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bbz 11 / 2018

Das Ende der Papierwüste

Arbeitsblätter, soweit das Auge reicht. Wer in Schulen unterwegs ist, kann ein Lied davon singen. Aber muss das sein?

Egal ob Deutsch, Mathe oder Englisch auf dem Plan steht: Kinder und Jugendliche brüten über Arbeitsblättern, und das nicht nur zu Klausurzeiten. Individualisierung ist das Gebot der Stunde und scheint mit abgestuften Arbeitsblättern am leichtesten realisierbar. Selten werden die Risiken dieser Arbeitsblattmonotonie diskutiert.

Unzählige Stunden an Vorbereitungszeit gehen dafür drauf, gute Arbeitsblätter zu erstellen, die den Bedürfnissen der Lerngruppe entsprechen. Nicht nur unter Referendar*innen sind die »ABs« wertvolle Tauschgegenstände. Die wertvollen Objekte füllen dann gerne ganze Schrankwände – zu Hause oder in der Schule. In manchen Klassenzimmern lagert ein perfekt durchdachtes System, das es vom Umfang her leicht mit Niklas Luhmanns Zettelkasten aufnehmen kann. Soziologe Luhmann sortierte mithilfe des Zettelkastens 40 Jahre seine Gedanken – wir sortieren heute Arbeitsblätter. Jedes Jahr muss die Zettelwirtschaft neu organisiert und aktualisiert werden. Eine typische Ferienbeschäftigung unter Lehrkräften.

Dass das Arbeitsblatt eine Hauptrolle an Schulen einnimmt, hängt mit seiner Bedeutung für offenen Unterricht und innere Differenzierung zusammen. Dass offene Unterrichtsformen das Diktat des in die Jahre gekommenen Frontalunterrichts und seiner realitätsfernen One-Size-Fits-All-Pädagogik ablösen, ist absolut richtig. Differenzierung von unterschiedlichen Lernniveaus ist notwendig, um den Ansprüchen einer inklusiven Pädagogik gerecht zu werden. Jedoch wird von den vielfältigen Lern- und Materialformen, die der offene Unterricht zu bieten hat, oftmals nur das Arbeitsblatt in den reformierten Schulalltag übernommen. Kaum denkbar scheint derzeit ein Wochenplan zu sein, der Differenzierung nicht über Arbeitsblätter vorsieht. Selten findet man ein Lernbuffet, dessen geistige Nahrung nicht aus Papier besteht. Dabei geht sehr viel verloren, wenn jedes Kind nur noch mit dem Stift in der Hand über dem DIN-A4-Blatt brütet.

»Wenn du fertig bist, holst du dir das nächste, ja?« Der Satz steht symptomatisch für das, was Kinder und Jugendliche in ganz Deutschland erleben. Bildungserfahrungen werden auf das Abarbeiten von Papierstapeln reduziert. Lesen, Ausfüllen, Selbstkorrektur, dann wieder von vorne. Dieser Ablauf passt eher zum Arbeitsalltag in Behörden, als zu einem Lerntag in der Schule.
Kindliche Bedürfnisse nach Nähe, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gemeinschaft und spielerischem Entdecken können nur durch vielfältige Materialformen und durch die soziale Interaktion in der Gruppe erfüllt werden. Gerade für Kinder und Jugendliche, die ihre Freizeit allein am Smartphone oder vor dem PC verbringen, sollte die Schule unterschiedliche Erfahrungsräume eröffnen. Der Anspruch auf Individualisierung des Unterrichts, so wie ihn unter anderem die Senatsverwaltung auch im »Handbuch Vorbereitungsdienst« für Lehramtsanwärter*innen formuliert, kann deshalb nicht alleiniges Zukunftsmodell sein. Daneben bräuchte es eine Ausrichtung auf soziale Beziehungen und das Erlernen von Solidarität im Unterricht. Solidarität lässt sich aber nicht anhand von Arbeitsblättern üben.

Wie würde eine Schule ohne Arbeitsblätter aussehen? Was würde an einem Schultag passieren, an dem nicht ein einziges Arbeitsblatt ausgefüllt wird? Wenn das nächste Mal in der Schule der Kopierer ausfällt, könnte man es testen.


Auch wir von der bbz fragen uns, wie eine Schule ohne Arbeitsblätter aussehen könnte. Habt ihr Erfahrungen oder Ideen? Schickt uns doch eure Vorschläge und wir veröffentlichen sie. An bbz@gew-berlin.de