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bbz 09 / 2018

Berufliche Bildung bringt´s

Die Berliner Regierung hat sich das Ziel gesetzt, die Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung voranzutreiben. Dafür braucht es einen tiefgreifenden Mentalitätswechsel.

Foto: Viacheslav Iakobchuk / Fotolia

Seit über anderthalb Jahren ist die rot-rot-grüne Koalition im Amt. Wie ihre schwarz-rote Vorgängerregierung will sie die Stärkung der beruflichen Bildung vorantreiben. In ihrer Koalitionsvereinbarung bekennt sie sich zur »Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung«. Eine Gleichwertigkeit, die vor 15 Jahren mit der Einführung des Mittleren Schulabschlusses (MSA) allerdings bewusst aufgegeben worden war.

Bis zum Schuljahr 2003/2004 war es in Berlin möglich, den Realschulabschluss, also den früheren MSA, auch aufgrund der Leistungen in beruflichen Fächern, also mit eher praktischen Fähigkeiten, zu erwerben. Wer Probleme mit Deutsch, Mathematik und Englisch hatte, konnte es trotzdem mit beruflichen Fachrichtungen schaffen. Heute erreichen eine große Zahl von Schüler*innen den für sie sehr bedeutsamen Mittleren Schulabschluss aufgrund ihrer Leistungen in allgemeinbildenden Fächern. Es waren nicht zuletzt die Unternehmen, die einen einheitlichen, von den Anforderungen her vergleichbaren Abschluss verlangten, und sicherlich gibt es gute Gründe für den MSA. Eine Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung kommt darin jedoch nicht zum Ausdruck. Es fehlt die Wertschätzung praktischer Kompetenzen. In den Köpfen der Jugendlichen, der Eltern und vieler Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft hat sich festgesetzt, dass persönliches Fortkommen über allgemeinbildende Abschlüsse und Akademisierung stattfindet.

Oberstufenzentren bieten viele Perspektiven

Leider ist zu wenig bekannt, dass der MSA auch mit Abschluss einer Berufsausbildung und entsprechenden Noten erworben werden kann. Es gibt doppeltqualifizierende Bildungsgänge an Oberstufenzentren, die parallel zum Abschluss einer Berufsausbildung und zum Erwerb der Fachhochschulreife oder der allgemeinen Hochschulreife führen können. Und auch die Möglichkeiten eines Meisterstudiums ohne Abitur sind weiterhin recht unbekannt. Umgekehrt landen von den Abiturient*innen viele dann doch in dualen Ausbildungen. Dies hätte man auch jünger haben können.

Der Senat fördert die Gleichwertigkeit auch nicht, wenn er, anstatt an Integrierten Sekundarschulen (ISS) ohne gymnasiale Oberstufen die Kooperationen mit Oberstufenzentren zu bewerben und zu forcieren, gestattet, neue Oberstufen mit bereits 50 Schüler*innen einzurichten. Dabei bieten die Oberstufenzentren mehrere Perspektiven für ISS-Schüler*innen: Übergänge nach der 10. Klasse in die Berufsvorbereitung, Berufsausbildungen, die Fachhochschulreife oder die allgemeine Hochschulreife. Für jede*n ist etwas dabei. Dieses großartige Kind der SPD der 70er Jahre wird im Bildungsspektrum der Hauptstadt zu wenig genutzt und politisch beworben. So wurde jetzt das neue »duale Abitur«, also der Erwerb der allgemeinen Hochschulreife parallel zum Absolvieren einer Berufsausbildung, als große Neuerung dargestellt, dabei existieren an den Oberstufenzentren seit langem doppeltqualifizierende Bildungsgänge. Es wurde bisher versäumt, die Oberstufenzentren mit ihrem breiten Angebotsspektrum zur zweiten zentralen Bildungseinrichtung der Sekundarstufe II der Stadt zu machen. Städte wie Kiel schaffen dies.

Abschlüsse und Anschlüsse fördern

Am ehesten ist in den letzten Jahren im Bereich der Berufsvorbereitung einiges geschehen, das unbedingt fortgesetzt werden muss. Die Einrichtung von Jugendberufsagenturen und die Berufs- und Studienorientierung sind wichtige Meilensteine beim Vorhaben, neben den (Schul-)Abschlüssen die Anschlüsse der Schüler*innen zu fördern. Durch das Berufsvorbereitungsmodell »Integrierte Berufsausbildungsförderung« (IBA) wurde hier ein neuer Weg beschritten, der zukunftsweisend sein könnte, wenn die Unternehmen entsprechend Praktikumsplätze anbieten und Praktikant*innen später als Auszubildende übernehmen, der sogenannte »Klebeeffekt«. Kompliziert für die Kolleg*innen in dem Bildungsgang IBA ist die große Heterogenität der Schüler*innen vor allem bezüglich der Lernbereitschaft und der Abschluss- und Anschlussorientierung. Es ist eine wahre Herkulesaufgabe, wie die Schulen des Modellversuchs bestätigen. Und es wird sich zeigen müssen, ob das eine IBA-Jahr insbesondere für die Geflüchteten, die demnächst ein Drittel der Schüler*innen bei IBA ausmachen werden, ausreicht, um sprachlich die Ausbildungsfähigkeit zu erreichen.

Auch der Staat muss ausbilden

Ein weiteres Problem, zumindest laut Wirtschaftsvertreter*innen, ist die Kluft zwischen Fachkräftemangel und geeigneten Bewerber*innen. Wirtschaft 4.0 wird weniger Arbeitskräfte benötigen, auf jeden Fall im Bereich der einfachen Tätigkeiten, vielleicht aber zusätzliche Arbeitsplätze im oberen Anspruchsniveau schaffen. Zu wenige Unternehmen stellen sich der Herausforderung, selbst langfristig Mitarbeiter*innen aufzubauen und auszubilden. 88 Prozent der Berliner Betriebe bilden überhaupt nicht aus. Insofern wird es erforderlich sein, dass der Staat nicht nur das Übergangssystem unterhält, sondern auch selbst Berufsausbildungen anbietet.

Im Unterschied zu den dualen Ausbildungen, in denen die Schüler*innen parallel im Betrieb und der Berufsschule ausgebildet werden, erfolgt die gesamte Ausbildung in diesen sogenannten vollzeitschulischen Ausbildungen in der berufsbildenden Schule. Die betrieblichen Erfahrungen werden im Unterricht oder den schulischen Werkstätten simuliert und durch Betriebspraktika ergänzt.

In der »Berliner Erklärung« von 2011 unter dem damaligen Regierenden Bürgermeister Wowereit hat die Wirtschaft die Einschränkung vollzeitschulischer Bildungsgänge präferiert, weil sie glaubt, ihr würden dadurch gute Auszubildende verloren gehen. So forderte kürzlich die Industrie- und Handelskammer (IHK), mit den schulischen Bildungsgängen noch später im Schuljahr zu beginnen, damit sich die Jugendlichen für eine duale Ausbildung entscheiden.

Auch wenn etliche ausbildende Unternehmen eine gute Ausbildung anbieten, wird es nicht für alle reichen. Viele Jugendliche haben sich dutzende Male ohne Erfolg beworben, da sie angeblich nicht ausbildungsfähig seien. Die schulischen mehrjährigen Vollzeitbildungsgänge neben IBA ergeben Sinn, weil die Jugendlichen hier die nötige Zeit erhalten, sich zu entwickeln. Dies könnte auch für viele Geflüchtete der Weg sein, um genügend Zeit für den Spracherwerb zu bekommen, einen Beruf zu erlernen und sich so zu integrieren. Insofern ist es etwas beruhigend, wenn Staatssekretär Rackles sagt, dass der Abbau von Plätzen bei den vollzeitschulischen Ausbildungen nur parallel zur Erhöhung dualer Ausbildungsplätze erfolgen wird. Es gibt zudem keine Qualitätsnachteile bei den vollschulischen Ausbildungen, wie der Schulleitungsverband »Berufliche Bildung Berlin« betont. Rein rechnerisch wird Berlin durch den Zuzug in die Stadt sowieso alle Plätze benötigen.

Praxis praktisch lernen

Neben IBA wurde in den letzten Jahren das erweiterte Berliner Ausbildungsmodell (BAM) für eine schulische Ausbildung mit Wechselchance in eine duale Ausbildung entwickelt. Auch dies ist eine gute Option, Jugendlichen Perspektiven zu ermöglichen und muss weiter vorangetrieben werden. Vor allem sind die Unternehmen gefordert, sich auf die vorhandenen Bewerber*innen um Ausbildungsplätze zu konzentrieren und nicht nur deren Defizite zu beklagen. Nehmen wir die Unternehmen beim Wort: Die Praxis lernt man nun mal am besten in der Praxis, und gerade die Verbesserung bei den Sekundärtugenden benötigt Zeit, verbunden mit Erfolgs- und Selbstwirksamkeitserlebnissen. Das Gefühl, preiswerte Arbeitskraft zu sein, unterstützt dies nicht. Leider gibt es dies in einigen Branchen.

Am leichtesten zu bewerkstelligen, aber nicht automatisch die berufliche Bildung Berlins stärkend, ist die geplante neue Abteilung IV »Berufliche Bildung« in der Senatsverwaltung. Bisher war die berufliche Bildung in dem Referat Berufliche Schulen organisiert. Das Referat hat sich noch nie einer Evaluation unterzogen, obwohl es immer wieder Kritik aus den Schulleitungen gab, wie in der Befragung zum Gesundheitsmanagement deutlich wird. Ein Knackpunkt ist die Zusammenarbeit zwischen Schulbehörde und Schulleitungen. Die Schulleitungen wünschen sich mehr Freiheit für die Führung und Leitung der großen Einheit »Oberstufenzentrum«. Es stellt sich die Frage, ob man dafür eine neue Abteilung mit zusätzlicher Bürokratie benötigt und wer sie denn leiten sollte. Es müsste eine fachkompetente Besetzung von außen erfolgen, auch bereit, sich gegen Widerstände durchzusetzen. Für die neue Leitung besteht zumindest die Chance, den anderen Abteilungen auf Augenhöhe zu begegnen und mehr Gewicht bei der Hausspitze zu erlangen.

Viele Wege führen zum Abitur

Eine Stärkung der beruflichen Bildung könnte bei allem Bemühen vieler Akteur*innen nur einhergehen mit einem tiefgreifenden Mentalitätswechsel, der nicht-akademische Berufe ebenso anerkennt wie akademische, nicht zuletzt auch bei den Arbeitsbedingungen und der Bezahlung. Auf Letzteres hat die rot-rot-grüne Koalition wenig Einfluss, höchstens in der eigenen Verwaltung. Aber Koalition und Bildungsverwaltung könnten stärker bei Eltern, Wirtschaft und Verbänden darauf hinwirken, dass das klassische Abitur nicht der Königsweg sein muss und sich entsprechend positionieren, gegebenenfalls auch in Auseinandersetzung mit Vertreter*innen der anderen Bildungseinrichtungen. Erst dies würde berufliche und doppeltqualifizierende Bildungsgänge sowie Oberstufenzentren als gleichwertige Alternativen wertschätzen.