Gewerkschaft
Mehr Zeit für's Miteinander
Martina Regulin kommt aus der Wissenschaft und ist seit Juni neue Landesvorsitzende der GEW. Im Interview spricht sie über ihre Erwartungen an die Politik und skizziert Schwerpunkte ihrer Arbeit.
bbz: Liebe Martina, nach deiner Wahl im Juni hast du gesagt, dein wichtigstes Anliegen als GEW-Landesvorsitzende ist es, dich dafür einzusetzen, die Ungerechtigkeiten im Bildungssystem aufzuholen, die während der Pandemie noch größer geworden sind.
Regulin: Ein mir sehr wichtiges Thema ist die Ausgrenzung und Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen auf Grund von Armut. Darüber wird mir zu wenig gesprochen. Was brauchen Familien, die in einer kleinen Wohnung leben, in der der Platz zum Lernen fehlt oder kein W-Lan vorhanden ist? Gerade in Corona--Zeiten; wenn zum Beispiel über das Distanzlernen gesprochen wurde. Wir gehen oft von Verhältnissen aus, in denen eine Kleinfamilie mit zwei Kindern in drei bis vier Zimmern lebt. Eltern, die sich kümmern können. Wir haben nicht die Eltern im Blick, die prekäre und schlecht bezahlte Jobs haben, vielleicht im Schichtdienst arbeiten, tagsüber schlafen müssen und ihre Kinder rausschicken, weil einfach Ruhe in der Wohnung sein muss.
Wie können wir zum Abbau der Ungerechtigkeiten beitragen?
Regulin: Ganztagsschulen sind ein wichtiger Schritt, der die Familien entlastet und wichtige pädagogische Möglichkeiten eröffnet. Ein Thema ist aber natürlich auch die Digitalisierung. Wir brauchen eine flächendeckende Ausstattung mit Geräten, Programmen und technischem Support für Lehrkräfte und Schüler*innen. Die Zugänge zu Technik, digitalem Lernen und die Lernvoraussetzungen sind sehr unterschiedlich. Wir müssen diese Unterschiede zusammenbringen und uns Zeit lassen, voneinander zu lernen.
Bleiben wir mal beim Ganztag. Wie bekommen wir mehr Qualität in die Einrichtungen?
Regulin: Wir müssen im Ganztag die Qualität der Ausbildung im Blick behalten und die Rahmenbedingungen der Arbeit müssen stimmen. Wenn wir gute Leute wollen, brauchen wir eine finanzielle und personelle Ausstattung, die gute Arbeit ermöglicht. Es gibt viele engagierte Quereinsteigende, die gnadenlos überfordert werden, weil ihnen Sachen zugemutet werden, die sie noch gar nicht wuppen können. Viele verlieren wir dann wieder, was den Fachkräftemangel weiter verstärkt.
Wir müssen den Kolleg*innen in den Schulen und Kitas zudem mehr Zeit geben, sich miteinander zu vernetzen und sich gegenseitig zu stärken – miteinander auch mal Dinge auszudiskutieren oder in einer anderen Gruppe zu hospitieren. Fachkräftemangel hin oder her, Qualität bekommen wir nur, wenn wir uns die Zeit nehmen, auch Qualität aufzubauen.
Wo soll die Zeit für Vor- und Nachbereitung und Teamarbeit herkommen?
Regulin: Wir brauchen mehr Personal. Und wir brauchen multiprofessionelle Teams. Schule besteht nicht nur aus Lehrkräften, sondern Schule besteht aus Erzieher*innen, aus den Sekretariaten, aus dem Hausmeister, aus den Reinigungskräften, dem Schulcatering. Das ist alles Schule, das ist eine Gemeinschaft, die miteinander den Kindern einen Raum schafft, sich Bildung zu erarbeiten.
Was kann denn die GEW an dieser Stelle tun? Und was kannst du mit der GEW tun?
Regulin: Mir ist es ist es wichtig, mit unseren Mitgliedern zu schauen, was vor Ort gebraucht wird und dann Druck zu machen. Zum Beispiel klarzumachen, dass multiprofessionelle Teams Entlastung bringen. Dass kleinere Klassen Entlastung bringen. Das gehen wir mit unserem Tarifvorhaben Gesundheitsschutz an. Das ist ein dickes Brett und wird lange dauern, aber nur so wird es eine Veränderung geben.
Während wir sprechen, sind es nur wenige Tage zur Wahl. Wenn diese Ausgabe erscheint, gibt es vielleicht schon eine neue Koalition. Was erwartest du vom neuen Bildungssenator oder der neuen Bildungssenatorin?
Regulin: Ich erwarte, dass sie oder er sich mit uns und anderen Beteiligten trifft. Sie muss die Situation vor Ort kennen, wissen, was im Schulamt los ist, bei der Lehrkräfteausbildung, bei den Quereinsteigenden. Mir ist wichtig, dass sie Fragen stellt, zuhört und nicht meint, alles zu wissen. Im Übrigen versuche ich es selbst genauso zu halten. Auch ich habe in der GEW ja viele neue Themen zu verantworten.
Du warst bisher in der Wissenschaft zuhause. Von 2018 bis 2021 hast du unseren Vorstandsbereich Hochschule und Lehrer*innenbildung geleitet. Wie willst du als Vorsitzende dem Bereich Wissenschaft in der GEW zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen?
Regulin: Ein Problem ist, dass es eben nicht DIE Wissenschaft gibt. Wir haben an der Hochschule vielfältige Mitgliedergruppen, die wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen, Mitarbeiter*innen in Service, Technik und Verwaltung und Professor*innen. Dieser Bereich ist schwierig zu organisieren, weil die meisten einfach prekär beschäftigt sind und immer nur Zeitverträge haben. Mit Laura Haßler, die im neu gewählten GEW-Vorstand für Hochschule zuständig ist, und Maren Söder, die die Lehrkräftebildung vertritt, will ich neue Perspektiven für diesen Bereich entwickeln. Die beiden haben die AG Lehrkräftebildung reaktiviert, denn in Bezug auf Lehrkräftebildung an den Hochschulen wird es viel zu tun geben. Ich hoffe, dass die Hochschule in der GEW sichtbarer wird, wenn sich die Kolleg*innen engagieren und einbringen können.
Es gibt ja Erfolgsbeispiele wie #ichbinhanna oder die GEW-Kampagne Dauerstellen für Daueraufgaben. Müssen wir mehr in solchen Projekten denken, um auf konkrete Defizite hinzuweisen und Kolleg*innen für Gewerkschaftsarbeit zu aktivieren?
Regulin: Einerseits ja und andererseits nein. Ja, natürlich, weil #ichbinhanna viel Öffentlichkeit für wissenschaftliche Mitarbeiter*innen geschaffen hat. Sie konnten sagen, wie sie beschäftigt sind und wie es sich anfühlt, sich von einer Stelle zur nächsten zu hangeln, und wie lange das auch dauert. Es ist ja nicht so, dass es mal drei Jahre sind und dann hat man eine feste Stelle, sondern dass es eben 10 bis 15 Jahre so laufen kann. Manchmal sogar 20. Aber wir müssen aufpassen, dass niemand hinten runterfällt. Bei #ichbinhanna liegt der Fokus auf den wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen, aber die Mitarbeiter*innen in Technik und Verwaltung dürfen wir dabei nicht vergessen.
Du warst bisher an der Freien Universität im Bereich Qualitätssicherung und Akkreditierung für Studium und Lehre tätig. Was nimmst du aus deinem Beruf an Ideen und Erfahrungen mit in deine neue GEW-Funktion?
Regulin: Die Akkreditierung hat etwas mit Mindeststandards zu tun, die eingehalten werden müssen in Studium und Lehre. In der Qualitätssicherung geht es darum, zu schauen, ob und wie die Studierenden durchs Studium kommen. Wir machen das an der Universität viel mit Kennzahlen, evaluieren, schauen uns Statistiken an. Das ist eine Grundlage, die ich mitnehme. Ein Beispiel aus der GEW-Arbeit sind Befragungen unserer Mitglieder. Wir sehen beim Tarifprojekt TV Gesundheitsschutz, was Gutes entstehen kann, wenn wir hören, was die Mitglieder uns zu sagen haben. Das macht viel Aufwand, lohnt sich aber unbedingt!
Die GEW BERLIN fordert eine Ausbildungsoffensive in der Lehrkräftebildung, um die 2.000 bis 3.000 Lehrkräfte auszubilden, die das Land Berlin jedes Jahr einstellt. Die Studienplätze wurden bereits deutlich ausgebaut, aber die Absolvent*innenzahlen liegen noch immer weit unter dem, was nötig ist. Was müssen die Hochschulen besser machen?
Regulin: Wir brauchen noch mehr Studienplätze, gerade im Grundschullehramt. Es werden viele Interessierte abgelehnt, weil der Platz fehlt. Und die Strukturen müssen mit den Studienplätzen erweitert werden. Wir sprechen über Strukturen in den Lehramtsstudiengängen, die für circa 60 Leute geschaffen sind. Jetzt studieren da 300 Menschen. Da verstehe ich schon, dass das nicht klappen kann. Wichtig ist, dass nicht nur an die Studierenden und die Räume und die Lehrenden gedacht wird, sondern auch an die Verwaltung. Da muss jemand die Lehrplanung machen, die Kurse, jemand muss die Zeugnisse ausstellen und die Noten eintragen, dafür brauchen die Hochschulen Personal.
Reden wir abschließend nochmal über die GEW. Wie, denkst du, muss sich die GEW ändern, um Mitglieder in bisher vernachlässigten Bereichen besser zu organisieren? Was können wir machen, damit sich mehr Mitglieder aktiv in der GEW einbringen?
Regulin: Die GEW ist eine Mitmachgewerkschaft. Wir brauchen aktive Kolleg*innen, die Treffen oder Aktionen organisieren und ihre Themen einbringen. Wir schaffen da Veränderung, wo wir Kolleg*innen vor Ort haben, die sich engagieren. Aber wir müssen auch Mitgliedern eine Chance geben, aktiv zu werden, die keine Zeit haben, sich vollständig in unsere Strukturen einzufinden. Die keine Zeit haben im Landesvorstand zu sein oder zwei Tage im Halbjahr auf der Landesdelegiertenversammlung zu sitzen, weil sie dafür nicht frei bekommen. Und das geht den Leuten aus den Hochschulen ähnlich wie denen, die bei freien Trägern beschäftigt sind. Wir brauchen Möglichkeiten, sich projektbezogen zu engagieren, konkrete Forderungen für einzelne Bereiche zu entwickeln oder einen Workshop mitzumachen, aus dem dann eine Protestaktion entsteht.
Also sind wir wieder bei Aktionen wie #ichbinhanna…
Regulin: Es gibt nicht nur eine Lösung und wenn ich nicht »die Idee« habe, haben vielleicht andere sie. Deswegen ist es wichtig, dass wir miteinander ins Gespräch kommen. Wir müssen miteinander reden, um die Lösung zu erarbeiten.