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Schule

»Die GEW muss sich inhaltlich positionieren«

Im dritten und letzen Teil unseres Interviews zur Medienbildung sprechen wir mit Michael Retzlaff über seine Vision einer Schule der Zukunft.

Foto: GEW BERLIN

Stellen wir uns einmal vor, alle personellen, technischen und finanziellen Ressourcen wären gegeben. Wie sieht eine Schule der Zukunft aus, die den Anforderungen in der digitalisierten Welt gerecht wird?

Michael Retzlaff: Beginnen wir mit etwas ganz Profanem: Schulen brauchen für ihre pädagogische Arbeit einen vom Schulträger bereitgestellten schnellen Breitbandanschluss und Zugang zu einem sicheren und schnellen W-LAN. In den Schulen der Zukunft ist die IT-Ausstattung hoffentlich über ein landesweit einheitliches IT-Management organisiert. Lehrkräfte und Schüler*innen benutzen eine von der Schule bereitgestellte E-Mailadresse und eine Schulcloud, über die Information, Kommunikation und Kooperation stattfindet. Die Räumlichkeiten der Schule sind außerdem durch variable Lern- und Projekträume und mobil einsetzbares Mobiliar auf die veränderten Lernsituationen angepasst worden.

Welche Rolle spielen Smartphones in deiner Schule der Zukunft?

Retzlaff: Das Verbot von Smartphones an Schulen sollte zugunsten einer von den Schüler*innen mit entwickelten Nutzungsordnung und Selbstverpflichtungserklärung zum respektvollem Umgang abgeschafft werden. Die Schulen sollten digitale Endgeräte selbst bereitstellen. Und ich bin für die Einführung eines Medienpasses, in dem der Kompetenzzuwachs der Schüler*innen im Bereich Medienbildung von der ersten Klasse an kontinuierlich dokumentiert und regelmäßig mit den Schüler*innen und Eltern besprochen wird.

Der Einsatz der Endgeräte muss auf der Basis eines medienpädagogischen Nutzungskonzepts stattfinden. Meine Schule der Zukunft hat im Dialog mit dem Kollegium ein altersgerechtes abgestimmtes schulinternes Curriculum (SchiC) entwickelt, in dem das Lernen mit und über Medien in allen Fächern, Lernbereichen, Projekten und Klassenstufen verbindlich verankert ist und in Abständen ausgewertet und weiterentwickelt wird. Jede Schule hat ein Medienbildungskonzept entwickelt, in dem die Schulen ihre pädagogischen Ziele festgelegt und Maßnahmen der unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Umsetzung festgelegt haben.

Wie können solche Maßnahmen der Unterrichtsgestaltung aussehen?

Retzlaff: Über das Lernmanagementsystem und die schulische Cloud werden freie Lernmaterialien und Medien geteilt. Diese sind urheberrechtlich für den Einsatz in Schule und Unterricht geprüft und mit einem bundesweiten Gütesiegel ausgestattet. Die Lehrkräfte nutzen im Unterricht zielgerichtet Learning Apps, zum Beispiel für Differenzierungsmaßnahmen. Und sie produzieren gemeinsam mit ihren Schüler*innen Erklärvideos und Videotutorials sowie digitale Lernmaterialien zu lebensnahen Fragestellungen. Sie teilen ihre Lernergebnisse ganz selbstverständlich im OER-Format (Open Educational Resources) in der schulischen Cloud.

Schüler*innen erarbeiten ihre Unterrichtsmaterialien selbst?

Retzlaff: Die von den Schüler*innen erarbeiteten offenen OER-Materialien werden regelmäßig und zielgerichtet im Unterricht eingesetzt. Sie eignen sich insbesondere zum Bearbeiten, zum Weiterentwickeln, selbst Gestalten und Austauschen von Lernergebnissen. Der netzbasierte bequeme Austausch von Lehr- und Lernmaterialien führt darüber hinaus zu einer Verbesserung der fachlichen Kommunikation innerhalb der Schule bei gleichzeitiger Arbeitsentlastung der Kolleg*innen. Darüber hinaus befördern die OER-Materialien den kollegialen und fachlichen regionalen und überregionalen Austausch.

Die Schüler*innen werden also selbst zu Lehrenden.

Retzlaff: Die Schüler*innen werden altersgerecht als Expert*innen in die Lernprozesse aktiv eingebunden und dabei verantwortungsvoll beteiligt. Sie werden darüber hinaus in einem demokratischen und dialogischen Prozess bei der Erarbeitung und Umsetzung von Regelwerken zum respektvollen Umgang im Internet beteiligt und bei der Umsetzung im Schulalltag in die Verantwortung genommen. Meine Schule der Zukunft bildet regelmäßig Medienscouts aus und bietet dadurch für Schüler*innen und Lehrer*innen feste Ansprechpartner*innen in allen Fragen der Mediennutzung, zum Beispiel auch bei Vorfällen von Cyber-Mobbing. In den höheren Klassen werden regelmäßig neue didaktische Formate erprobt, das traditionelle Lernen immer wieder einmal auf den Kopf gestellt. Aber natürlich bleiben auch bei der künftigen Umgestaltung didaktischer Formate die Lehrkräfte die Regisseur*innen der sozialen Lernprozesse.

Wie stellst du dir die Aus- und Weiterbildungssituation für Pädagog*innen vor?

Retzlaff: Es muss künftig ganz klar eine festgelegte und verpflichtende Mindestanzahl von qualifizierten Fortbildungen für Lehrkräfte zum Thema Lernen mit und über Medien geben. Zum Vergleich: Ärzt*innen sind jährlich zu 50 Zeitstunden Fortbildung verpflichtet. Die Lehrkräfte sollten sich regelmäßig nach einem im Kollegium abgestimmten Bedarfsplan qualifizieren. Dabei sollten Formate für den fachlichen Austausch nach der Teilnahme an zentralen und schulinternen Qualifizierungsmaßnahmen gepflegt werden, um möglichst viele Kolleg*innen zu beteiligen. Eine wichtige Rolle dabei spielen auch die Lehramtsanwärter*innen. Sie verfügen durch die Veränderung der Studien- und Prüfungsordnung in Zukunft über eine umfangreiche Qualifikation im Bereich Medienbildung und bringen diese nahtlos in die zweite Phase der Lehrkräftebildung ein. Auch regelmäßige Fortbildungsangebote für Eltern zum Thema »Chancen und Risiken der Mediennutzung bei Kindern und Jugendlichen« sind wichtig. Sie sichern auch den Kontakt zur Elternschaft der Schule und binden diese gezielt in die gemeinsame Bildungs- und Erziehungsaufgabe Medienbildung ein.

Das alles klingt nach viel Arbeit. Wo können die neuen Technologien die Kolleg*innen auch entlasten?

Retzlaff: Durch selbstverständliche Übernahme von zeitaufwendigen und oft lästigen Verwaltungsaufgaben im Schulalltag enstehen Entlastungen. Die Schulen könnten ganz selbstverständlich das professionell betreute Verwaltungsnetzwerk der Schule für alle organisatorischen Verwaltungsabläufe nutzen; einschließlich eines komfortablen Zeugnisprogramms. In der Schulverwaltung muss eine landesweite Datenpflege der Schüler*innendatenbank durchgeführt und die Bereitstellung der gepflegten Daten für die Schulen sichergestellt werden.

Und wie kann die GEW die Kolleg*innen in der Bewältigung der Digitalisierung besser unterstützen?

Retzlaff: Der umfassende gesellschaftliche Transformationsprozess führt auch zu einer Transformation des Bildungswesens. Dieser Prozess muss von der GEW durch eine breite inhaltliche Diskussion unter den Kolleg*innen thematisiert sowie durch regelmäßige Fachveranstaltungen und moderierte Online-Foren zu ausgewählte Fragen der Medienbildung begleitet werden. Dabei sind die Ängste und Widerstände der Kolleg*innen ernst zu nehmen. Die GEW sollte weiterhin regelmäßig erfolgreiche Unterrichtsbeispiele und Medienprojekte in der bbz und auf der Homepage der GEW vorstellen und dadurch die Kolleg*innen konkret unterstützen.

Die GEW muss sich inhaltlich positionieren und dafür eintreten, dass Medienbildung in alle Phasen der Lehrkräftebildung verbindlich in die Studien- und Prüfungsordnungen integriert wird. Die Einrichtung eines Runden Tisches Medienbildung mit Vertreter*innen der Senatsschulverwaltung, der ersten und zweiten Phase der Lehrerausbildung, außerschulischen Bildungspartner*innen, der Gewerkschaft und Vertreter*innen der Schulpraxis muss von der GEW eingefordert werden und durch fachliche Mitarbeit mit gestaltet werden.

Was sollte das Ziel eines solchen Runden Tisches sein?

Retzlaff: Es muss darum gehen, den Transformationsprozess des Bildungswesens kontinuierlich zu begleiten. Dabei ist ein regelmäßiger Erfahrungsaustausch zu gewährleisten und gezielte Steuerungsmaßnahmen abzustimmen und einzuleiten. Es geht schließlich darum, die Chancen der digitalen Medien für das Lehren und Lernen und die gesellschaftliche Teilhabe zu nutzen und gleichzeitig auf die Risiken so vorzubereiten, dass ihnen konsequent begegnet werden kann. Die GEW sollte sich dafür einsetzen, dass der Bildungs- und Erziehungsauftrag in einer digital geprägten Welt erweitert wird. Dabei erhält die kritische Auseinandersetzung und die Entwicklung neuer ethischer Standards in der digitalen Welt eine große Bedeutung. Auch im Unterricht sollten grundlegende Fragen wie »Welche Anforderungen stellt die zunehmend digital strukturierte Gesellschaft an mich?« oder »Wie können die Grund- und Freiheitsrechte in der digitalen Welt erhalten bleiben?« thematisiert werden. Gemeinsam mit den Schüler*innen muss die zunehmend digitalisierte Welt von heute mit all den Chancen und Risiken in der Schule kritisch und nachhaltig behandelt werden. Nur wenn sie die Prozesse und Abläufe nachvollzogen und verstanden haben, kann eine aktive gesellschaftliche Teilhabe und ein selbstbestimmtes aktives Leben in einer demokratischen und digitalisierten Welt sichergestellt und der Erziehungs- und Bildungsauftrag erfüllt werden. Ziel und Auftrag der Schule als Lernort auch in einer digitalisierten Welt ist und bleibt die Entwicklung einer selbständigen, eigenverantwortlichen und mündigen Schüler*innenpersönlichkeit in einer demokratischen Gesellschaft sicher zu stellen. Dazu muss die Schule auch in einer zunehmend digital organisierten Gesellschaft als Erfahrungsraum menschlicher Kommunikation und sozialen Lernens erhalten bleiben. Voraussetzung für all das ist natürlich eine dauerhafte Bereitstellung deutlich höherer Bildungsausgaben, die sich am OECD-Durchschnitt orientieren.

Das klingt doch nach einem schönen Schlusswort.

Fast. Ich möchte abschließend Schulleiter*innen, Lehrer*innen und Pädagog*innen Mut machen, sich auf die veränderten Strukturen in einer digitalisierten Welt vorzubereiten und als Regisseur*innen für Bildung und Erziehung in diesem spannenden Prozess der Veränderung an ihrer Schule gestaltend tätig zu werden.

Vielen Dank, Michael!  

ARBEITSGRUPPE MEDIENBILDUNG IN DER GEW BERLIN
Eine Gruppe von Schulpraktiker*innen aller Schularten, Schulpsycholog*innen, Wissenschaftler*innen und Medienpädagog*innen trifft sich einmal im Monat im GEW-Haus in der Ahornstraße, um Themen wie Jugendmedienschutz, Codierung, Algorithmen, Datensicherheit, Digitalpakt, Caliope zu diskutieren, gewerkschaftliche Positionen zu entwickeln und als Vorlage an den Vorstand der GEW weiterzuleiten. Der fachliche Austausch und die Informationen über aktuelle Entwicklungen, Veranstaltungen oder Broschüren zum Thema Medienbildung runden unsere monatlichen Arbeitssitzungen ab. Darüber hinaus haben wir im Februar 2018 unter dem Titel »Digitale Bildung in Berlin« eine Fachtagung für GEW-Kolleg*innen durchgeführt. Wer über dieses Ziele und Inhalte sprechen und streiten will ist herzlich eingeladen zur Diskussion in der »AG Medienbildung« der GEW BERLIN. Kontakt über Sebastian Schädler – schaedler(at)eh-berlin(dot)de

Teil 1: Ausgangslage (bbz 06/18)

Teil 2: Handlungsorientierung (bbz 07-08/18)

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46