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bbz 09 / 2017

Kategorisiert, interpretiert und funktionalisiert

Die Verordnungen der Senatsbildungsverwaltung sollen Benachteiligungen abbauen, dienen aber eher dem Wohl von Privilegierten und benachteiligen Unprivilegierte in der Praxis noch mehr

»Eines ist die allgemein anerkannte Gewohnheit, die Realität mittels hoher Abstraktionen in verschiedene Kategorien zu unterteilen: Sprachen, Völker, Typen, Farben, Mentalitäten, was jedoch weniger neutrale Etiketten sind, sondern wertende Interpretationen. Diesen Kategorien liegt der streng binäre Gegensatz von »unser« und »deren« zu Grunde, geprägt durch ständige Übergriffe, die so weit gehen können, das »Deren« ausschließlich zu einer Funktion des »Unser« zu machen«

Edward Said

 

Im Zitat benennt Edward Said, wie Worte Realität nicht nur beschreiben, sondern zugleich bewerten. Wer kategorisiert, unterscheidet in ein »Wir« und ein »die Anderen«. Dabei besteht die Gefahr, dass Privilegierte die Unterscheidungen treffen und sie zu ihrem Wohl nutzen. Ein Beispiel für eine solche Kategorisierung, Interpretation und Funktionalisierung ist bei der Senatsbildungsverwaltung zu finden.

In der Schülerförderungs- und betreuungsverordnung unterscheidet die Senatsbildungsverwaltung in Paragraph 20 Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache. Für diese Kinder soll es Förderung geben, wenn der Anteil von Grundschüler*innen nichtdeutscher Herkunftssprache mindestens 40 Prozent beträgt. Förderungsbedarf wird im sprachlichen Bereich, in der Elternarbeit sowie in der interkulturellen Erziehung gesehen. Dabei solle auf jedes Kind nichtdeutscher Herkunftssprache ein Personalzuschlag von 0,017 Stellen entfallen.

Erklärungen darüber, warum ab einer Quote von 40 Prozent zusätzliche Stellen zur Verfügung gestellt werden, sind nicht zu finden. Es ist jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Analysen zur PISA-Studie 2000 hierfür maßgeblich waren. Auch wenn mittlerweile nachgewiesen wurde, dass kein eigenständiger Einfluss des Migrant*innenanteil auf den Kompetenzerwerb besteht, so zeigten 2006 die Analysen von Baumert und Stanat zunächst, dass ab einem Migrant*innenanteil von 40 Prozent der »Leistungsnachteil« besonders ausgeprägt war. In anderen Worten, ein Anteil ab 40 Prozent von Schüler*innen nichtdeutscher Herkunftssprache würde die Leistungen der Schüler*innen deutscher Herkunftssprache besonders benachteiligen.

Daraus lässt sich schließen, dass die Hauptmotivation für die Bereitstellung von zusätzlichen Stellen die war, den »Leistungsbenachteiligungen« der Schüler*innen deutscher Herkunftssprache durch Schüler*innen nichtdeutscher Herkunftssprache entgegenzutreten. Anders lässt es sich nicht erklären, warum Schulen mit einem Anteil unter 40 Prozent keine zusätzlichen Stellen zur Verfügung gestellt werden. Besteht dann etwa kein Bedarf an besonderer Förderung? Wenn nein, würde dies der Definition von Schüler*innen nichtdeutscher Herkunftssprache widersprechen, da nach Senatsverwaltung für Bildung für diese Kinder pauschal ein erhöhter Förderbedarf besteht. Wenn ja, müssten die zusätzlichen Stellen auch bei einem Anteil unter 40 Prozent bereitgestellt werden.

Zudem wird ein Anteil von Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache ab 40 Prozent als überdurchschnittlich bezeichnet. Doch liegt berlinweit der durchschnittliche Anteil an Grundschulen bei 41,2 Prozent. Die statistische Logik legt daher nahe, dass eher Schulen mit einem Anteil unter 40 Prozent von Schüler*innen nichtdeutscher Herkunftssprache einen überdurchschnittlich hohen Anteil von Kindern deutscher Herkunftssprache aufweisen.

Außerdem werden speziell für Erzieher*innen aus Ganztagsschulen von der Senatsverwaltung keine Fortbildungen und Weiterbildungen »zur Unterstützung der gezielten sprachlichen Förderung der Kinder, der Elternarbeit sowie der interkulturellen Erziehung« angeboten. Auch ist mir keine Schule bekannt, in der hierfür zusätzliche Fachkräfte eingesetzt werden.

In derselben Verordnung in Paragraph 21 teilt die Senatsverwaltung auch mit, wie der Nachteilsausgleich für Kinder in Armut aussieht. Unter der Überschrift »Zusätzliches Fachpersonal für die Förderung von Kindern, die in ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen und in Wohngebieten mit sozial benachteiligenden Bedingungen leben« wird geregelt, dass es für diese Kinder ein Personalzuschlag von 0,01 Stellen geben soll. Das zusätzliche Fachpersonal soll durch eine »gezielte Förderung möglichen Entwicklungsbeeinträchtigungen der Kinder durch ihr Lebensumfeld entgegenwirken«.

Trotz intensiver Recherche konnte ich nicht herausfinden, welche Gebietszuschnitte als Wohngebiete mit sozial benachteiligenden Bedingungen gelten. Laut Schülerförderungs- und betreuungsverordnung Paragraph 7 werden diese Gebiete von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung festgelegt. Bei einem Telefonat mit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung wurde mir gegenüber aber erklärt, dass diese Begrifflichkeit von ihnen gar nicht verwendet wird und sie nicht wüssten, um welche Gebiete es sich handele.

Die Anfrage wurde von mir nochmals schriftlich gestellt und die Antwort war unbefriedigend. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung war scheinbar nicht darüber informiert, dass sie als verantwortliche Senatsverwaltung für die Festlegung dieser Gebiete genannt wurde. Meine Anfrage wurde von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung weitergeleitet an die Senatsverwaltung für Bildung. Die Senatsverwaltung für Bildung bat mich wiederum, mich mit meiner Anfrage an die zuständige Fachaufsicht in der Region zu wenden. Letztlich konnte die zuständige Fachaufsicht die Anfrage auch nicht beantworten und verwies auf das zuständige Jugendamt im Bezirk. Bis dato habe ich keine Antwort vom zuständigen Jugendamt erhalten.

Die Senatsverwaltung für Bildung geht davon aus, dass es bei Kindern aus sozial ungünstigen Wohngebieten und wirtschaftlichen Verhältnissen zu Entwicklungsbeeinträchtigungen kommen kann. Wie diese Entwicklungsbeeinträchtigungen aussehen könnten, wird nicht näher erläutert. Das Fachpersonal soll aber durch gezielte Förderung möglichen Entwicklungsbeeinträchtigungen entgegenwirken. Das setzt aber voraus, dass das Fachpersonal mögliche Entwicklungsbeeinträchtigungen kennt und diese von anderen Entwicklungsbeeinträchtigungen, welche nicht aus den oben genannten Faktoren entstehen, unterscheiden kann. Außerdem muss es über die nötigen Kompetenzen verfügen, um den Entwicklungsbeeinträchtigungen überhaupt entgegenwirken zu können. Leider sind im Fortbildungsprogramm der Senatsverwaltung für Bildung keine entsprechenden Angebote zu finden.

Mir ist auch hier keine Schule bekannt, in der hierfür zusätzliche Fachkräfte eingesetzt werden. Auch wenn mit der Bereitstellung von zusätzlichen Stellenanteilen von 0,01 pro Kind beabsichtigt wird, möglichen Entwicklungsbenachteiligungen entgegenzuwirken, so benachteiligt aber die gängige Praxis der finanziellen Unterausstattung der Schulen insbesondere Kinder aus sogenannten wirtschaftlich ungünstigen Verhältnissen. Denn in vielen Bezirken werden für diese Kinder die Kosten für die Lernmittel nicht übernommen. So müssen die Schulen aus ihrem eigenen Schulbudget die Kosten mitübernehmen, was zur Folge hat, dass Schulen mit einem hohen Anteil von lernmittelbefreiten Kindern strukturell benachteiligt werden. Diese Regelung kann sich negativ auf die schulischen Angebote auswirken, da die Schulen diese durch die finanzielle Mehrbelastung nicht mehr finanzieren können. Das wiederum verschärft das Armutsrisiko der Kinder. Nach der Definition der europäischen Kommission beinhaltet Armut nämlich auch, dass Personen von Kultur-, Sport- und Freizeitbereich sowie an der Teilnahme von Aktivitäten wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Art ausgeschlossen werden.

Außerdem würden auch die Faktoren »ungünstige wirtschaftliche Verhältnisse und Wohngebiete mit sozial benachteiligenden Bedingungen« nicht ausreichen, um alle Kinder, die in Armut leben, zu erfassen. Denn sogar der frühere Sozialsenator Czaja konnte unter anderem die Frage nach der Anzahl von obdachlosen Kindern nicht beantworten. Übrigens, nur fünf der zwölf Bezirke machen dazu überhaupt Angaben, und das nach unterschiedlichen statistischen Kriterien, so dass die Daten nicht vergleichbar sind. Dazu kommt noch, dass der Senat gesetzlich dazu verpflichtet ist, jährlich zum Jugendbericht auch einen Armutsbericht vorzulegen. Den letzten Bericht gab es in den 1990er Jahren. Seit dem sind die Strukturen, die Armut erfassen und bekämpfen, abgebrochen.