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Schule

Entfesselt die Schulleitungen

Die Corona-Krise hat nicht nur Probleme, sondern auch die Gestaltbarkeit von Schule ins Bewusstsein gerückt. Joschka Falk entwirft ein Reformpaket, das Schulen durch gestärkte Führungskräfte zum Aufbruch ermutigen könnte.

Parapente dans les Alpes
Foto: Adobe Stock

Mit den Schulschließungen wurde die Debatte um die Gestaltung zukunftsfähiger Schulen ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gerückt. Dabei wurde wie unter einem Brennglas sichtbar, an welchen Stellen es im Schulsystem hapert. Vielerorts wurde zwar in kürzester Zeit improvisiert und nachgebessert. Dennoch bleiben grundsätzliche Mängel bei der Ausstattung mit IT, der technischen Infrastruktur, dem digitalen Knowhow der Lehrkräfte und der unzeitgemäßen Gestaltung von Unterricht weiterhin sichtbar. Mit einigen Monaten Abstand können jetzt erste Lehren aus der Corona-Krise formuliert werden. Unter ihrer Berücksichtigung zeigt sich eine vielleicht einmalige Chance: Schulen können dank der Erfahrungen der vergangenen Monate aufbrechen und eine zeitgemäße Lernkultur etablieren: Beziehungsbasiert, partizipativ, entgrenzt und – wo immer es sinnvoll ist – digital.

Es fehlt nicht an Wissen, sondern an Vernetzung

Die Lehren aus dem Lockdown liegen dabei auf der Hand. Unterricht lebt, unabhängig von der Beschäftigung mit Material, von Beziehungen. Sind diese intakt, spielt es eine untergeordnete Rolle, ob Lernen synchron oder asynchron begleitet wird. Entscheidend ist vielmehr, dass eine fähige Lehrkraft ein zum Alter der Schüler*innen, zum Inhalt und zum Grad der Selbstständigkeit passendes Unterrichtsangebot formuliert. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass Zeit und Raum dabei überwindbar sind. Damit das Beste aus »beiden Welten«, aus Präsenz- und digitalem Fernunterricht, auch in Zukunft zusammengeführt werden kann, braucht es entsprechende technische Ausstattung sowie individuelle und systemisch verstärkte Fortbildungsbemühungen. Für ein nachhaltiges In-Gang-setzen dieser Schulentwicklungsprozesse fehlt es nicht an Wissen, sondern an Ressourcen und einem höheren und systematischeren Grad der Vernetzung auf allen Ebenen.

Als Schulentwickler beschäftigt mich die Frage, welcher Ansatz die größte Wirkung für eine sinnvolle Weiterentwicklung der Schule nach Corona entfalten könnte. Deshalb möchte ich den folgenden Überlegungen eine These voranstellen: Damit Schulen die Chance der Aufbruchsstimmung nutzen können, braucht es allen voran aufgewertete und gestärkte Schulleitungen! Denn: Sie sind die Schlüsselstelle zur Gestaltung einer sinnvollen und wirksamen (digitalen) Schulentwicklung über die Krise hinaus. Als Change Agents müssen sie den Wandel gestalten, die Lehren aus der Corona-Krise systematisch verarbeiten und den Entwicklungsprozess einer dazulernenden Organisation moderieren. Lobende Worte allein werden dabei nicht reichen. Es braucht eine umfangreiche Empowerment-Strategie für die mittlere Führungsebene des Schulsystems.

Ich bin davon überzeugt, dass die Leitung einer Schule ab einer Größe von 180 Schüler*innen immer von zwei Personen plus zwei Stellvertreter*innen ausgeübt werden sollte. Diese Personen sollten unterschiedliche Aufgabengebiete betreuen, grob aber nach eher verwaltenden Tätigkeiten (Typ Schul-Manager*in) und eher entwickelnden Tätigkeiten (Typ Schul-Entwickler*in) getrennt werden. Bei größeren Schulen ab 540 Schüler*innen sollte das Schulleitungsteam durch einen beziehungsweise ab 900 Schüler*innen durch zwei weitere Stellvertreter*innen unterstützt werden. Für die Auswahl geeigneter Kandidat*innen sollte mehr auf die charakterliche Eignung sowie deren inhaltliches Vor-Engagement geachtet werden als auf Dienstalter oder formelle und diskussionswürdige Ergebnisse dienstlicher Beurteilungen. Für schulisches Führungspersonal ist eine entsprechende Vorqualifikation in Bereichen des Leadership, der Schuladministration, der Schulentwicklung und der Personalführung unabdingbar, auch durch universitäre Masterstudiengänge.

Eigenverantwortliche Entscheidungen treffen

Andreas Schleicher, Bildungsforscher und Direktor der Bildungsabteilung der OECD, äußerte im Juni in den Tagesthemen, dass in Deutschland »nur 13 Prozent aller bildungsrelevanten Entscheidungen vor Ort in den Schulen getroffen« werden. Tradition im Bildungssystem sei es, »dass das Ministerium in Deutschland Vorgaben macht und die vor Ort umgesetzt werden«. Schleicher dürfte damit vor allem Entscheidungen aus den Bereichen der Prüfungskultur, der Unterrichtsorganisation sowie der Haushalts- und Finanzverantwortlichkeit meinen. Hier fehlt es Schulleitungen im staatlichen Bildungssystem an Gestaltungsspielräumen. Dürften Schulleitungen etwa vor Ort eigenständiger darüber entscheiden, inwieweit sie die Stundentafel aufbrechen, eigene Stundenpläne zimmern oder alternative Formen der Leistungsfeststellung und -beurteilung entwickeln, würden wir erleben, dass Schulen sehr viel unterschiedlichere und kreativere Lösungen zur eigenen Gestaltung fänden. Diese individuellen Wege würden das Besondere einzelner Schulen hervorheben, eine stärkere Identifikation innerhalb der Schulgemeinde fördern und automatisch dazu führen, dass sich besonders gelungene Konzepte stärker verbreiten – auch wenn derartige Freiheiten selbstverständlich Rahmenbedingungen, Standards und Begleitung durch professionelle Schulentwicklungsmoderator*innen bräuchten.

Darüber hinaus sollten alle Schulen über ein eigenes Budget verfügen, um Anschaffungen und Investitionen unabhängig von einem Sachaufwandsträger tätigen zu können. Dieses Budget müsste einen beträchtlichen Teil des Schul-Etats einer Kommune ausmachen, um vor allem hinsichtlich der Ausstattung eigenverantwortlich handeln zu können. Die Wir-müssen-schauen-was-wir-kriegen-Mentalität vieler Schulen könnte dadurch in ein verantwortungsvolles und selbstbestimmtes, systematisch aufeinander aufbauendes, Was-brauchen-wir-wirklich-Konzept übergehen. Gleiches gilt für den Bereich der Personalverantwortlichkeit. Was wäre das für eine Revolution, wenn Kolleg*innen die Chance hätten, zu Schulleitungen zu finden, die zu ihnen passen – und umgekehrt.

Gesundheitsschutz für Schulleitungen

Hört man sich unter Schulleiter*innen um, kann derzeit von Zufriedenheit kaum eine Rede sein. Nach der repräsentativen Studie »Leadership in German Schools« der Universität Tübingen geben 53 Prozent der Befragten an, unter Stress und Überlastung zu leiden. Bei etwa jeder sechsten Schulleitung wurden sogar Hinweise auf einen Burnout gefunden. Es ist ein verheerendes Paradoxon: Die Gestalter*innen der Schulen vor Ort sind aufgrund der Fülle an Aufgaben häufig so stark belastet, dass es in vielen Fällen nur zum Verwalten reicht – und das schreibe ich ohne jeden Vorwurf an die einzelnen Personen. Mehr ist bei der derzeitigen Arbeitsbelastung kaum zu schaffen. Neben den bisher beschriebenen Maßnahmen bräuchte es ein vernünftiges Beratungsangebot, das speziell auf die Bedürfnisse von Schulleitungen abgestimmt ist, zum Beispiel durch Coaching oder Supervision und/oder ein Berater*innen-Netzwerk, das ins eigene Haus geholt werden kann. Das gilt auch für alle fachlichen Fragen, für die ein*e Schulleiter*in heute quasi nebenbei Expert*in sein muss. Ich denke vor allem an Fragen der Gebäudeausstattung, des Brandschutzes, des Gesundheitsschutzes, der digitalen Ausstattung, des Datenschutzes und vieles mehr. Für diese Fragen braucht es Fachpersonal, das gegen Bezahlung an die Schulen kommt. Mit dieser Auslagerung könnte überdies Rechtssicherheit hergestellt werden – ein nicht zu unterschätzender Faktor, der Schulleitungen in der Praxis häufig dazu zwingt, lieber die »Füße still zu halten«, um kein Risiko einzugehen. Diese Haltung ist dann in erster Linie Selbstschutz. Denn Stress, Überlastung und die Angst vor (rechtlichen) Fehltritten wirken sich im schlimmsten Fall negativ auf die Gesundheit aus. Die Sorge um das Wohlergehen von Lehrkräften und Schulleitungen sollte jedoch eine der höchsten Prioritäten für jeden Arbeitgeber sein.

Entlastungsstunden für eine echte Qualitätsoffensive

Neben der Freistellung der Schulleiter*innen vom Unterricht, braucht es zudem einen nicht zu geringen Stundenpool »Schulentwicklung und Fortbildung«, über den das Führungsteam frei verfügen kann. Mit diesen Entlastungsstunden können engagierte Kolleg*innen versorgt werden. Deren Einsatz wird dadurch ein Stück weit kompensiert und andere Kolleg*innen motiviert, ebenfalls Aufgaben aus dem Bereich der Schulentwicklung zu übernehmen. Zusätzlich sollte eine Stunde Fortbildung pro Woche fest im Unterrichtsdeputat aller Lehrkräfte verankert sein. Dank dieser Entlastungsstunden könnte eine »von innen« getragene Qualitätsoffensive beginnen und das ganze Kollegium in Schwung versetzen. Erfolgreiche Schulen haben derartige »Graswurzelprozesse« bereits eigenverantwortlich initiiert. Dass diese jedoch ohne entsprechende strukturelle Voraussetzungen anlaufen, liegt immer am überdurchschnittlichen Engagement Einzelner, das für die Breite der Schullandschaft und die Verschiedenheit der Kollegien nicht der Maßstab sein darf.

Eine Kultur der Potentialentfaltung

Dem Schulleitungsteam käme in dieser Skizze eine veränderte Rolle zu, die auch eine modernisierte Haltung erfordert. Einzelkämpfer*innen mit der Ich-und-meine-Schule- Denkweise können den Herausforderungen der heutigen Zeit nicht mehr adäquat begegnen. Schulleiter*innen müssen in der Lage sein, die Weisheit der Vielen zu erkennen und zu orchestrieren. Führungskräfte sollten ihren Fokus dabei mehr auf das Aufspüren von Potenzialen richten und Lehrkräfte und das kollaborative Arbeiten in Teams fördern, wo immer es geht. An deutschen Schulen schlummert derart viel didaktische Kompetenz, Kreativität, Engagement, Begeisterung und Wissen, das häufig brachliegt, weil alles von Alltagsbewältigung und zu hohen Unterrichtsdeputaten aufgefressen wird. Schulleitungsteams müssen diese brachliegenden Schätze entdecken und ihnen eine Plattform samt Entfaltungsmöglichkeiten schaffen. Sie führen ihre Schule leise, mit flachen Hierarchien und strukturiert, und idealerweise so, dass ein Kollegium davon wenig spürt und vielmehr selbst »vorne dran« steht.

Ein solches Reformpaket könnte Schulleitungen Kraft zum Aufbruch geben, um sich und ihrer Schule nach der Krise ein neues Selbstverständnis zu geben. Sie könnten mit ihren Kolleg*innen zum Beispiel über fundamentale und mutige Fragen zur Organisation des Lernens diskutieren und tradierte Strukturen auflösen, wo immer es nötig ist. Dabei geht sicher nicht alles und auch nicht alles auf einmal, obwohl wir derzeit so frei wie nie sein dürften. Man kann und sollte diese Monate nutzen, um auszuloten, was zur Leitbildentwicklung sowie der Profilschärfung, und im übertragenen Sinne zur Entfesselung der eigenen Schule möglich ist. Jetzt gilt es, danach zu fragen, wie viel Klassenzimmer, wie viel Stoffvermittlung, wie viel Stundenplan, wie viel Prüfungen und Benotung, ja letztlich wie viel »alte Schule« wir umgestalten (oder sogar abschaffen?) können und müssen. Denn nur wer sich von ausgedienten Mustern befreit, kann wirklich Platz für Neues schaffen. Abschließend stellt sich die Frage, ob Schulleiter*innen mehr verdienen sollten.

Schulleiter*innen verdienen mehr

Die Antwort lautet Ja! Neben der überfälligen Angleichung der Lehrer*innengehälter der unterschiedlichen Schularten muss die Besoldung von Schulleiter*innen angehoben werden. Das liegt in erster Linie an den immer komplexeren Aufgaben, die ihnen seitens der Schuladministration aufgebürdet werden. Zudem können Schulleiter*innen nicht mehr nur als Lehrkräfte mit einigen Zusatzaufgaben angesehen werden. Sie üben vielmehr einen neuen und eigenständigen Beruf aus. Ihre Leistung ist mit Führungskräften eines mittleren Unternehmens vergleichbar. Und letztlich darf man auch nicht vergessen: Durch die Steigerung der Attraktivität von Schulleiter*innenstellen kann gewährleistet werden, überhaupt noch genug Bewerber*innen zu finden. Bei bundesweit etwa 1.000 unbesetzten Schulleitungsstellen ist das in manchen Bezirken nämlich schon lange keine Selbstverständlichkeit mehr.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
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