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bbz 04-05 / 2018

»Murat spielt Prinzessin, Alex hat zwei Mütter und Sophie heißt jetzt Ben«

Eine neue Broschüre der Bildungsinitiative QUEERFORMAT informiert Erzieher*innen über »Sexuelle und Geschlechtliche Vielfalt als Themen frühkindlicher Inklusionspädagogik«

Es stellt sich heute nicht mehr die Frage, ob die Themen Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung schon in die Kita-Praxis gehören oder überhaupt mit Kindern darüber gesprochen werden darf.

Schätzungen nach wachsen aktuell zwischen 20.000 und 200.000 Kinder in sogenannten Regenbogenfamilien auf. Letztes Jahr wurde die Ehe für alle eingeführt und das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber beauftragt, einen dritten Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde zu schaffen. Familienformen und Lebensweisen in unserer Gesellschaft differenzieren sich aus. Wir werden immer vielfältiger und offener.

Aus dem Berliner Kita-Fördergesetz, dem Berliner Bildungsprogramm und dem Parlamentsbeschluss »Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt« ergeben sich rechtliche, fachliche und politische Aufträge für Kindertageseinrichtungen, Themen geschlechtlicher und sexueller Vielfalt aktiv in die frühkindliche pädagogische Arbeit einzubringen.

Der Umgang mit Vielfalt ist Herausforderung und Auftrag

Die 140-seitige Broschüre »Murat spielt Prinzessin, Alex hat zwei Mütter und Sophie heißt jetzt Ben. Sexuelle und Geschlechtliche Vielfalt als Themen frühkindlicher Inklusionspädagogik« liefert nun eine fundierte Materialsammlung zu dem Themenkomplex. Sie wurde von der Senatsbildungsverwaltung gefördert und von der Bildungsinitiative QUEERFORMAT erarbeitet. Die Handreichung richtet sich explizit an Pädagog*innen im Bereich der frühkindlichen Bildung und liefert ihnen viele praxisbezogene Anregungen für die alltägliche Arbeit mit Kindern und auch ihren Eltern.

Im ersten Teil der Handreichung klären Grundlagentexte wichtige Begriffe und machen deutlich, welche Relevanz die Themen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt schon für die frühkindliche Bildung haben und wie wichtig ein umfassender inklusiver Umgang mit sozialer Vielfalt in der pädagogischen Praxis ist.

Wie gehe ich damit um, dass ein Kind zwei Mütter hat oder ein Junge Mädchenkleidung tragen will? Was soll ich den Eltern sagen, die nicht wollen, dass ihr Sohn das Bilderbuch über die zwei verliebten Prinzen ansieht? Auf welche Toilette schicke ich das intergeschlechtliche Kind? Die Broschüre gibt Antworten auf offene Fragen und jede Menge Impulse für den Austausch mit Kolleg*innen zum Umgang mit Vielfalt.

Der zweite Teil bietet viele Praxishilfen, unter anderem die Checkliste »Wie vielfältig ist Ihre Kita?« und konkrete Handlungsempfehlungen, wie Geschlechter- und Familienvielfalt in der Kita unterstützt werden kann. Die Broschüre ermutigt dazu, die eigene Rolle und das eigenen Handeln zu reflektieren. Sie macht deutlich, dass persönliche Unsicherheiten und Irritationen zum Prozess der Auseinandersetzung mit Vielfalt dazu gehören. Für die Kinder seien vor allem Offenheit und Interesse im pädagogischen Kontakt sehr wichtig. Schon kleine Signale könnten eine große Bedeutung haben und es sei essentiell, den Kindern zu zeigen: »Du bist in Ordnung, wie du bist.«

Pädagog*innen benötigen Informationen über die Themen geschlechtliche und sexuelle Vielfalt. Wissen stärkt sie und unterstützt ihre Arbeit. Grundsätzlich gilt es, Kinder vor Diskriminierungen zu schützen. Pädagog*innen fungieren immer als Vorbild und sollten sehr deutlich machen, dass sie Diskriminierungen nicht akzeptieren. Vielfältige Lebensweisen sollten deswegen sichtbar gemacht werden.

Familienvielfalt sichtbar machen

Im dritten Teil der Handreichung wird der Medienkoffer »Familien und vielfältige Lebensweisen« vorgestellt, den Fachkräfte einsetzen können, um mit Kindern über Geschlechter- und Familienvielfalt zu sprechen. Neben 30 Bilderbüchern enthält der Koffer ein Familienspiel sowie Fachliteratur mit spezifischen Hintergrundinformationen. Zu allen Büchern gibt es einen Steckbrief mit kurzer Inhaltsangabe, zu den Bilderbüchern zusätzliche Anregungen für den Einsatz in der Praxis.

Die Bücher präsentieren nicht die eine »Bilderbuchfamilie«. Die Bilderbuchfamilien sind so vielfältig wie die Familien der Kinder, die die Kitas besuchen. Neben dem Thema Geschlechter- und Familienvielfalt geht es grundsätzlich ums Anderssein, um Ausgrenzung, um Behinderung, Kultur, Herkunft, Identität und Selbstbestimmung. Die Kinder können so die Vielfältigkeit der Gesellschaft kennen, akzeptieren und als Bereicherung erleben lernen.

Die Broschüre überzeugt aus Sicht der Autorin neben den umfangreichen Hintergrundinformationen und praktischen Tipps vor allem dadurch, dass sie auch die Kinder und ihre Eltern selbst in Zitaten und Interviews zu Wort kommen lässt. So berichtet eine Mutter, wie sie sich mit ihrem intergeschlechtlichen Kind unterhält: »Die meisten Menschen sind Junge oder Mädchen, du bist ein Puzzle aus beiden und kannst dir später mal aussuchen, was du sein möchtest – oder so bleiben.« Eine Erzieherin kann verunsicherte Eltern beruhigen: »Kinder, die sich als Elfe verkleiden, werden später keine Elfe werden.«

Und eine weitere Mutter stellt fest: »Es ist erstaunlich, was alles möglich ist auf dieser Welt. Die Kinder haben das akzeptiert und fertig. Für die Kinder ist das viel weniger ein Problem als für die Erwachsenen.«

Die Broschüre ist für jede*n von uns empfehlenswert. Die Änderung des Blickwinkels fällt Erwachsenen meistens nicht mehr so leicht wie Kindern. Dabei kann die Broschüre behilflich sein.


Queerformat
Die Handreichung und der Medienkoffer zum Download auf der QUEERFORMAT Webseite:  www.queerformat.de
Der Medienkoffer ist in zahlreichen öffentlichen Bibliotheken Berlins für vier Wochen ausleihbar. Die Druckfassung der Handreichung ist zurzeit leider vergriffen.


CDU und AFD wollen Broschüre verbieten
CDU und AfD machen massiv gegen die Handreichung mobil und fordern die Senatsverwaltung auf, die Herausgabe zu stoppen, da Fragen der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt ihrer Ansicht nach nicht in Kindertagesstätten gehören. Eine entsprechende Petition hat bereits über 40.000 Unterschriften. Die Kritiker*innen suggerieren dabei, dass sich die Broschüre direkt an die Kinder richtet. Thomas Kugler, Bildungsreferent und Mitautor, sagt dazu: »Es geht in der Handreichung nicht um einen sexualpädagogischen Zugang, vielmehr orientiert sie sich an gesetzlichen und fachlichen Vorgaben, die wie das Kita-Fördergesetz sexuelle Identität und Geschlecht thematisieren.«