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Glosse

Im Krisenmodus

Foto: GEW BERLIN

Jung gegen Alt!«, kräht das Nachbarskind und hält ein Beil in der Hand. Mir wird ganz anders. Paul ist vier. Wenn ihm nun das Beil aus der Hand fällt? Sein Vater huldigt der freien Erziehung: »Man kann Kinder nicht vor schlechten Erfahrungen schützen, man kann sie nur entsprechend informieren.« Hat der Vater das Kind auch darüber »informiert«, dass die Corona-Krise eigentlich nur ein Konflikt zwischen Jung und Alt ist? Ich bin froh, dass uns ein Zaun trennt! In unserer Waldsiedlung leben Familien (und Rentner) recht privilegiert. Wer einen eigenen Garten hat, kann dort beispielsweise Tischtennisplatten und Trampoline aufstellen. Diese Spielgeräte sind mittlerweile genauso Mangelware wie Hefe und Blumenerde.

Alle Eingesperrten misten jetzt ihren Haushalt bis in die Grundmauern aus oder bauen ihren Garten um. Der Nachbar mit dem freiheitlichen Erziehungsstil (eben brüllt eins seiner Kinder wie am Spieß, es macht wohl gerade eine Erfahrung) lässt seinen Frust an der Natur aus. In nur drei Tagen hat er den gesamten Vorgarten mit allen Büschen und Blumen plattgemacht. Hier kommt jetzt praktischer Beton hin. Und eine Tischtennisplatte. Die Fitness-Studios sind schließlich geschlossen. Die Familie ist verwundert, dass sich zur Brutzeit tatsächlich ein, zwei Vogelnester im Gebüsch befinden. Wozu die schöne alte Lärche am Zaun gefällt werden muss, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich habe aber jetzt freie Sicht auf prächtige rote Hausdächer bis zum Ende der Straße, auf die nackte Terrasse nebenan und den aufgewühlten Garten. Dort zeigt Paul gerade seiner kleinen Schwester, was ‘ne Harke ist. Die trägt – wegen ihrem Bruder? – einen Schutzhelm. Die Mutter sonnt sich in ihrem kahlen Garten, und ich muss wohl oder übel ein paar Meter hölzernen Sichtschutz kaufen. Hoffentlich gibt es die Zaunelemente vorrätig! Und die systemrelevanten Handwerker sind noch vorm Winter verfügbar. Warum ziehen Menschen ins Grüne, wenn sie das Grüne nicht mögen?

Es wird Zeit, dass die Leute im Viertel wieder arbeiten gehen. Von früh bis spät wimmeln sie in ihren Gärten herum, kärchern wie wild, betreiben laut krakeelend Home-Office am Smartphone, üben im Freien Saxophon (Anfängerkurs) oder unterhalten sich über drei Grundstücke hinweg über Schutzmasken, Altenheime und Durchseuchung. Die Straßen stehen voller Kartons: fettige Waffeleisen, uralte Foto-Apparate, Wollreste, ein paar Aerobic-Videos, abgegriffene Gesellschaftsspiele, Konsalik-Romane – und was für Kostbarkeiten der Keller noch so freigibt. »Zum Mitnehmen«.

Im Nachbarschaftsforum sucht eine Frau dringend eine Epiliermöglichkeit. »Mädel, du hast Probleme!«, antwortet mein Mann. Dabei wartet er auch sehnsüchtig auf einen Friseurtermin. Statt Formschnitt trägt er jetzt wallende Locken. Im Trash-Fernsehen jammert eine »Prominente«, dass sie ohne Botox-Spritzen über die Runden kommen muss. Ihre aufgeplusterten Lippen zittern vor Empörung. Eine alte Bekannte erklärt mir per Mail, dass es in dieser Krise nicht um Viren, sondern um die Unterdrückung der Bevölkerung geht. Das würde man schon an der Körpersprache der Virologen erkennen! Ein anderer Bekannter vermutet, dass die Chinesen die Weltherrschaft übernehmen wollen.

Die Nachbarin zur Linken hat dunkle Ringe unter den Augen. Vier Personen im Home-Office – und nur drei Laptops. Das ist wirklich nicht zum Aushalten. Überhaupt, dass man seine Kinder jetzt allein beschäftigen muss, ist eine Zumutung. Vielleicht sollte man die Erzieherinnen irgendwann doch besser bezahlen? Ein Loblied auf die Lehrer singt in meiner Nähe niemand. Im Radio erzählt ein »Experte«, die Kollegen würden Kinder und Eltern mit Materialien »zuscheißen«. Wie der Lehreralltag derzeit genau aussieht, weiß eigentlich niemand so recht. Aber eins ist klar: Die bekommen ein üppiges Gehalt und haben jetzt noch mehr Freizeit. Empfehlen den Kindern »Lest mal ein Buch!« und tauchen dann ab. Meine Freundin ist Schulleiterin und ich bin heilfroh, nicht an ihrer Stelle zu sein. Woher zum Beispiel das nötige Desinfektionsmittel nehmen? Der Hausmeister gehört lautstark zur Risikogruppe. Er wird kein Absperrband in den vielen Treppenhäusern der großen Lernfabrik ziehen. Das macht die Schulleiterin selber. Sie füllt auch das Desinfektionsmittel in kleinere Behälter, verteilt Seife und Toilettenpapier. Da viele ihrer Schüler elektronisch schlecht ausgestattet sind, sitzen sie und ihr Kollegium bis in den Abend am Telefon und klären Fragen. Für die anstehenden Prüfungen hat der Fachbereich Arbeitslehre Schutzmasken genäht. Tische sind weggeräumt worden, damit die Schülerschaft Abstand halten kann. Auf dem Boden sind Markierungen aufgeklebt. Die Kollegen sind genau instruiert, wie sie den Verkehr im Gebäude zu regeln haben. Einen Tag vor der ersten schriftlichen Arbeit werden die MSA-Prüfungen allerdings für dieses Schuljahr abgeblasen …

Meine Freundin in Polen, eine Deutsch- und Englischlehrerin, hat so viel über Unterricht im Internet, über Videokonferenzen und Clouds gelernt, dass sie mir sarkastisch schreibt: »Es wäre wirklich schade, jetzt an Corona zu sterben.«

Gabriele Frydrych

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