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bbz 03 / 2018

Ein Angriff auf die Identität

Zum Verbot des Tragens religiöser Symbole im Schulunterricht.

Die Frage des Umgangs mit dem Kopftuch und anderen religiösen Symbolen in der Berliner Schule ist zu allererst die Frage danach, was wir als Gewerkschafter*innen eigentlich unter »Religionsfreiheit« und unter »Pädagogik« verstehen. Es ist meine feste Überzeugung, dass nur die Pädagog*innen einen wahrhaft bildenden Einfluss auf die Kinder haben, die den Kindern als ganze Personen gegenüber treten, und dass, wer wesentliche Kerne seiner Identität verleugnen muss, nicht glaubwürdig als Pädagog*in wirken kann.

Berufsverbot für Pädagoginnen

Die Identität einer Person wird ganz wesentlich durch vier Faktoren bestimmt, in die man als kleines Kind in der primären Sozialisation hineinwächst: erstens die Einbettung in den Stand, die gesellschaftliche Klasse und die Kultur der Herkunftsfamilie; zweitens die Familiensprache; drittens die Geschlechterrolle in einer jeweils kulturell definierten Ausprägung; und viertens das Bekenntnis zu und die Geborgenheit in einer Religionsgemeinschaft beziehungsweise das Bekenntnis zu und die Geborgenheit in der Gemeinschaft der Atheist*innen und Laizist*innen. Wobei letztere insofern auch eine Religionsgemeinschaft bilden, als viele ihre Überzeugungen häufig auch für die einzig wahren und richtigen erachten und mit Nachdruck – im konkreten Fall sogar mit einem Berufsverbot für Grundschulpädagoginnen – gegen alle Zweifelnden zu verteidigen bemüht sind.

Menschen, die gegen ihren Willen gezwungen werden, eine dieser vier Identitäten zu verleugnen und zu verbergen, werden immer leiden, wie wir den zahlreichen Dokumenten homosexueller Menschen entnehmen können, die bei uns bis vor kurzem noch ihre sexuelle Orientierung unter allen Umständen verleugnen mussten und davon erst 2001 durch Klaus Wowereits mutiges Outing auf offener Bühne befreit wurden.

Wer bekennenden Muslimas das Kopftuch, das sie in eigener freier Entscheidung tragen, entreißen will, maßt sich an, ihre personale Identität angreifen zu dürfen, nur weil er oder sie selbst eine andere Identität lebt und diese zur Norm für alle erheben will. Die Kopftuchgegner*innen handeln meines Erachtens klar gegen die positive Religionsfreiheit. Denn Religionsfreiheit bedeutet gemäß unserer Verfassung gerade, dass ich meiner Religiosität öffentlich Ausdruck geben darf, ohne Repressionen befürchten zu müssen.

Die Garantie einer freien Religionsausübung, die nur im heimischen Wohnzimmer gilt, ist überflüssig.
Wer Angehörigen von Religionsgemeinschaften das Tragen von religiösen Symbolen verbietet, unterstellt zudem, dass Pädagog*innen, die eine Kippa, ein Christuskreuz am Halskettchen oder einen Hijab tragen, unfähig seien, Kindern und Jugendlichen ein Vorbild für einen reflektierenden Umgang mit Religion oder Religiosität zu sein. Sie stellen in Abrede, dass eine Frau eine eigene Entscheidung für sich treffen kann, ohne anderen Menschen zubilligen zu können, ihrerseits eigene freie Entscheidungen zu treffen. Ich halte das für eine vielleicht oftmals unbedachte und ungewollte, aber in ihrer Wirkung gleichwohl schlimme Diffamierung der betroffenen Frauen.

Wer aber – im Gegensatz zur Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, die kein laizistischer Staat ist, – eine religionsfreie Gesellschaft wünscht und durch Einstellungsverbote für das Grundschullehramt herbeizuführen beabsichtigt, distanziert sich am Ende nicht nur von unserer Verfassung, sondern von der Mehrheit der Menschheit. Denn vier Fünftel der Menschheit bekennt sich zu einer Religion – was man in Berlin natürlich ignorieren kann, wenn man sich für klüger und aufgeklärter als vier Fünftel der Menschheit betrachtet.

Viele Anhänger*innen des Neutralitätsgesetzes befürchten, dass der Anblick religiöser Symbole und deren Zurschaustellung durch Pädagog*innen die Kinder überwältigen und sie sublim dazu verleiten könne, selbst religiös zu werden. Für die Berechtigung dieser Furcht gibt es aber überhaupt keinen Anlass. Es gibt nicht mal den Anschein eines empirischen Beweises, dass der bloße Anblick religiöser Symbole Kinder verleiten könnte, sich selber einer Glaubensgemeinschaft anzuschließen. Religiös wird man in aller Regel im Elternhaus oder unter dem Einfluss von Predigenden.

Religiös werden Kinder im Elternhaus

Aber Grundschullehrer*innen sind keine Predigenden. Sie sollten es zumindest nicht sein – übrigens auch keine Predigenden des Laizismus! Grundschullehrer*innen sind Entwicklungsbegleiter*innen bei der Selbstaneignung der Welt durch das lernende Subjekt. Und sie wirken in der Schule auch niemals allein und nur in einem Sinne. Gute Schulen sind gerade solche Schulen, welche Menschen ganz unterschiedlicher Überzeugungen unter einer gemeinsamen Aufgabe, nämlich der Erziehung der Jugend, zusammenfassen und den Kindern und Jugendlichen vorleben, wie Menschen ganz unterschiedlicher Überzeugungen friedlich miteinander zusammenarbeiten können – jeweils getragen vom Respekt vor der anders denkenden Kollegin.

Viele Anhänger*innen des Neutralitätsgesetzes haben an sich nichts gegen den Islam oder gegen Muslimas, interpretieren aber das Kopftuch ganz selbstverständlich und unhinterfragt als Symbol der Unterdrückung der Frau, das von den Kopftuchträgerinnen immer auch nur unter dem Druck von Eltern oder Verwandten getragen würde. Sie ignorieren, dass es auch bloß ein Symbol des Bekenntnisses zur eigenen ethnischen und kulturellen Herkunft oder schlicht ein modisches Accessoire sein kann wie vor Jahren das Palästinensertuch. Sie ignorieren auch, dass heute sehr viele Frauen, gerade in akademischen Berufen, das Kopftuch freiwillig tragen, weil sie sich ihre Identität nicht mehr verbieten lassen wollen.
Wenn die Lehrerin oder eine Erzieherin selber ein Kopftuch trage, so die Angst der

Kopftuchgegner*innen, würde sie aber autoritären Eltern, die ihre Töchter frühzeitig unter das Kopftuch zwingen wollen, als Argumentationshilfe dienen und damit der Unterdrückung der Frau Vorschub leisten. Da aber alle aufgeklärten Menschen gegen den Zwang in religiösen Fragen sind, wäre es besser, Kopftücher und in deren Folge auch alle anderen religiösen Symbole aus der Schule zu verbannen.

Hier wäre zu fragen: Wer sind eigentlich die Unterdrückenden? Ist es die Pädagogin, die sich trotz und mit ihrem Kopftuch für eine Tätigkeit im Schuldienst bewirbt? Oder sind nicht der Vater oder die Mutter oder andere Verwandte, die das Mädchen unter ein Kopftuch zwingen wollen, die Unterdrückenden? Dann wäre zu fragen: Was kann die Lehrkraft dafür?

»Aber der Staat muss doch in Religionsfragen neutral bleiben!«, rufen die Anhänger*innen des Neutralitätsgesetzes. Ich halte das für Unsinn. In Erziehungsfragen kann und darf der Staat nicht neutral sein. Er ist es auch gar nicht: Er bezieht beispielsweise im § 1 des Schulgesetzes ganz klar Position für eine wünschenswerte kulturelle Aufklärung auf der Basis des Christentums und in Bezug auf den Nationalsozialismus für eine dezidiert antifaschistische Gesinnung, die bei den Schüler*innen herbeizuführen alle Berliner Lehrkräfte verpflichtet sind. Und das ist auch gut so!

In Bezug auf die Religiosität der Lehrkräfte handelt das Land Berlin auch nicht neutral, sondern bevorzugt derzeit ganz eindeutig und sehr einseitig die Religion der Gottlosen: den entschiedenen Laizismus. Damit handelt Berlin aber als Land selbst gegen den Beutelsbacher Konsens, der in einer liberalen Gesellschaft die Grundlage allen wertebezogenen pädagogischen Han-delns bildet und auf den anstelle des Neutralitätsgesetzes alle Lehrkräfte durch einen einfachen Zusatz im Arbeitsvertrag leicht verpflichtet werden könnten.

Auf die Frage, was eigentlich tatsächlich geschieht, wenn Muslimas mit Kopftüchern in öffentlichen Grundschulen unterrichten, haben wir eindeutige Erfahrungen aus jenen Bundesländern, in denen das erlaubt ist, Bremen und Niedersachsen: Es passiert in der Regel überhaupt nichts! Den Kindern ist es völlig wurscht. Sie kennen ja Kopftuch-trägerinnen aus dem Stadtbild und haben selten erfahren, dass von ihnen irgendeine Gefahr ausgeht.

Den Kindern ist es wurscht

Ich frage mich immer wieder: Wieso werden Menschen, die von einem Verfassungsrecht Gebrauch machen und sich auch öffentlich zu einer Religionsgemeinschaft bekennen, in den Augen so vieler anderer Menschen zur gefährlichen Person, der man keine Anstellung in der Grundschule geben darf? Könnte es einfach mangelnde Gewöhnung an eine neue Herausforderung der multikulturellen Gesellschaft sein? Ich vermute, dass wir nach dem zu erwartenden Scheitern des Neutralitätsgesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht Lehrerinnen mit Kopftuch in wenigen Jahren genau so harmlos und selbstverständlich finden werden, wie Lehrkräfte, die sich zur Homosexualität bekennen.


Neutralitätsgesetz
Die Landesdelegiertenversammlung der GEW BERLIN beschäftigte sich im Herbst 2017 intensiv mit dem Berliner Neutralitätsgesetz. Die Redaktion hat sich deshalb entschlossen, in den nächsten Ausgaben der bbz einige Beiträge zum Thema wiederzugeben.