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blz 06 / 2015

Die Grundschule – das Stiefkind der Bildungspolitik

Über viele Jahre hinweg wurde die Grundschule vernachlässigt. Die Arbeitsbedingungen haben sich stetig verschlechtert. Kein Wunder, dass ausgebildete Grundschullehrkräfte inzwischen Mangelware sind. Es wird höchste Zeit, dass sich etwas ändert.

Ich würde gerne mehr Zeit für die pädagogische Arbeit mit den Kindern haben, aber das lassen die vielen zusätzlichen Aufgaben nicht zu!« Diesen Satz hört man so oder ganz ähnlich immer dann, wenn man mit Lehrkräften, ErzieherInnen und Schulleitungen Berliner Grundschulen redet. Viele Grundschulen arbeiten inzwischen am Limit – und darüber hinaus! Die Arbeits- und Lernbedingungen an Grundschulen haben sich in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert. Hierauf weisen auch immer mehr Schulleitungen von Grundschulen hin. Auch deren Arbeitsbelastung hat stark zugenommen. Sie mahnen, dass ein verantwortbarer Schulbetrieb nur mit unbezahltem Zusatzengagement einzelner KollegInnen – einschließlich sich selbst – möglich ist. Welches sind aber die konkreten Problemfelder und Einzelpunkte, die dazu führen, dass viele Grundschulen nicht mehr gemäß ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag optimal arbeiten können.

Unzureichende Lehrkräfteversorgung

Seit Jahren schon hinkt die Zahl der ausgebildeten Lehrkräfte für die Primarstufe der Nachfrage hinterher. Zum Sommer 2015 beenden in Berlin lediglich 40 Lehrkräfte, die für die Grundschule ausgebildet wurden, ihr Referendariat. Dies wird sich – wie die Studierendenzahlen zeigen – auch in den nächsten Jahren nicht gravierend ändern. Im vorangegangenen Jahr haben weniger als 200 LehramtsabsolventInnen ihren Vorbereitungsdienst für das Grundschullehramt begonnen (1).

Die niedrige Berliner Ausbildungsquote an Grundschullehrkräften führt dazu, dass mehr und mehr nicht speziell in Grundschulpädagogik und -didaktik ausgebildete Lehrkräfte und zunehmend auch QuereinsteigerInnen in den Einrichtungen ankommen. Im aktuellen Schuljahr sind es gut ein Drittel. Das belegt die Antwort von Staatssekretär Rackles auf eine Anfrage der Abgeordneten Stefanie Remlinger (2).

Das muss im Einzelfall nicht zwingend ein Nachteil sein, tendenziell hat es jedoch Auswirkungen in Bezug auf eine altersgerechte Pädagogik. Immerhin gibt es aus gutem Grund das Studium der Grundschulpädagogik. Der Mangel an ausgebildeten GrundschulpädagogInnen führt außerdem dazu, dass ein Teil der Lehrkräfte, die neu an dieser Schulart zum Einsatz kommen, dort nicht aus Überzeugung arbeiten, sondern weil sie keine Stellenangebote für ein Gymnasium erhalten. Fehlende Eigenmotivation wird sich aber immer auch auf die Qualität der Arbeit niederschlagen.

Integration und Inklusion

Grundschulen sind zunehmend inklusive Schulen, da die Zahl von SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf stetig steigt. Im Schuljahr 2013/14 wurden rund 8.500 sogenannte »I-SchülerInnen« an Grundschulen (inklusive SAPh) beschult. Vor zehn Jahren waren es knapp die Hälfte. Auch der Anteil von SchülerInnen nichtdeutscher Herkunftssprache ist deutlich gestiegen. Gleichzeitig wurden die zusätzlichen Stunden für Integration abgeschmolzen, sodass die einzelne Lehrkraft und die einzelne ErzieherIn heute wesentlich stärker gefordert und bisweilen überfordert wird, wenn es darum geht, allen Kindern im notwendigen Maße gerecht zu werden. Auch die zunehmend aufwendigen Antragsverfahren, die Erstellung von Förderplänen und die zahlreichen Gespräche, die im Zusammenhang mit Inklusion unumgänglich sind, belasten die PädagogInnen immer stärker. Nicht nur zeitlich, sondern auch mental.

Erschwerend kommt hinzu, dass aufgrund des Lehrkräftemangels sehr häufig insbesondere Teilungsstunden und Doppelsteckungen aufgelöst werden, damit die Minderausstattung nicht zu Unterrichtsausfall führt. Im laufenden Schuljahr waren laut Herbststatistik der Senatsverwaltung in vier Bezirken die Grundschulen nicht mit 100 Prozent Lehrkräftestunden versorgt (3). In allen 12 Bezirken zusammen waren an den Grundschulen gerade mal 100,49 Prozent des Pflichtbedarfs an Lehrkräftestunden gedeckt. Da jedoch im Schnitt drei bis vier Prozent des Unterrichts im Laufe eines Schuljahres beispielsweise wegen Krankheit, Fortbildungen und Klassenfahrten ausfallen und mindestens weitere drei bis vier Prozent durch Streichung von notwendigen Teilungsstunden und Doppelsteckungen sowie Zusammenlegung von Gruppen »erwirtschaftet« werden, arbeitet faktisch nahezu jede Grundschule mit einem dauerhaften strukturellen Minus an Lehrkräften. Dies erhöht unweigerlich die Belastung der vorhandenen LehrerInnen und ErzieherInnen, die den Mangel auffangen müssen.

Denn es werden bei Versorgungsengpässen in der Regel die zusätzlichen Stunden für die Integration/Inklusion und Sprachförderung gestrichen, um eine andere Lerngruppe zumindest mit einer PädagogIn zu versorgen. Das schadet nicht nur den betroffenen Kindern, sondern der gesamten Lerngruppe und natürlich auch den Beschäftigten. So erreicht man nicht die erforderliche Akzeptanz für die inklusive Grundschule bei den Beschäftigten und den Eltern!

Arbeitsbelastung der PädagogInnen

Die Engpässe bei der Lehrkräfteversorgung und die strukturelle Minderausstattung vor allem auch im Bereich der Sonderpädagogik führen zu erhöhter Belastung der PädagogInnen an den Grundschulen. Dies betrifft neben den Lehrkräften selbstverständlich auch die ErzieherInnen. Belegt wird dies durch eine aktuelle Studie von Prof. Dr. Rudow über »Arbeitsbelastungen von Erzieher*innen in der Arbeit an der Schule« (4). Die Studie macht deutlich, dass es enge Zusammenhänge zwischen dem strukturellen Rahmen, den arbeitsorganisatorischen Bedingungen, der Ausstattung der Arbeitsumgebung sowie der Wertschätzung der geleisteten Arbeit und der Gesundheit der ErzieherInnen gibt. Gerade in diesem Bereich hat sich die unzureichende und nicht an den Anforderungen orientierte Personalausstattung als ein wesentlicher Belastungsfaktor erwiesen. Eine Verbesserung der ErzieherIn-Kind-Relation wäre dringend erforderlich. Die gegenwärtige Personalbemessung sieht außerdem eine Unterrichtsbegleitung und Zusammenarbeit von ErzieherInnen und Lehrkräften nur im jahrgangsübergreifenden Unterricht in der Schulanfangsphase in Höhe von vier Stunden in der Woche vor. Die Ergebnisse der Studien zeigen jedoch, dass die ErzieherInnen 10 bis teilweise 15 Stunden unterrichtsergänzend und unterrichtsbegleitend tätig sind. Es ist sinnvoll, dass ErzieherInnen Unterrichtsprozesse begleiten und unterstützen. Doch für diese Kooperation sind weitere Personalressourcen bereitzustellen. Die unzureichende Ausstattung der Schulen mit Lehrkräften darf nicht zulasten der ErzieherInnen gehen. Aufgabe der Senatsbildungsverwaltung ist es auch, dafür Sorge zu tragen, dass ErzieherInnen keine Vertretung von Lehrkräften übernehmen müssen.

Auch der Lärm, die Enge und der Sanierungsrückstau stellen an vielen Schulen eine erhebliche Arbeitsbelastung dar, sowohl körperlich als auch psychisch. Ganztagsschulen benötigen andere Raumgrößen und Raumkonzepte, denen die als Halbtagesschulen bemessenen Gebäude in der Regel nicht genügen. Eher der Normalfall als die Regel ist mittlerweile die Doppelnutzung von Räumen, morgens Unterricht, nachmittags Ganztag. Daraus erwachsen Konflikte. Bei schlechtem Wetter sind die Kinder von früh bis spät im selben Raum. Und zwischen Lehrkräften und ErzieherInnen steht immer wieder die Frage: Wer darf was und wie nutzen und gestalten? ErzieherInnen und Lehrkräfte benötigen zusätzliche Pausenräume für Regeneration und Erholung – insbesondere im Ganztag.

Verschärft werden die gesundheitsbelastenden Arbeitsbedingungen auch dadurch, dass Grundschulen immer mehr SchülerInnen aufnehmen müssen, weil die ursprünglich geplanten Kapazitäten in vielen Teilen Berlins nicht mehr mit dem Bedarf der wachsenden Stadt schritthalten können. In bestimmten Regionen müssten dringend neue Grundschulen gebaut werden. Derzeit wird aber zumeist nur verdichtet und aufgefüllt. An vielen Standorten werden Räume, die für Gruppenteilungen und den Ganztag eigentlich dringend benötigt werden, in Klassenräume (zurück) verwandelt. Die SchülerInnenfrequenzen in den Klassen und Lerngruppen überschreiten vielerorts bereits einen pädagogisch vertretbaren Wert.

Mangelnde Anerkennung der geleisteten Arbeit

Lehrkräfte an Grundschulen sind in zweifacher Hinsicht benachteiligt. Sie haben eine höhere Stundenverpflichtung, nämlich 28 Wochenstunden. Und sie verdienen deutlich weniger (etwa 550 Euro im Unterschied zur Gymnasiallehrkraft). Das Prinzip der ungleichen Entlohnung der verschiedenen Lehrämter stammt aus Zeiten, in denen die Hochschulausbildung von Grundschullehrkräften und zum Beispiel Gymnasiallehrkräften in Dauer und Anforderungsniveau noch sehr stark voneinander abwich. Inzwischen gibt es für diese Ungleichbehandlung keine sachlogischen Gründe mehr. Dies bestreitet im Übrigen auch die Bildungspolitik nicht. Dass die unterschiedliche Wertigkeit der geleisteten pädagogischen Arbeit jedoch stetig fortgeschrieben wird und sich im Zuge von Gemeinschaftsschulfusionen und Einstellung von Gymnasiallehrkräften an Grundschulen sogar noch deutlich verschärft, nehmen die regierend verantwortlichen PolitikerInnen aber im gleichen Atemzug billigend mit dem Hinweis in Kauf, dass eine Höhergruppierung und Deputatsabsenkung finanziell nicht zu stemmen sei. Aber: Eine Ungerechtigkeit bleibt eine Ungerechtigkeit, auch wenn sie noch so gut begründet wird. Geld wäre genug da oder es müsste über ein gerechtes Steuersystem endlich generiert werden. Es geht hier um Prioritätensetzung und die Glaubwürdigkeit von Bildungspolitik.

Entsprechend verhält es sich mit der Besoldung der Schulleitungen. Diese werden bei vergleichbaren Aufgaben zu den Leitungsstellen an ISS eine Stufe schlechter bezahlt und erhalten weniger Leitungszeit angerechnet. Dies ist in Zeiten, in denen die Leitung einer Grundschule was Aufgabenfülle und gesellschaftliche Verantwortung anbelangt den Sekundarschulen gleichzusetzen ist, nicht mehr zu rechtfertigen. Daher verwundert es auch nicht, dass insbesondere an Grundschulen Leitungsstellen länger als an anderen Schularten nicht besetzt sind oder mehrfach ausgeschrieben werden müssen, weil sich keine BewerberInnen finden.

Ein weiteres Problem sind die geringen Poolstunden für die Entlastung von Lehrkräften, die besondere Aufgaben und Funktionen an Grundschulen übernehmen und diese zum Teil mit hohem zeitlichem Aufwand zusätzlich zu ihrem Deputat erbringen, beispielsweise Krisenteam, Fachkonferenzleitungen, Koordinierungsaufgaben. Anders als an allen anderen Schularten gibt es an Grundschulen neben der Schulleitung auch keine weiteren Funktionsstellen.

Schwierige Arbeitsbedingungen

Viele Grundschulgebäude sind in einem baufälligen Zustand. Vor Jahrzehnten als Provisorium eingerichtete Gebäude wurden sie dauerhaft genutzt und haben ihre Stabilität im Laufe der Jahre eingebüßt. Drei Schulgebäude in Steglitz-Zehlendorf mussten im April gesperrt werden, nachdem StatikerInnen mangelnde Standfestigkeit diagnostiziert hatten. Die teils maroden Gebäude verschärfen die ohnehin erschwerten Bedingungen im Ganztagesbetrieb. Zwar hat der Senat die Misere erkannt und im März noch für das laufende Jahr mehrere Millionen Euro zur Schulsanierung bereitgestellt, aber nun zeigt sich, dass die bezirklichen Hochbauämter überlastet sind und Schwierigkeiten haben, die Mittel zeitnah zu verbauen. Den Schulen aber läuft die Zeit davon! Dabei muss nicht nur die Gebäudesubstanz an vielen Standorten dringend ertüchtigt werden. Auch die Ausstattung mit Medien und Lernmitteln ist vielfach nicht mehr zeitgemäß. Da die Budgets der Schulen für Lehr- und Lernmittel nicht ausreichend sind, bezahlen viele PädagogInnen ihre Unterrichtsmaterialien oft aus eigener Tasche. Auch der tendenzielle Rückgang des Elternengagements bei wach-senden Anforderungen an die PädagogInnen vor allem im Ganztag belastet deren Arbeit, insbesondere an sogenannten »Brennpunkt--Grundschulen«. Hier sind Elterngespräche und Klassenkonferenzen häufig und müssen wegen des gebundenen Ganztages oft nach 16 Uhr in der eigentlich frei zu gestaltenden Arbeitszeit abgehalten werden, ebenso Teamsitzungen und Gesamtkonferenzen. Für die betroffenen PädagogInnen dauert ein solcher Tag dann zehn Stunden und mehr.

Grundschulen müssen gestärkt werden

Der Arbeitsplatz Grundschule ist ein erfüllender, aber auch sehr anspruchsvoller. Die Anforderungen und Belastungen haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen, ohne dass seitens der Senatsverwaltung hierauf angemessen reagiert wurde. Die Arbeit der PädagogInnen an Grundschulen wird unter Wert entlohnt. Das trotz der sich stetig verschlechternden Arbeitsbedingungen dennoch hohe Verantwortungsbewusstsein für die anvertrauten Kinder wird auf beschämende Weise von den Regierungsparteien ausgenutzt, indem sie mit Hinweis auf den Landeshaushalt eine Aufwertung der Grundschulpädagogik ablehnen. Dies wird Konsequenzen haben auf die künftige Qualität der Bildung:

Nicht nur an den Grundschulen, sondern vor allem im Hinblick auf die Zukunftsperspektive der nachwachsenden Generation. Die Ankündigungen der verantwortlichen BildungspolitikerInnen, die Grundschulen nunmehr in den Fokus zu nehmen und stärken zu wollen, sind bislang nichts als Lippenbekenntnisse

Dieser Artikel ist Teil des blz-Themenschwerpunkts „Grundschule“