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bbz 02 / 2016

Entkoppelt die Oberstufen

Sind eine eigene Oberstufe oder die Kooperation mit einem nahen Gymnasium für Sekundarschulen die einzigen sinnvollen Lösungen, oder gibt es nicht phantasievollere Alternativen? Ein Gedankenmodell.

Die Berliner Reform der Oberschulen ist vollzogen und alle sind glücklich. Die teuren und ergebnisschwachen Hauptschulen sind abgeschafft und alle Integrierten Sekundarschulen (ISS) sind gleich. FreundInnen der hergebrachten Hierarchie können sich zugleich über das etwas gleichere Gymnasium freuen. Alles prima?

Nur gibt es doch noch ein Problem, denn die ISS sind eben alles andere als gleich. Die ISS mit eigener Oberstufe, meist frühere Gesamtschulen, haben eine ausgewogen zusammengesetzte SchülerInnenschaft und hohe Anziehungskraft. Es gibt aber auch viele ISS, die keine eigene Oberstufe haben, dafür aber umso mehr leistungsschwächere SchülerInnen, solche, deren Eltern ihnen nicht helfen können, oder SchülerInnen, die das Gymnasium hinausgeworfen hat.

Eine Schule, die der Hauptschule ähnlich ist

So ist inzwischen eine Schulform entstanden, die der alten Hauptschule sehr ähnlich ist. Von einer solchen ISS kann man zwar theoretisch auch auf die Oberstufe und zum Abitur kommen, aber eben nur theoretisch. Und theoretisch konnte man das ja auch schon von der Hauptschule. Dies führt dazu, dass die meisten Schulen ihre eigene gymnasiale Oberstufe wollen. Denn mit einer eigenen Oberstufe ändert sich die SchülerInnenzusammensetzung und die Schule wird stärker nachgefragt. Im Wettbewerb der Schulen hat man dann gewonnen.

Ein Wettbewerb produziert aber auch VerliererInnen. Denn die schwächeren SchülerInnen müssen ja auch irgendwo hin, und so konzentrieren sie sich an den sogenannten »Problemschulen« – Hauptschule reloaded. Es handelt sich also um eine Reform, die alles verändert hat, damit alles beim Alten bleiben kann. Ein Wettbewerb mit systematischer Produktion von VerliererInnen als gesetzliche Grundlage für ein öffentliches demokratisches Bildungssystem?

Dabei geht es doch um die freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Artikel 2 im Grundgesetz und das Recht auf Bildung nach § 2 des Berliner Schulgesetzes, die jedem Kind und Jugendlichen zustehen. Niemand soll verlieren. Das bedeutet, schulisches Lernen darf nicht auf einige wenige traditionelle Inhalte beschränkt werden, sondern muss der Vielfalt der Vorerfahrungen, Fähigkeiten und Interessen der Kinder und Jugendlichen entsprechen. Und die unterschiedlichen Profile, die sich daraus ergeben, müssen gleichwertig sein. Denn der Zugang zu allen Bildungswegen und -abschlüssen muss so lange wie möglich offen bleiben, und zwar real und nicht nur auf dem Papier.

Die soziale Schere durch das Abitur

Zur freien Entfaltung der Persönlichkeit gehört aber auch, den Lebensunterhalt verdienen zu können. Das heißt, schulische Bildung muss auch auf die Arbeitswelt Bezug nehmen, ohne sich etwa damit den UnternehmerInnenverbänden und deren kurzfristigen Interessen auszuliefern. Schule muss ein Ort der sozialen Integration sein. Das heißt nicht, die Ideologie einer pseudoromantischen Volksgemeinschaft unseligen Angedenkens wiederzubeleben. Schule sollte aber der Ort sein, wo Kinder und Jugendliche die heterogene Vielfalt der Gesellschaft verstehen und auch aushalten lernen.

Diesen Ansprüchen genügt unser Schul-system generell nicht, aber am Beispiel der Oberstufe wird das besonders deutlich. Man versteht darunter keineswegs eine Schule für alle, sondern üblicherweise die gymnasiale Oberstufe, die zum Abitur führt und traditionell per Definition für einen selektierten Teil der Jugendlichen da ist. Daraus resultiert das Paradox, dass Gesamtschulen, also die heutigen ISS, als integrierte Schulen nur mit einer keineswegs integrativen gymnasialen Oberstufe die versprochene Gleichwertigkeit mit dem Gymnasium erlangen können.

Aus der Sicht der Einzelschule ist es allerdings logisch, dass alle ISS diese paradoxe Gleichwertigkeit durch eine gymnasiale Oberstufe anstreben. Aber wird damit nicht bildungspolitisch die gymnasiale Oberstufe zu einer Art Fetisch, mit dessen Beschwörung man den höchsten Rang der schulischen Bildung erklimmt? Dabei gerät völlig aus dem Blickfeld, dass der Bildungsbegriff dieser Oberstufe sehr eng gefasst ist, indem er technische und berufliche Qualifikationen ausgrenzt und damit auch große Teile der SchülerInnenschaft. Selbst der Reformansatz der 70er Jahre, der über die herkömmlichen gymnasialen Inhalte hinausgehen sollte, konnte das nicht ändern.

Oberstufe nicht um jeden Preis

Immerhin sollte die neue Oberstufe eine individuelle Profilbildung ermöglichen, die ohne Schulwechsel durch die Kombination selbst gewählter Kurse und Leistungsschwerpunkte erreicht werden kann. Das setzt natürlich eine gewisse Größe der Oberstufe voraus, um aus einem weiten Angebot wählen zu können.

Mit einer solchen Mindestgröße als Voraussetzung können aber viele ISS keine eigene Oberstufe erhalten, wenn die denn pädagogisch sinnvoll sein und nicht nur dem Prestige der Institution dienen soll. Das ist auch das Argument der Verwaltung, mit dem sie vielen ISS die Oberstufe versagt. Viel glaubwürdiger wäre das natürlich, wenn es auch für sehr kleine Gymnasien gelten würde, deren Oberstufen mehr schlecht als recht durch organisatorisch aufwendige Kooperationen und das inhärente Beharrungsvermögen etablierter Institutionen am Leben erhalten werden. Es stellen sich zwei Aufgaben:

  1. den Zugang zur gymnasialen Oberstufe gleichwertig für alle zu organisieren,
  2. perspektivisch eine Oberstufe zu entwickeln, die berufliche und technische Qualifikationen einschließt und so zu einer Schule für alle wird.

Die Oberstufe muss sich verselbständigen

Dazu müssen wir den Blick über den deutschen Tellerrand hinaus auf die internationale Bildungslandschaft und ihre Strukturen richten. Dann sehen wir Oberstufen als selbständige Schulen, die ihre SchülerInnen aus mehreren Schulen der Sekundarstufe I, seien es Gymnasien oder ISS, bekommen. Sie sind dann groß genug, um mit ihren Wahlmöglichkeiten ein weites Interessenspektrum abzudecken. Auch das Abitur in zwei und in drei Jahren Oberstufe könnte dann parallel angeboten werden.

Außerdem kommen die Oberstufenzentren (OSZ) in einem solchen System aus ihrer Randstellung heraus. Es handelt sich dann um Oberstufen mit einem besonderen Profil, dem berufsfeldorientierten eben, mit dem Angebot beruflicher Abschlüsse, schulisch oder im dualen System, und dazu dem Abitur. Damit wäre auch die zweifelhafte Konstruktion vom Tisch, einzelne ISS den OSZ zwecks Kooperation zuzuordnen.

Können und sollen denn SiebtklässlerInnen bei ihrer Entscheidung für eine Sekundarschule schon eine Vorentscheidung für ein Berufsfeld treffen?

Diese Schulstruktur wäre auch ein Schritt zur Überwindung der Barriere zwischen der beruflichen und der sogenannten allgemeinen Bildung. Kombination allgemein- und berufsbildender Bildungsgänge oder der Wechsel zwischen ihnen würden normal und leicht organisierbar werden. Das entspräche auch eher der Reali-tät vieler individueller Bildungswege.

Gymnasien ohne eigene Oberstufe

Gymnasien wären dann in der Sekundarstufe I integrierte Sekundarschulen mit jeweils speziellen Profilen, die die bisherige Ausrichtung der Gymnasien fortführen würden. Da könnte es natürlich auch ein altsprachliches Profil geben, wenn sich dafür Kundschaft findet. Natürlich hätten Gymnasien dann kein Probejahr und dürften niemanden abschieben, es sei denn, jemand ginge freiwillig. Dies trifft aber bisher ohnehin nur wenige, nämlich 279 SchülerInnen berlinweit. Böse Zungen führen das auf sinkende SchülerInnenzahlen zurück, Gymnasien wären in ihrer Existenz gefährdet, wenn sie zu viele SchülerInnen durch Auslese verlieren. OptimistInnen erkennen jedoch einen Wandel der Schulkultur weg von der Auslese hin zur Förderung. Dementsprechend könnten Gymnasien für ein breiteres Spektrum von SchülerInnen ein breiteres Wahlpflichtangebot bieten und verschiedene Formen der inneren und äußeren Leistungsdifferenzierung.

Ob die Politik das jemals anpackt, weiß niemand. Bis auf die Linken findet sich keine Partei, die sich überhaupt mit der Frage beschäftigt. Das zu erwarten ist scheinbar utopisch für Deutschland, wegen der Verlogenheit der Debatte. Angeblich geht es darum, alle Kinder und Jugendlichen optimal zu fördern und das Niveau zu sichern. In der Realität geht es aber um die Sicherung realer oder oft auch eingebildeter Privilegien, die das bestehende System exklusiv für bestimmte Gruppen bietet und die man mit Klauen und Zähnen verteidigt; ohne zu prüfen, ob sie tatsächlich noch Vorteile sind. Wenn 42 Prozent der Population in der siebten Klasse ein Gymnasium besuchen, dann ist der elitäre Glanz der Schule für die allerbesten wohl eher eine nostalgische Illusion.

Bleibt die GEW, die schon aus organisationspolitischen Gründen ein Interesse an einer weniger illusionären und realistischeren Behandlung des Problems haben müsste. Allerdings müsste dann etwas mehr passieren als allgemeine Sympathiebekundungen für die Gemeinschaftsschule. Es müsste schon ein Gesamtkonzept her, hinter dem sich eine große Mehrheit der Mitglieder versammeln könnte.