang unter anderem durch Öffentlichkeits- und Bündnisarbeit, Seminare und Veranstaltungen.

Im November 1989 waren 90 Prozent der Erzieher-*innen gewerkschaftlich organisiert. Trotz der einigungsbedingten Wirren war die Entscheidung, die Tarifauseinandersetzung jetzt zuzuspitzen, auch aus heutiger Sicht richtig, vor allem vor dem Hintergrund der erfolgreichen Organisationsarbeit. Vorbereitung, Durchführung und öffentliche Begleitung des Arbeitskampfes waren gut geplant. Dass es trotz eines geschlossenen Arbeitskampfes nicht zu einem Abschluss kam, lag nicht an organisatorischen Fehlern der Gewerkschaften, sondern an politischen Blockaden auf Seiten der SPD, die so nicht zu erwarten waren.

Der Forderungsbeschluss von GEW und ÖTV unterschied sich von den üblichen Streikforderungen. Im Kern ging es um die Qualität der pädagogischen Arbeit. Es war die Forderung, die Gruppengrößen zu tarifieren, die die Blockadehaltung auf Seiten der Arbeitgeber auslöste. Damit greife man in das Budgetrecht des Parlamentes ein. Eine Argumentation, die bis heute trotz eindeutiger abweichender Gerichtsentscheidungen herhalten muss. Durch Tarifierung der Gruppengröße wäre in der Tat der Personalschlüssel nicht mehr einseitig zum Nachteil der Beschäftigten veränderbar gewesen, was das Budgetrecht des Parlamentes berührt. Das tut übrigens jeder Tarifvertrag im öffentlichen Dienst, ob zur Arbeitszeit, zur Lohnhöhe oder Eingruppierung. Innerhalb der »alten Arbeiterpartei« SPD führte Mompers unnachgiebige Haltung zu Widerstand.

Durch öffentliche Veranstaltungen, Pressekonferenzen, Hintergrundgespräche mit Journalist*innen, Gespräche mit Parteien (außer Republikanern), mit Eltern- und Schüler*innenvertretungen, Artikeln sowohl in der Gewerkschaftspresse als auch in Fachzeitschriften, durch Seminare zu Tarifrecht und Streikorganisation wurde die öffentliche Meinung nachhaltig geprägt. Die Ziele, die die Streikenden verfolgten, waren überall bekannt und als am Kindeswohl orientiert hoch geschätzt. Auch SPD und die Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz (AL, heute Die Grünen) hatten, allerdings bevor sie überraschend an die Regierung kamen, diese Ziele durch Beschlüsse unterstützt. Die flankierende Öffentlichkeitsarbeit war von größter Bedeutung, weil durch Streiks in diesem Bereich kein ökonomischer Druck erzeugt werden konnte. Auf einer der letzten Streikversammlungen fasste Norbert Hocke die gemachte Erfahrung zusammen: »Ein nicht geleerter Mülleimer entfaltet mehr Druck auf die SPD als 45.000 nicht betreute Kinder!«

Die Berliner Elternvertretungen unterstützten bis zum Schluss die Streikenden, obwohl sie die stärksten Belastungen aushalten mussten. Auch die Presse war überwiegend auf Seiten der Streikenden.

Großen Wert legte die GEW auf schnelle und authentische Information auch als Gegengewicht zur nicht immer freundlichen Berliner Presse. Jede Woche erschienen zwei vierseitige Streikzeitungen im DIN-A 4 Format – in der Regel Dienstag und Freitag. Berichte von Betroffenen, Soliadressen, Beschlüsse der wöchentlichen Streikvollversammlungen, Presseerklärungen und Schreiben von Senator*innen wurden schnell unters Streikvolk gebracht. Damit konnte sichergestellt werden, dass Fake News keine Chance hatten. Außerdem konnte so über die vielfältigen und originellen Streikaktionen berichtet werden.

Am 27. März endete der Streik durch Beschluss der gemeinsamen Tarifkommission von GEW und ÖTV. Beide Gewerkschaften betonten, dass für sie der Kampf damit nicht zu Ende sei, auch wenn die aktuelle Auseinandersetzung verloren war. Schon im Mai fand erneut ein Warnstreik statt. Im November 1990 zerbrach die SPD/AL Koalition und bei den Neuwahlen im Dezember 1990 gewann die CDU, Eberhard Diepgen wurde wieder Regierender Bürgermeister. Diepgen ließ sich durchaus an den CDU-Beschluss vom März 1990 erinnern und nahm Verhandlungen mit GEW und ÖTV auf. Erst 1992 kam es schließlich zum Abschluss eines stark abgespeckten Tarifvertrages, aber erstmals wurde der Anspruch auf Qualifizierung und der Anteil der mittelbaren pädagogischen Arbeit tariflich geregelt.

Es gehört in die Welt der Legenden, dass der noch heute bestehende Organisationsstreit um die Zuständigkeit im Sozial- und Erziehungsdienst zwischen GEW und ver.di durch den Berliner Streik ausgelöst wurde. Schon vor 1980 gab es Versuche, die bestehenden Überschneidungen aufzulösen, bis heute ohne Erfolg. Dazu muss man wissen, dass die GEW Gründungsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) war und die Zuständigkeit für den gesamten Bereich der Bildung und Erziehung hatte. Erst zwei Jahre später trat die ÖTV dem DGB bei und beanspruchte ebenfalls den Erziehungsbereich. Bis zur Gründung von ver.di wurde stets betont, dass die doppelte Zuständigkeit zur Zusammenarbeit zwinge und niemand die Zuständigkeit der GEW in Zweifel ziehe.

Es wird immer wieder gerne kolportiert, die Koalition von SPD und AL sei wegen des Kitastreiks geplatzt. Der Kitastreik war ein Baustein in einer Serie von Streitereien zwischen den beiden Regierungsparteien, die beide unvorbereitet in die Koalition stolperten. Schon ab dem Spätsommer 1989 häuften sich »Missverständnisse« zwischen SPD und AL. Die Basis der AL stand auf der Seite der Streikenden, ihre Senator*innen konnten sich aber im Senat nicht durchsetzen. Anlass, nicht Ursache, für den Koalitionsbruch war die Räumung eines besetzten Hauses mit massivem Polizeieinsatz am 14. November 1990, worüber die AL vorab nicht informiert wurde und ihr wurde verwehrt, vermittelnd einzugreifen. Am 15. November kündigte die AL die Koalition, am 19. November traten die Senator*innen zurück.

Bis heute streiten sich die Geister, ob dieser Arbeitskampf Trauma oder Held*innenepos gewesen sei. Fakt ist, dass ohne diesen Streik die weitere Entwicklung hin zu eigenständiger Tarifarbeit im Bereich des Sozial- und Erziehungsdienstes nicht möglich gewesen wäre. Bis dahin galten Streiks in kleinen Einrichtungen als nicht organisierbar. Streiks wurden traditionell vom Müll- und Verkehrsbereich getragen. Das ist heute anders. Der Sozial- und Erziehungsdienst ist eine der zuverlässigsten Stützen bei Streiks geworden. Ohne den Aufbruch 1990 wären die großen und erfolgreichen Tarifauseinandersetzungen 2009 und 2015, die zu erheblichen Eingruppierungsverbesserungen in einem eigenen Tarifvertrag führten, nicht denkbar gewesen.

Zwar gab es 1990 keinen unmittelbaren Erfolg, was immer frustrierend ist, aber langfristig hat es zum Aufwachen einer großen und wichtigen Berufsgruppe geführt. Deshalb eher Held*innenepos als Trauma!

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Privat:  030 / 219993-46