Zum Inhalt springen

Internationales

Denk ich an Frankreich in der Nacht …

In Frankreich protestierten Hunderttausende gegen Rentenkürzungen, die wir in Deutschland viel zu leicht hingenommen haben.

imago images 97137363
Foto: Imago

Natürlich verblassen die Bilder. In Zeiten wie diesen. Und wechseln auch die Sorgen. Und die Kämpfe. Gerade hat die französische Regierung den »Gesundheitskrieg« ausgerufen. Keine Versammlungen mehr. Keine privaten und erst recht keine politischen Versammlungen. Damit wird man leben lernen in Frankreich. Aber danach, wenn das alles überstanden ist?

 »Die übertreiben, die Franzosen ...!« Das war meine erste Reaktion, als ich im November vergangenen Jahres von den großen Streiks und Demonstrationen in Frankreich hörte. Die Bilder der »Gelbwesten-Bewegung« und der Ausschreitungen sonnabends auf den Champs-Élysées noch im Kopf. Doch zugleich auch stilles Staunen! Zehntausende, Hunderttausende auf den Straßen! Im ganzen Land! Da muss doch was dran sein! 

Es geht um die Rente. Wie bei uns auch. Die soll »reformiert« werden. Renteneintrittsalter hoch! Wie bei uns ja auch schon. Die Menschen sagen, sie werden weniger kriegen. Wie bei uns auch. Um die 400 oder 500 Euro weniger, pro Monat. Ach ja, sind es bei uns nicht auch bei 48 Prozent vom letzten Brutto? Noch nicht, aber bald. Wer kann davon gut leben? Die Französinnen und Franzosen nicht und wir auch nicht. 

Die hauten gewaltig auf den Putz in Frankreich! Und wir? Wir haben ja die SPD und die CDU. Erst zogen sie die Löhne und Renten runter. Und jetzt flickschustern sie. Die Franzosen haben »Macron«. Erst sagte der: »La république en marche«. Jetzt marschierten sie gegen ihn. Seit sechs Wochen. Wochenlang. Über 12 Wochen! Bis in den März. Die Streikenden bekamen nicht mal Streikgeld. Nur Spenden! Über 60 Prozent in Frankreich lehnten die Rentenreform trotz der Einschränkungen durch die Streiks ab. Gestreikt wurde an Aktionstagen (bisher 16). Die Angestellten der französischen Bahn SNCF und der Pariser Metro befanden sich im Dauerstreik. Seit Anfang Dezember, viele hatten 50 bis 80 Streiktage! Dann gewannen Verhandlungen die Oberhand: Finanzierung der Renten und Renteneinstieg mit 64. Die Massenbewegung ließ nach, als eine der Gewerkschaften, die CFDT, für Verhandlungen ausscherte.

100 Schulen mussten geschlossen werden

Auch die Lehrer*innen sind stark betroffen von den Plänen zu einer neuen Altersrente. Über 50 Prozent der Grundschullehrer*innen und 60 Prozent der Sekundarstufenlehrer*innen (Collèges) hatten nach Gewerkschaftsangaben im vergangenen Dezember gestreikt. In Paris und im Département Seine-Saint Denis mussten 100 von 650 Schulen geschlossen werden.

Lehrer*innen werden in Frankreich schlecht bezahlt. Grundschullehrer*innen haben anfangs 1.600 Euro netto. Wer soll davon eine Wohnung in Paris bezahlen? Sie können sich gerade so Zimmer leisten oder müssen weite Wege in Kauf nehmen. Ihre Bezahlung steigt im Schneckentempo alle zwei, drei Jahre. Noch werden die Renten nach dem Gehalt der sechs letzten Monate berechnet. Sie erhalten 76 Prozent des letzten Brutto, aber nur, wenn sie immer voll gearbeitet haben. Sie scheiden mit 62 Jahren ohne Abzüge aus dem Dienst. Aber nur, wenn sie 42 oder 43 Beitragsjahre erreicht haben. Nennen wir die Kollegin Suzanne. Sie ist 44 Jahre alt und Berufsschullehrerin. Ihre Rente würde im Augenblick nach 40 Dienstjahren bei knapp 1.600 Euro liegen. Lebenshaltung ist in Frankreich teurer als bei uns«, denke ich und finde die 1.600 gar nicht sexy.

Die Arbeit ist schwierig: Unterricht, Korrekturen, Ganztagesbetrieb, jede Menge Sitzungen. Das kennen wir ja. Gerade die jungen Kolleg*innen müssen anfangs oft durch das »Tal der Tränen«, in die schwierigen Stellen. In den »Quartiers en difficulté«; Brennpunktschulen. Erinnern wir uns noch an den Film im Kino vor ein paar Jahren: »Entre les murs« / »The class«? Die »harte Schule«, kein Zuckerschlecken!

Eine neue Rente soll nun für die Lehrkräfte gelten, die heute 45 Jahre sind, also ab 1975 geboren sind. Kein Mensch versteht, warum. Die Regierung kann’s auch nicht besser erklären als »Es sind zu viele Rentenkassen. Wir müssen zu einem System kommen. Für alle gleich«. Warum eigentlich? 

Nicht mehr die bestbezahlten letzten Monate im Arbeitsleben stellen die Berechnungsbasis dar, sondern es soll die gesamte Dienstzeit einschließlich der geringeren Einzahlungen zu Beginn des Arbeitslebens zur Grundlage genommen werden und in ein Punktesystem umgewandelt werden. Wer da wegen Familie Teilzeit oder Auszeit genommen hat, hat dazu noch den »Schwarzen Peter« gezogen: Also vor allem die Frauen. Suzanne, die Berufsschullehrerin, käme dann auf 1.080 Euro Rente, fast 500 Euro weniger! André, Pariser Gymnasiallehrer (53 Jahre) im gutbürgerlichen 7. Arrondissement, hat am Anfang seines Arbeitslebens als Grundschullehrer gearbeitet. Das rächt sich jetzt. Auch er spricht von einem Verlust von 500 Euro mit dem neuen System. 

Der Regierung traut niemand mehr

Um diesen Verlusten etwas entgegenzusetzen verspricht die Regierung, die Gehälter der Lehrkräfte ab 2021 bis 2037 stark zu erhöhen, schrittweise über die Dauer von 16 Jahren. Am Ende soll jede Lehrkraft monatlich 500 bis 900 Euro brutto mehr haben. Aber niemand glaubt der Regierung oder traut ihr das zu. Sie ist nur für eine Legislaturperiode gewählt. Sie müsste ein entsprechendes Gesetz einbringen, das auch in Zukunft nicht zurückgenommen werden kann. Hat sie aber bisher nicht. Wie ernst soll man sie da nehmen? 

Die Undurchsichtigkeit der Regierungsvorschläge und die hohe Summe dieses Versprechens – jährlich 500 Millionen mehr im Staatshaushalt, acht bis zehn Milliarden Euro zusätzliche Ausgaben – erscheinen vielen unseriös und unglaubhaft. Dazu kommt: Werden auch die älteren Lehrkräfte (das sind etwa ein Drittel der Beschäftigten), die in den kommenden Jahren aus dem aktiven Dienst ausscheiden, in die Gehaltsaufstockung (»Revalorisation«) einbezogen? 

Und dann sind ja da noch die Lokführer*innen und U-Bahnlenker*innen. Sie haben Schichtarbeit, die Lokführer*innen müssen öfter auswärts übernachten. In alten Zeiten, als die Lokomotiven noch mit Kohle fuhren, hatten sie sich erstritten, dass sie mit 52 aufhören können. Da waren die Lungen schon voll Ruß. Kein Geschenk, kein Vorteil, sondern Ausgleich. Jetzt sollen sie weiterfahren. Vielleicht bis 60? Oder 62? Oder 64? Ich kann nicht beurteilen, wie anstrengend eine Fahrt im TGV-Cockpit mit 1.000 Fahrgästen hinter dir ist. Aber die Verantwortung ist riesig. Und eine U-Bahn zu steuern, im Schichtbetrieb? Wer kann beurteilen, wie verschleißend das ist, wenn nicht die Leute selbst? Und die Krankenschwestern und pfleger und Ärzt*innen im Schichtbetrieb in den Kliniken und Notaufnahmen, in denen jetzt schon »nix mehr geht«, in denen jetzt schon keine*r mehr arbeiten will, in denen jetzt schon Personal an allen Ecken und Enden fehlt? Und die Sicherheitskräfte, die Polizei, die Feuerwehr, die Handwerker*innen, die Arbeiter-*innen auf dem Bau? Alle wären betroffen. Rente runter und länger arbeiten! zwei Jahre länger, bis 64. Warum? 

Beim Nachdenken darüber kommt mir der Gedanke: Muss es eigentlich, darf es eigentlich ein einheitliches Renteneinstiegsalter geben? Ich sage eher: Nein. Meine Schwiegermutter erlitt eine Depression, nachdem sie mit 65 als Bürokraft in einer Behörde gezwungen war aufzuhören. Gerne hätte sie noch ein wenig weitergemacht, mit weniger Stunden und nicht so früh los von zu Hause. Ich selber habe die Chance, ein wenig weitermachen zu können. Ich bin jetzt 66 und habe das Glück, in einem Mangelfach fit zu sein. Ich habe eine ordentliche Rente und jetzt noch was dazu. Ich sehe meine jüngeren Kolleg*innen vor mir. Sie müssen bis 67 drinbleiben, wenn sie die Rente voll brauchen. Wir werden sehen, ob das machbar ist. Wir haben es in Deutschland erst mal hingenommen. Aber werden wir auch die nächsten Kürzungen hinnehmen? 

Um ehrlich zu sein, ich kann die Kolleg*innen in Frankreich gut verstehen. Ich bewundere sie sogar für ihre Entschlossenheit, ihren Widerstandswillen, ihre Beharrlichkeit. Weder bekloppt, noch maßlos, noch verwöhnt! Macron hat die Beschlussfassung der Reform nun bis Ende Juni ausgesetzt. Man kann davon ausgehen, dass es im Herbst 2020 weitergehen wird mit der Bewegung. Die Leute lassen das nicht einfach mit sich geschehen. Gucken wir dann wieder nur zu? 
 

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46