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SenioRita

Es dauerte einige Zeit, bis alle ihren Platz gefunden hatten

Dagmar Poetzsch über ihre zahlreichen Aktivitäten in Beruf und Gewerkschaft vor und nach der Wende.

Foto: GEW BERLIN

Dagmar, du hast eine bunte berufliche Biographie! Zunächst ausgebildeter Außenhandelskaufmann, bist du umgeschwenkt zur Kindergärtnerin. Erzähl mal!
Poetzsch: Na ja, das hatte vor allem mit meiner privaten Situation zu tun. Ich bin 1969 in die zweieinhalbjährige Ausbildung zum Außenhandelskaufmann gegangen und habe dann im Verwaltungsbereich gearbeitet. Meine Arbeitsstelle lag nahe der Friedrichstraße, ich habe aber in Lichtenberg gewohnt. Das war immer ein elend langer Anfahrtsweg. Als ich dann mein erstes Kind bekam, gab es deswegen erhebliche Schwierigkeiten. Denn die Krippe war erst ab 6 Uhr geöffnet, auf meiner Arbeitsstelle sollte ich aber schon um 7.15 Uhr sein. Der lange Weg und die schlechte Verkehrsanbindung führten immer wieder dazu, dass ich nicht pünktlich anfangen konnte. Ich habe mir dann einen anderen Arbeitsplatz gesucht, auch in der Verwaltung, aber eben hier in der Nähe. Als wir 1980 nach Marzahn umgezogen sind und ich inzwischen vier Kinder hatte, ging das dann auch nicht mehr. Glücklicherweise war hier in Marzahn, wo wir übrigens noch immer wohnen und noch immer voll zufrieden sind, gleich um die Ecke eine Kita, wo die Kinder schnell hinkonnten. Und dann hat es sich ergeben, dass ich dort als Helferin angefangen habe.

Und dann hast du noch eine Ausbildung drangehängt?
Poetzsch: Genau! Ich bin in einem Frauensonderstudiengang in eineinhalb Jahren zur Erziehungshelferin ausgebildet worden und habe anschließend noch einmal anderthalb Jahre Ausbildung drangehängt. Im Juni 1989 war ich schließlich als Kindergärtnerin fertig ausgebildet. Die Ausbildung fand berufsbegleitend statt, ich habe also immer voll gearbeitet. Allerdings musste ich wegen der Kinder bei vollem Lohnausgleich nur 35 Wochenstunden arbeiten und es gab Freistellungen für den Ausbildungsunterricht. Aber trotzdem, wenn mein Mann mich nicht voll unterstützt hätte, wäre das nicht gegangen. Und die Bedingungen waren damals so, dass wir trotz der vier Kinder und der beruflichen Arbeit immer auch genug Freizeit hatten für das Kino, für das Theater und zum Tanzen am Wochenende. Da habe ich eigentlich nichts vermisst.

Und kaum warst du fertig ausgebildet, da wurde alles anders!
Poetzsch: Das kann man wohl sagen! Ich war damals schon eine ganze Weile gewerkschaftlich aktiv gewesen in der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung (GUE). Am 2. Mai 1990 bin ich dann sogar noch zur Vorsitzenden der BGL–Betriebsgewerkschaftsleitung für Marzahn gewählt worden. Was mich dann wiederum in eine andere Laufbahn geführt hat: ich wurde freigestellte Personalrätin. Zunächst war ich im Übergangspersonalrat und dort sogar im Vorstand, obwohl die damalige ÖTV (heute Verdi) das eigentlich verhindern wollte, dass GEW-Leute in die Leitung kommen. Ich war dann bis 1996 freigestellte Personalrätin im Bezirksamt Marzahn und ab 1992 für die GEW außerdem im Hauptpersonalrat (HPR), wo ich schließlich bis 2013 auch im Vorstand war.

Das waren ja sowohl spannende als auch sehr unsichere Zeiten, oder?
Poetzsch: Man musste sich ja völlig neu orientieren! Mein Mann war von heute auf morgen arbeitslos, hatte dann mehrere Stellen in kleineren Betrieben, die aber Pleite gegangen sind. Da hatten wir es im Öffentlichen Dienst doch wesentlich besser und waren abgesichert. Aber auch die Gewerkschaftsarbeit war jetzt eine völlig andere. In der DDR hatten wir als Gewerkschafter*innen wesentlich eine soziale Funktion: Verteilung der Prämien, der Ferienplätze, Umsetzung von Beschlüssen und so was. Da war also Betrieb und Belegschaft eigentlich eins. Dass der Betrieb oder die Geschäftsleitung durchaus andere Interessen hatte als die Belegschaft, dass wir möglicherweise streiken müssen für unsere Forderungen, das mussten wir erst lernen. Und wir haben alle vertreten: die Köche, die Hausmeister, die Erzieher*innen, auch den Verwaltungsbereich der Lehrkräfte. 

Also alle, die im Bildungsbereich gearbeitet hatten!
Poetzsch: Ja, genau: Ein Betrieb, eine Gewerkschaft. Das war an und für sich auch in der Wendezeit unproblematisch. Bei den Erzieher*innen war deutlich ein Veränderungswille erkennbar, die Lehrkräfte waren allerdings etwas desorientiert, so mein Eindruck. Wir hatten damals bei den bezirklichen Mitgliederversammlungen der GUE ja immer so 200 Leute sitzen, und bei den Lehrkräften wurde deutlich, dass sie Schwierigkeiten hatten, selbst zu entscheiden, ohne Vorgaben abzuwarten.

Gab es da verschiedene Phasen?
Poetzsch: Es dauerte natürlich einige Zeit, bis alle ihren Platz gefunden hatten. Und dann waren plötzlich einige Kolleg*innen weg. Ich habe ja im Hauptpersonalrat diese Phase der Kündigungen hautnah mitbekommen.

Und parallel dazu lief ja auch die Auflösung der GUE!
Poetzsch: Da liefen ziemliche heiße Diskussionen. Wir haben auch nicht mehr die Beiträge an die GUE überwiesen und stattdessen Gespräche mit der GEW angefangen, an denen alle zehn östlichen Bezirke beteiligt waren. Das waren spannende Kontakte mit den West-Kolleg*innen! Für mich war klar, dass der alte Weg vorbei war, dass wir was Neues machen müssen und uns nicht weiter festhalten sollten an den alten Sachen. Es gab ja immer noch einige, die nicht richtig kapieren wollten, dass sie jetzt im Kapitalismus waren. Dass sie nicht einfach weitermachen können wie bisher, dass sie sich umstellen müssen. Aber andere hatten auch erhebliche Selbstzweifel wegen der Vergangenheit und waren fast am Boden zerstört. Das kannte ich glücklicherweise gar nicht.

Was hattest du für einen Eindruck von der GEW damals?
Poetzsch: Schwer beeindruckt war ich erst einmal. Dieses schöne Haus in der Ahornstraße allein für die GEW! Und alle konnten so gut reden. Damals hatten die Ostbezirke jeweils auch einen Partnerschaftsbezirk. Wir hatten eine Partnerschaft mit Steglitz. Und als wir zu deren Mitgliederversammlung eingeladen wurden, die fand damals am Fichtenberg-Gymnasium statt, waren wir doch etwas erstaunt, wie wenig Leute da gekommen sind. Nur 30 bis 40 Leute. Und Norbert Wendt meinte noch zu uns, dass wegen uns mehr als sonst gekommen sind! Da war ich schwer verwundert: Wir hatten ja Mitgliederversammlung, bei denen immer so um die 200 Leute da waren!

Und wie waren die Ost-Kolleg*innen drauf?
Poetzsch: Die mussten sich ja alle erst neu sortieren! Und dann gab es ja auch noch zwei Gewerkschaften, die ÖTV und die GEW! Immer muss man überlegen und entscheiden, daran musste man sich auch erst gewöhnen! Ich habe vor allem denen im Erziehungsbereich gesagt, wenn sie inhaltlich arbeiten wollen, dann sollen sie in die GEW gehen, wenn sie nur die Tariftrommel schlagen wollen, dann in die ÖTV. In der GEW macht man beides, habe ich immer gesagt: inhaltliche Arbeit und Kampf für Geld und Arbeitsbedingungen. Hinzu kam natürlich, dass in dieser Übergangszeit auch einige verloren gegangen sind. Es gab einerseits eine große Zersplitterung durch die vielen neu entstandenen freien Träger, die eben auch unterschiedliche Bedingungen hatten und nicht so viel Kontakt untereinander. Und dann haben sich auch nicht wenige völlig neu orientiert, sind also aus dem Kita-Bereich ganz ausgestiegen. Das betraf vor allem die jüngere Generation. Die Älteren, also die jenseits der 40, waren dagegen vor allem daran interessiert, wie sie sich absichern und ihre Stellung behalten können. Oft war es ja auch so, dass darf man nicht vergessen, dass sie in dieser Zeit die einzigen in der Familie waren, die noch einen einigermaßen sicheren Job hatten. Den wollte man natürlich nicht riskieren und blieb deshalb lieber still. 

Du warst aber nicht still, sondern hast dich sogar noch einmal beruflich verändert.
Poetzsch: Ja, nach den sechs Jahren als freigestellter Personalrat, wollte ich doch mal wieder in die Praxis. Ich bin dann aber nicht in die Kita gegangen, sondern in die Sozialberatung, wo ich 1997 als gesetzliche Betreuerin gearbeitet habe. 
Meine Aufgabe war es, psychisch kranke Leute zu unterstützen und zu beraten. Das war eine sehr spannende Arbeit, aber auch sehr anstrengend und aufwühlend. Das war nicht einfach, weswegen ich dann doch nochmal den Arbeitsplatz gewechselt habe und Arbeitsberaterin wurde. In dieser Funktion habe ich Sozialhilfeempfänger*innen bei der Arbeitssuche unterstützt. Das habe ich gerne gemacht. Da konnte ich sogar meine etwas verstaubten Russisch-Kenntnisse verwerten. Denn das war die Zeit, als die Spätaussiedler*innen kamen. Ich bin dann 2007 noch einmal freigestelltes Vorstandsmitglied des Hauptpersonalrats geworden. Und weil der vorzeitige Ausstieg 2013 mit der Prämienregelung nicht geklappt hat, habe ich nochmals 18 Monate im Sozialamt Bereich Hilfe zur Pflege gearbeitet. Zum 1. Januar 2015 war dann aber Rentenbeginn!

Aber auch im Ruhestand hast du nicht Ruhe gegeben, sondern dich im Marzahner DGB- Kreisvorstand und in Lichtenberg für die Verlegung von Stolpersteinen engagiert! 
Poetzsch: Ich war ja auch schon in meiner GEW-Zeit für den DGB aktiv und bin jetzt seit 2005 ehrenamtliche Kreisvorsitzende in Marzahn-Hellersdorf. Das war aber alles nicht ganz einfach, denn bei den Gewerkschaften sind die Beharrungskräfte oft sehr stark: Kreisverbände gab es ja beim DGB in der Regel nicht. Deswegen hat es auch eine Weile gedauert, bis diese Kreisverbände anerkannt wurden. Generell müssen sich der DGB und die Gewerkschaften tatsächlich stärker und schneller bewegen, sonst bleiben die jungen Mitglieder weg. Die GEW liegt ja da doch ziemlich gut, bei den anderen Gewerkschaften sieht es schon wesentlich schlechter aus.

Und wie bist du zu den Stolpersteinen gekommen?
Poetzsch: Über meine Gewerkschaftsarbeit wurde ich vom Licht-Blicke Netzwerk für Demokratie angesprochen, weil die noch für die Betreuung der bezirklichen Stolpersteingruppe jemand gesucht haben. Ich mache das seit 2012 für den Bezirk und wir haben seitdem immerhin schon 147 Stolpersteine in Lichtenberg verlegen können. Diese Aufgabe erfüllt mich voll und ganz, denn ich finde es wichtig, dass an diese Schicksale erinnert wird und es erstaunt mich immer wieder, wieviel neue Sachen man herausfindet, wenn man erst einmal anfängt zu recherchieren. Und es wird einem eine große Dankbarkeit entgegengebracht. Viele Angehörige der Ermordeten haben ihren Kindern ja nichts erzählt, viele erfahren erst von uns Details über das Leben ihrer ermordeten Verwandten. Und über unsere Arbeit haben sich auch Verwandte wiedergefunden, die vorher nichts voneinander wussten. 

Ihr seid ja eine richtige Gruppe, die sich auch das ganze Jahr über trifft und um die Stolpersteine kümmern.
Poetzsch: Genau! Wir recherchieren zu Opfernamen, organisieren Verlegungen von Stolpersteinen und ganz wichtig sind die Putzrundgänge, wobei hier auch nochmal die biografischen Daten der Menschen verlesen werden. Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist – sagt der Talmud. Und deshalb ist es mir auch ein Bedürfnis, dass die Öffentlichkeit mit dabei ist. Hier vermisse ich übrigens auch ein wenig das Engagement von Schulen, gerade auch der »Schulen ohne Rassismus«. Die machen zwar viele wundervolle Projekte, aber dann wird auch alles wieder schnell vergessen. Hier fehlt das langfristige Engagement. So haben Schulen beispielsweise Patenschaften für Stolpersteine übernommen und wissen das heute gar nicht mehr! Es gibt natürlich auch Leuchttürme wie bei uns das Barnim-Gymnasium, das mit uns gut zusammenarbeitet und sich stark engagiert. Aber das müssten viel mehr Schulen machen.

Dagmar, deinem Aufruf für ein beständiges Engagement schließen wir uns an. Und bedanken uns bei dir für das interessante Gespräch.    

Dagmar Poetzsch ist Jahrgang 1952 und trat im September 1969 in den FDGB ein. 1990 war sie aktiv bei der Neugestaltung der Gewerkschaftsstrukturen und ab Mai 1990 gewählte BGL-Vorsitzende der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung in Marzahn. Mehrere Jahre freigestellte Personalrätin in Marzahn und im Hauptpersonalrat (HPR), dort auch Vorstandsmitglied. Seit Eintritt in die GEW auch Mitglied der Landesdelegiertenversammlung (LDV) sowie von 1993 bis 1997 und von 2005 bis 2011 stellvertretende Vorsitzende der GEW BERLIN. Seit 2005 Vorsitzende des DGB Kreisverbandes Ost, zuständig für Marzahn Hellersdorf, Lichtenberg und Hohenschönhausen. Bis Dezember 2019 Vorsitzende des DGB Bezirksfrauenausschuss Berlin-Brandenburg.
 

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46