Schwerpunkt „Perspektiven schaffen – wie weiter nach der zehnten Klasse?“
Mehr Zeit für Orientierung
Die Entscheidung, wie es nach der 10. Klasse weitergeht, hat weitreichende Konsequenzen für Schüler*innen. Ein Jahr mehr Zeit für sie zur Entwicklung von validen Perspektiven könnte auch zu mehr Chancengleichheit führen.
Ein 11. Schulbesuchsjahr soll für alle Schüler*innen ab Sommer 2025 verpflichtend werden. Für viele Schüler*innen, die das Gymnasium oder die Berufsschule besuchen, ist es das bereits jetzt. Wozu die Ausweitung auf alle und welche Chancen stecken in der Idee?
Das Berliner Schulgesetz beschreibt die Bildungs- und Erziehungsziele der Schule. Schüler*innen sollen in die Lage versetzt werden, »ihre Entscheidungen selbständig zu treffen und selbständig weiterzulernen, um berufliche und persönliche Entwicklungsaufgaben zu bewältigen«. Sie sollen dazu fähig sein, »das eigene Leben aktiv zu gestalten«, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen und »die Zukunft der Gesellschaft mitzuformen.«
Diese Erziehungsziele der Schule gehen einher mit der Entwicklung und Reifung der Schüler*innen in ihrer sozialen Umgebung. Das braucht Zeit und ist von mehreren Entscheidungen geprägt, die auf das Ziel erheblichen Einfluss haben. Diese Entscheidungen der Eltern und Schüler*innen im Laufe des Schulbesuchs müssen begründet und damit belastbar sein, damit sie nachhaltig sind. Grundlegend für diese Entscheidungen ist eine Orientierung, wie der weitere Weg ins Leben aussehen soll. Diese Orientierung sollte auf einer fundierten Analyse der eigenen Talente beruhen und mit eigenen Erfahrungen untermauert sein.
Gymnasiast*innen sind klar im Vorteil
Nach der Entscheidung über den weiteren Schulbesuch nach Klasse 6 steht in Klasse 10 die nächste Entscheidung mit großer Tragweite an: Wählen die Jugendlichen eine berufliche Ausbildung oder den Besuch eines Gymnasiums mit anschließendem Studium oder vielleicht zunächst auch noch ein soziales Jahr?
Mit dieser Wahl wird auch beschlossen, wie viel Zeit den Jugendlichen für ihren weiteren Entwicklungsprozess zur Verfügung steht. Gymnasiast*innen haben einen klaren Vorteil: Der Besuch der gymnasialen Oberstufe verschafft Zeit zum Erwachsen(er)werden, sich ausprobieren, sich orientieren, um Perspektiven zu entwickeln. Kursfahrten unterstützen den Prozess. Einige Gymnasiast*innen nehmen sich nach dem Abitur ein Gap-Year und selbst ein Studienfach lässt sich relativ leicht wechseln.
Anders ist die Situation für die weniger gut aufgestellten Schüler*innen: Von ihnen wird der schnelle Entschluss für eine Berufsausbildung erwartet, die wegen des Ausbildungsvertrags stärker bindend, deutlich weniger flexibel und so von größerer Tragweite ist.
Ein längerer verbindlicher Schulbesuch für alle Schüler*innen würde, wenn er denn sinnvoll organisiert ist, den Unterschied bei den Bildungswegen in punkto der zur Verfügung stehenden Entwicklungszeit verringern und so einen Beitrag zu mehr Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit leisten. Dieses mehr an Zeit muss jedoch gut geplant und genutzt werden.
Klassen 1 bis 11 anders organisieren
Damit steht die Organisation der gesamten Bildungskette von Klasse 1 bis 11 zur Disposition. Es ist nicht hilfreich, wenn die Organisation von Klasse 1 bis 10 weiterläuft wie bisher und lediglich in Klasse 11 die »Dropouts« eingefangen und auf den »richtigen Weg« gebracht werden – sofern das überhaupt möglich ist.
Wichtiger wäre es, die Bedürfnisse der Schüler*innen nicht nur im Bereich der theoretischen Fertigkeiten und Kompetenzen zu entwickeln, sondern auch gleichwertige Angebote zur Entwicklung praktischer Fähigkeiten einzuführen, die über das bisherige Fach Wirtschaft-Arbeit-Technik (WAT) deutlich hinausgehen. Ohne die bisherige Abwertung praktischer und handwerklicher Kompetenzen würden sich sicherlich mehr Schüler*innen im Angebot Schule wiederfinden.
Bei Befragungen in verschiedenen Schulformen bis Klasse 10 zeigt sich ein ähnliches Bild von fehlender Perspektive und Orientierung. Die Bildungsgänge unterscheiden sich jedoch: Wer noch mindesten drei Jahre Zeit hat, kann sehr viel gelassener in die Entscheidungsvorbereitung gehen, als eine Person, von der erwartet wird, nach Klasse 10 eine duale Ausbildung zu beginnen.
Es muss das Ziel sein, in den Klassen 1 bis 10 aller Schulformen solche Angebote breit auszubauen, welche die Entscheidungsfähigkeit für die weitere Entwicklungsperspektive belastbar fördern. Erst dann würde ein ergänzendes Angebot in Klasse 11 – wie die geplante Integrierte Berufsausbildungsorientierung Praxis (IBA Praxis) – Sinn ergeben.
Es braucht zudem eine klare Übereinkunft, mit welchen Perspektiven die Schüler*innen in die nächste Stufe übergehen und welche Kompetenzen sie dafür erworben haben müssen oder nachträglich erwerben sollen.
Die bisher bekannten Pläne zur Ausgestaltung des 11. Schuljahres scheinen diese Überlegungen leider nicht zu berücksichtigen und nur auf eine Versorgung der bisherigen »Dropouts« abzuzielen. Das grundsätzliche Problem der mangelnden Erfüllung des Schulgesetzes wird so nicht gelöst.