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Kinder,- Jugendhilfe und Sozialarbeit

Mehr Teilhabe gibt es nicht umsonst

Was es bräuchte, damit das Bundesteilhabegesetz und das Teilhabeinstrument Berlin gut umgesetzt werden können.

Foto: Bertolt Prächt

Wenn ich bis vor Kurzem meine Aufgaben als Sozialarbeiterin im Regionalen Sozialpädagogischen Dienst (RSD) des Jugendamtes in Berlin Mitte beschreiben sollte, fielen mir zuerst das Wächteramt, also die Wahrung des Kinderschutzes, die Mitwirkung an familiengerichtlichen Verfahren und die Vermittlung von Hilfen zur Erziehung ein. Die Zuordnung zum §35a des Sozialgesetzbuches VIII (SGB), der sich dem Recht junger Menschen mit seelischer Behinderung auf Eingliederungshilfe widmet, spielte eher am Rande eine Rolle. In Berlin-Wedding ist eine vollzeitbeschäftigte Fachkraft für etwa 90 Familien mit oft mehreren Kindern zuständig. Das ist viel mehr als fachliche Standards vorsehen und lässt sich auch bei strikter Abgrenzung, guter Organisation und Priorisierung nicht bewältigen.

Seit 2020 sieht das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung (BTHG) unter anderem neue Verfahren für den §35a SGB VIII vor. Das Jugendamt wurde damit zum Rehabilitationsträger. Die Intention dahinter ist, die Teilhabe der betroffenen Kinder und ihre individuellen Wünsche und Ziele in den Vordergrund zu rücken, um somit endlich die Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderung zu fördern. Ein längst überfälliger Schritt. Schließlich war bereits 1994 im Grundgesetz festgelegt worden, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Bei aller Sympathie für diesen Schritt bezweifle ich, dass die praktische Umsetzung auch nur ansatzweise den Ansprüchen der ideengebenden UN-Behindertenrechtskonvention gerecht werden wird.

Das neue Gesetz bringt für die RSD-Mitarbeiter*innen nicht nur neue Dienstanweisungen, Methoden, Instrumente und Abläufe, sondern setzt auch eine veränderte Sichtweise auf betroffene Kinder voraus. Angesichts der jahrelang verfestigten Misere in den Jugendämtern und den pandemiebedingt stark gestiegenen Zahlen von Kinderschutzfällen ist nicht viel Fantasie nötig, um sich die Verzweiflung bei allen Kolleg*innen vorzustellen, die ihre Arbeit engagiert und gewissenhaft erledigen wollen.

Individuelle Maßnahmen brauchen Zeit und Ressourcen

Das sogenannte Teilhabeinstrument Berlin (TIB), das ab Herbst 2021 verpflichtend eingesetzt werden muss, orientiert sich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit für Kinder und Jugendliche (ICF-CY). Damit können die bio-psycho-sozialen Aspekte von Krankheitsfolgen unter Berücksichtigung der Kontextfaktoren systematisch erfasst werden. Andere Rehaträger wie Krankenversicherungen und Sozialämter sollen in die Hilfeplanung einbezogen werden. Dabei werden vertiefte Kenntnisse über diverse Angebote im Sozialraum vorausgesetzt, damit die Maßnahmen individuell sowie lösungs- und ressourcenorientiert auf das Kind zugeschnitten werden können. Das benötigt sehr viel Zeit für vertrauensvolle Gespräche, Hospitationen, Kooperationen, Hilfekonferenzen. Insbesondere Kinder mit seelischen Behinderungen benötigen oft lange, um sich auf fremde Menschen einzulassen und ihre Bedürfnisse auszudrücken.

Anträge auf Teilhabe müssen innerhalb von 14 Tagen geprüft und eventuell weitergeleitet werden. Hierzu sind Kenntnisse über weitere Sozialgesetze und deren Umsetzung notwendig. Probleme bei der Zuständigkeitsklärung wird es durch die vielen Schnittstellen zu anderen Rehaträgern, beispielsweise bei Kindern mit Mehrfachbehinderungen, immer wieder geben.

Es sind also umfassende Fortbildungen notwendig. Und wir haben dann immer noch keine Zeit, um die Vorgaben des Bundesteilhabegesetzes gewissenhaft umzusetzen.

Kinderschutz kostet Geld

Wenn Kinderrechte und Kinderschutz nichts kosten dürfen, bringen die besten Ideen und Gesetze nichts. Das ist nicht nur aus sozialer Sicht bedauerlich, sondern auch finanziell kurzsichtig. Denn wenn Kinder heute bestmöglich auf ein selbstbestimmtes und selbstständiges Erwachsenenleben vorbereitet werden, benötigen sie später weniger oder keine Unterstützung durch den Staat.          

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46