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bbz 06 / 2019

»Ein System, das nicht funktioniert, muss man ändern«

In Berlin gibt es zu wenig Kitaplätze und zu wenig Erzieher*innen. Das führt zu Überlastungen in Kitas und Jugendamt. Der Stadtrat für Arbeit, Soziales und Gesundheit in Treptow-Köpenick, Gernot Klemm (Die Linke), sieht eine Lösung in der Veränderung des Belegungssystems

Sehr geehrter Herr Klemm, die Kita-Krise ist ein Problem in aller Munde. Aber welche Probleme haben wir und wie würden Sie die Krise lösen?

Klemm: Die Probleme liegen auf dem Tisch. Das System ist im Moment komplett überlastet. Die Möglichkeiten des Quereinstiegs und der berufsbegleitenden Ausbildung bringen zur Zeit etwas Entlastung, reichen aber nicht. Meiner Meinung bedarf es auch einer Veränderung des bestehenden Systems, wie Kitaplätze in Berlin vergeben werden und wie das System Kita finanziert wird, um die Kitakrise mittel- und langfristig aufzulösen. Das geht damit los, dass die bezirklichen Jugendämter die Gewährleistungsverpflichtung haben, also die Nachweispflicht von Kitaplätzen. Denn jedes Kind hat einen gesetzlichen Anspruch auf einen Kitaplatz. Wir verfügen aber über keinerlei Instrumente, um Kitaplätze zu belegen. Wir haben weder die Kitaaufsicht noch haben wir Belegungsrechte. Wir können zurzeit nichts Anderes machen, als die Eltern selbst: bei den Kitaträgern um Kitaplätze für Kinder betteln. Das System steht auf dem Kopf. Notwendig ist es, es wieder auf die Füße zu stellen. Das bedeutet, dass die Jugendämter wieder die Belegungsrechte für Kitaplätze bekommen.

 

Wieso die Jugendämter?

Klemm: Grundsätzlich ist es in diesem Land so, dass der der bezahlt, auch bestellt. Berlin bezahlt, Berlin muss dann auch entscheiden, wer Kitaplätze bekommt.

 

Und wie stellen Sie sich das vor?

Klemm: Die bezirklichen Jugendämter »kaufen« bei den Kitaträgern fürs Kitajahr ein Platzkontingent und entscheiden danach, mit welchen Kindern welcher Kitaplatz belegt wird.

 

Also für einen Pauschalbetrag, der dann die Kosten für das Jahr abdeckt.

Klemm: Ja. Auch wenn das natürlich nicht so einfach ist. Natürlich geht das nur mit einem differenzierten Durchschnittskostensatz unter Berücksichtigung des Alters der Kinder, der Betreuungszeiten und von Integrationskindern. Das ist die Voraussetzung für eine Planungssicherheit der Kitaträger und der Jugendämter. Heute wird der Kitaplatz über den Kitagutschein finanziert, wenn der Platz belegt ist. Das führt dazu, dass viele Kitaträger nur bedingt Interesse haben, ab Mitte des Kitajahres überhaupt noch Plätze freizuhalten. Für die Kitaträger ist es nach gegenwärtigem System attraktiv, wenn man Kinder möglichst mit der Betreuung in der Kernzeit von Anfang bis Ende des Kitajahres hat. Alles andere wirft die Träger vor Planungsprobleme. Das würde sich sofort ändern, wenn der Kitaplatz übers Kitajahr vom Jugendamt verlässlich finanziert wird. Zudem würden die Kitaträger von den platzsuchenden Eltern entlastet werden. Außerdem kann das Jugendamt bei der Platzvergabe die Ortsnähe berücksichtigen.

 

Könnte das Jugendamt solche Koordinierungsaufgaben bewältigen? Also auch Wünsche der Träger etwa bei Geschlecht und Alter des Kindes mitzubestimmen?

Klemm: Ja, da bin ich mir sicher. Natürlich müsste die Kita-Koordination gestärkt werden. Zugleich würden zwei ihrer aktuellen Hauptbeschäftigungen wegfallen: einerseits die Bettelei nach Kitaplätzen für hunderte Kinder bei den Kitaträgern, andererseits die Bearbeitung und vor allem die Dokumentation der Bearbeitung von Kitaklagen platzsuchender Eltern, die zwischenzeitlich fast den gesamten Bereich lähmt. Nebenbei würde man noch ein ausgesprochen kompliziertes Datenschutzproblem lösen, wenn die Behörde über Platzvergaben entscheidet.

Kann man in den erwähnten Durchschnittskostensatz tarifliche Vereinbarungen einbauen?

Klemm: Wenn Berlin ein Platzkontingent bei dem Träger kauft, gilt das Vergaberecht. Das heißt, Berlin kann die Kriterien, nach denen die Plätze belegt werden – wie Tarifbindung, Nachhaltigkeit und Qualitätsstandards – festschreiben.

 

Wenn es so einfach wäre, warum macht es niemand?

Klemm: Im Moment sind meiner Meinung nach alle Beteiligten nicht dazu bereit. Die Senatsverwaltung nicht, weil die Einführung eines neuen Systems immer kompliziert ist; die Kitaträger auch nicht, weil ihnen das bestehende System sehr viel Autonomie gewährleistet.

Das System hat gut funktioniert in Zeiten, wo es keinen Mangel an Kitaplätzen gab. Mit dem System sind massenhaft Kitas an freie Träger übertragen und damit Risiken ausgelagert worden.

Diese Risiken möchte ich wieder einsammeln. Wenn ein Jugendamt zu viele Plätze ordert, käme es in Erklärungsnot beim Finanzstadtrat. Sind es zu wenig Plätze, muss mit Trägern nachverhandelt werden. Aber das ist dann ein Problem zwischen Verwaltung und Trägern.

Die erste Aufgabe des Systems ist es, Kinder mit Kitaplätzen in einer guten Qualität zu versorgen. Und das geht nur mit guten Arbeitsbedingungen und verlässlichen Rahmenbedingungen für die Kitas. Genau das kann das gegenwärtige System nicht. Wenn ein System nicht mehr funktioniert, muss man es ändern.

 

Wie soll das Problem der Eingewöhnungen zu Beginn des Kitajahres ausgeräumt werden?

Klemm: Das Problem der Eingewöhnungszeiten wäre mit einem Schlag weg. Heute gibt es eine Stichtagreglung, bis wann eingewöhnt werden muss, damit der Platz für das gesamte Kitajahr finanziert wird. Dieser Stichtag fällt weg, wenn die »gekauften Plätze« sowieso ganzjährig finanziert werden. Die Kinder könnten mit ihren Eltern die Eingewöhnungen ab dem Tag beginnen, ab dem sie den Kitaplatz in Anspruch nehmen.

 

Kann man im Kostensatz auch Gelder für Sanierungsarbeiten einrechnen?

Klemm: Ja. Kostensatzverhandlungen, die natürlich auch den Investitionsanteil berücksichtigen, wären wie bei den heutigen Kostenblattverhandlungen regelmäßig neu zu führen.

Haben Sie zur Bewältigung der Kita-Krise noch einen Einfall?

Klemm: Es ist leider völlig klar, dass uns die Überlastung des Kitasystems noch Jahre beschäftigen wird. Das löst weder das alte noch ein neues System auf der Stelle. Aufgrund des Fachkräftemangels, durch Krankheit und Fluktuation wird eine sehr hohe Belastung bleiben. In so einer Situation sind Notmaßnahmen unumgänglich. Dazu gehört der Ausbau der Möglichkeiten des Quereinstiegs. Dazu gehören auch Überbelegungen. Da muss sich Berlin ehrlich machen. Es ist ein langer Weg zu gehen, um das System wieder ins Lot zu bringen. Bis dahin muss die Mehrarbeit für die Erzieher*innen anerkannt und auch spürbar besser vergütet werden. Ein hilfreicher Schritt dabei wäre es, den Erzieher*innen, die überbelegte Gruppen zu betreuen haben, während der Zeit der Überbelegung einen Zuschlag von zum Beispiel 200 Euro monatlich zu zahlen.

 

Die andere Option wäre, die Arbeitsbedingungen von Erzieher*innen der Überbelegung anzupassen. Dass man zum Beispiel ihre Vor- und Nachbereitungszeiten erhöht, und ihnen die Möglichkeit bietet, diese in der Kita zu erledigen und nicht zuhause in der Freizeit.

Klemm: Alles, was irgend möglich ist, um die Erzieher*innen in der gegenwärtigen Situation zu entlasten, muss geprüft und schnellstens umgesetzt werden. Ziel muss es natürlich bleiben, die Qualität nach dem Kita-Fördergesetz, also den »Normalzustand«, so schnell wie möglich wiederherzustellen.

 

Das war ein gutes Schlusswort. Ich bedanke mich für das Gespräch.