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bbz 06 / 2018

Ein Erzieher meldet sich zu Wort

Die Broschüre »Murat spielt Prinzessin« verpflichtet Erzieher*innen, sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in Kitas zu thematisieren. Erzieher*innen werden in der Diskussion übergangen.

Es ist Sonntag, und eigentlich könnte ich heute etwas anderes machen. Doch als Erzieher verfolge ich die Diskussion um die Broschüre »Murat spielt Prinzessin, Alex hat zwei Mütter und Sophie heißt jetzt Ben«. Die Broschüre soll in der Auflage von 2.000 Exemplaren an jede Kita in Berlin verschickt werden und wurde im Auftrag der Senatsverwaltung entwickelt. Sie ist für uns Erzieher*innen bindend. Die aufgeführten Handlungsanweisungen sollen im Sinne einer Inklusionspädagogik im Kita-Alltag umgesetzt werden. Die CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus möchte das Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in den Kitas ausklammern und hat gefordert, die Verteilung der Broschüre zu stoppen. Dargestellt wurde der Streit als Konflikt zwischen CDU, der AfD und Springer-Presse auf der einen und Rot-Rot-Grün sowie der GEW auf der anderen Seite. Mir ist das zu schwarz-weiß. Als Fachkraft fühle ich mich nicht gehört, sondern einfach übergangen.

Kita-Praxis und Erzieher*innen sind seit über zehn Jahren auf Grundlage von rechtlich verbindlichen Vorgaben und pädagogischen Leitlinien wie dem Kitaförderungsgesetz (KitaFöG) und dem Berliner Bildungsprogramm in einem Prozess der Veränderung. Die Arbeit mit Kindern soll sich an deren Lebenswelt, an den Themen, Fragen und Interessen der Kinder orientieren.

Wir Erzieher*innen sollen nun den Kindern offensiv erzählen, dass es in der Tier- und Pflanzenwelt mehr Geschlechter gibt und auch bei uns Menschen nicht alles so eindeutig sei wie es die Kinder auffassen. Wir sollen unsere eigenen binären Geschlechterrollen als normal reflektieren und pro forma Unterstützung leisten für verschiedene Gruppen von Kindern. Ich soll mich laut Broschüre zur Thematisierung verpflichtet fühlen.

Eine Pädagogik von oben nach unten

Gerade wegen der enthaltenen rechtlichen Verpflichtung hat der Ansatz der Broschüre nichts mehr zu tun mit einem projekt-orientierten, alltagsorientierten und vor allem an den Interessen der Kinder orientierten pädagogischen Angebot. Die Verpflichtung widerspricht in meinen Augen moderner Pädagogik, ja der Inklusion. In der Broschüre wird richtigerweise festgestellt, dass wir Erzieher*innen alle Anweisungen in einem komplexen pädagogischen Alltag umzusetzen haben. Natürlich intervenieren wir bei Diskriminierung von Kindern gleichgeschlechtlicher Eltern. Genauso wie wir uns verpflichtet fühlen, bei anderen Formen der Diskriminierung und des Mobbings zu intervenieren. Wir unterstützen Jungs beim Zöpfe tragen und Kleider anziehen. Wir verteidigen die Kinder sogar vor ihren Eltern. Und natürlich unterstützen wir Mädchen dabei, mit Autos zu spielen und sich stark zu fühlen. Ich bin ein Freund davon, dies durchaus offensiv im Gespräch mit Eltern zu vertreten. Sei es kurz im Alltag oder gut geplant in einem Elterngespräch. Es gibt auch entsprechendes Informationsmaterial.

Wir machen das, wenn es nötig ist. Ich gehe, schon lange bevor es die Broschüre gab, bereits auf sexuelle Vielfalt ein. Auch meine Kolleg*innen sind keine Hinterwäldler*innen und erklären den Kindern, dass gleichgeschlechtliche Liebe möglich ist. Nicht groß und breit. Aber altersgerecht. Das ist ein wichtiges und gutes Stichwort. Kinder entwickeln Intimität, erkennen sich selbst und ihren eigenen Körper. Tabuisierung hat noch niemandem etwas gebracht. Daher ist es auch legitim, Kinder sich selbst als Junge und als Mädchen erkennen zu lassen.

Die Broschüre übersieht: Jedes Kind hat sehr individuelle Förderbedarfe und braucht Unterstützung in sehr unterschiedlichen Bereichen. Mir bringt eine Broschüre nichts, die mir erst einmal mehr Arbeit aufbürdet und darüber hinaus nicht viel mit der Lebenswelt eines Kindes in der Kita zu tun hat.

Die Themen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt werden zum Glück mittlerweile in den Ausbildungen thematisiert. Die gesellschaftliche Akzeptanz setzt sich mehr und mehr durch. Krasse Homophobie wird seltener. Andere Themen bleiben aber.

In Kitas gibt es krasse Missstände

Wenn die Broschüre als Angebot daher kommen würde, könnte ich anders reagieren. So aber nehme ich wahr, dass den Autor*innen andere krasse Missstände in den Kitas schon fast egal zu sein scheinen. Mit sozialer Verantwortung gegenüber den Kindern hat das dann nicht mehr so viel zu tun.

Zum Beispiel wird vernachlässigt, dass im Bildungsprogramm und dem KitaFöG immer noch nicht steht, wie viel Vor- und Nachbereitungszeit wir als Erzieher*innen bekommen sollen, um unsere Arbeit ordentlich verrichten zu können. Mir fällt auch auf, dass der Fachkräftemangel der Erzieher*innen zwar mit einigen Mitteln wie etwa der berufsbegleitenden Ausbildung oder dem vermehrten Einsatz von Sozialassistent*innen, vermittelt durch Zeit-arbeitsfirmen, angegangen wird. Strukturelle Veränderungen zur Personalgewinnung erfolgen jedoch sehr schleppend.

Der Personalschlüssel ist in Berlin immer noch so erschreckend, dass zwar einige Leute die Ausbildung anfangen, jedoch nicht lange genug im Beruf durchhalten, an die Schulen wechseln oder weiter studieren. Es gibt kein effektives Konzept, um Langzeitausfälle aufzufangen, so dass die verbliebenen Kolleg*innen den Wegfall vor Ort bewältigen müssen.

Teilzeitverträge sind immer noch ein Problem in der Branche, sie sind gekoppelt an die unterschiedlichen Verträge der Eltern mit den Einrichtungen. Der »Kitagutschein« begrenzt die mögliche Anwesenheit des Kindes, entsprechend des elterlichen Bedarfs. Berufstätige Eltern haben Anspruch auf mehr Zeit ihrer Kinder in den Kitas. Die Fachkräfte werden dementsprechend zeitsparend eingesetzt und mit Teilzeitverträgen ausgestattet, weil die Träger das so wollen und mit Wirtschaftlichkeit statt sozialer Verantwortung argumentieren.

In den Kitas fehlt es an Coachings für Eltern. Eigentlich müsste es in jeder Einrichtung für 50 Kinder eine*n Familientherapeut*in oder Sozialarbeiter*in geben. Logopäd*innen, Ergotherapeut*innen und Physiotherapeut*innen müssten in den Einrichtungen genügend Kapazitäten vorfinden, um ihre Arbeit zu leisten und nicht ausgelagert werden in ihre eigenen Praxen. Die Sprachförderung sollte nicht erst ab einem Anteil von so-und-so-vielen Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache eine einfache Verbesserung des Personalschlüssels erbringen, sondern alltagsintegriert bei jedem Kind erfolgen, egal, ob die Eltern »deutsch« sind oder nicht. Die Zuschläge für Gebiete mit Quar-tiersmanagement könnten entfallen, wenn man die genannten Maßnahmen treffen würde und für alle Einrichtungen vielfältiges Personal gewinnen könnte.

All dies würde es uns als Erzieher*innen sicher erleichtern, auch mit dem Thema sexuelle Vielfalt angemssen umzugehen. Ich als Erzieher fühle mich in der geführten Diskussion um die Broschüre übergangen.


Die Broschüre »Murat spielt Prinzessin« ist zurzeit vergriffen. An vielen Kitas ist bisher kein Exemplar angekommen.