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Schule in der Pandemie

Nichts ist mehr normal!

Warum die Pandemie im Bildungswesen tiefgreifende Konsequenz und Visionen fordert.

Das wirkungsvolle Ausloten des „Einerseits-Aber-Andererseits ist der Stoff, aus dem gute Erörterungen gemacht sind. Das weiß jeder Deutschlehrer. Leser einer ordentlichen Zeitung sind darüber hinaus auch den Genuss mitunter sehr kunstvoller Formen einer solchen dialektischen Auseinandersetzung gewohnt. Mit den realen Widersprüchen und Ambivalenzen, die uns die voranschreitende Pandemie immer wieder aufs Neue aufzwingt, verhält es sich jedoch ganz anders: Die gehen ordentlich auf die Nerven, vor allem aber an die Substanz.

Verstörende Widersprüche

Einerseits scheint unter Corona auch nach einem Jahr vieles noch halbwegs normal (also unverändert): man ist selber wahrscheinlich nicht an COVID erkrankt, man weiß oft auch von keinem schweren Verlauf im eigenen Umfeld, leidet in Deutschland eher selten an materieller Not… Ja, vielen geht es in dieser Hinsicht gleich gut wie sonst, z.B. uns Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Andererseits ist da eben doch dieses diffuse, verstörende Etwas: die abstrakten Zahlen und Parameter, die in ihrer Bedrohlichkeit so gar nicht konkret werden wollen; Bilder aus Intensivstationen und Altersheimen, die surreal-apokalyptisch anmuten; Zahlen von fließenden Geldern, die handelsübliche Taschenrechner nicht erfassen können, und deren Tragweite sich kaum erschließen lässt. An die ausdrucksarmen Maskenantlitze, Busse ohne Vorne und ebenerdigen, stummen Lauf-So bzw. Steh-Da-Kommandos haben wir uns ja schon längst gewöhnt… Irgendwie unheimlich.

In den Schulen stellt uns Corona auch vor verstörende Widersprüche. Einerseits, die stark suggerierte Normalität: „Wir unterrichten ganz regulär nach Stundenplan“, heißt es oft. Oder auch: „Klassenarbeiten können geschrieben werden“. Hierzu bestelle man die Klasse extra in die leere Schule, teile in zwei, halte Abstand, und entlasse schließlich nach erfolgter Leistungserbringung die jungen Geschöpfe unvermittelt wieder nach Hause. Und natürlich wird der Lehrplan weiterhin erfüllt, halt eben nur mit opportunen Abstrichen. Andererseits, sind da die Sorgen, die zu Fragen werden, und die Fragen, die bei wachsendem Erkenntnisstand Gewissheiten weichen müssen: die Bildungsschere geht auseinander (wir sehen es in den eigenen Lerngruppen zunehmend deutlich), unsere gesetzlich verankerten Bildungsziele sind im zweiten Lockdown kaum noch zu halten, die Notbetreuung ist vielerorts personell kaum noch zu leisten und eigentlich deutet doch alles daraufhin, dass die Auswirkungen Coronas auf die psycho-soziale Entwicklung unserer Kinder ein Teil des noch kaum ermesslichen Rattenschwanzes der Pandemie sein werden. Das wird eine schwere Last für unser aller Zukunft sein. Da ist doch nichts mehr normal!

Zugang zu neuen Denkräumen

Die Eingeständnisse, die jetzt gerade noch so unter starken Druck gemacht werden, wirken in diesem Licht etwas mickrig: das Probejahr oder die MSA-Prüfungen werden ausgesetzt, das Abitur verschoben, die Schwelle für den Anspruch auf Notbetreuung angehoben… Solche Maßnahmen sind sicherlich sinnvoll, aber sie verfehlen bei weitem das Ziel, den mächtigen Entwicklungen Rechnung zu tragen. Längst sind von Kolleg*innen schon ganz andere Vorschläge zu hören, die in all ihrer Radikalität doch viel näher an der Sache sind, weil sie Zugang zu neuen und nötigen Denkräumen verschaffen: man solle die Lehrpläne vorübergehend aussetzen und vor Ort entschieden lassen, was Gegenstand des gemeinsamen Lernens sein soll (sagt die eine). Man möge die Schulzeit um ein Jahr verlängern (meint ein anderer). Leistung habe jetzt nichts zu suchen: wenn man für die Kinder da sein, sie durch diese Zeit führen und dabei noch ein wenig lernen könne, sei das schon allerhand. Das wünschen sich jetzt viele. Mit Kurzsichtigkeit hat das alles nichts zu tun: vielmehr zeugt es von einer bodenständigen Fähigkeit zur Vision.

Corona ist auch ganz ohne Bomben sicherlich die schlimmste Katastrophe nach dem Zweiten Weltkrieg. Joe Biden illustrierte dies bei seiner Amtseinführung schlicht und doch eindrucksvoll: 400.000 ist für sein Land gleichzeitig die Anzahl der Corona-Toten in einem Jahr und die der gefallenen Soldaten im Kampf gegen die damaligen Feinde. Analogien wie diese helfen, die Wucht zu erfassen, man denkt aber nicht oft genug in solcher Klarheit – gerade dann nicht, wenn man sich von der Ereignisflut mitreißen lässt.

Wir Pädagog*innen sind aber eigentlich nicht so: Wir lassen uns nicht einfach umwehen, wenn Dinge plötzlich kompliziert werden. Wir halten stattdessen inne, reflektieren und gehen wieder in die Aktion. Passivität oder Resignation sind uns fremd: mit unserer Arbeit können wir Menschen formen, und damit sind wir auch imstande, die Realität von morgen nachhaltig mitzugestalten. Das ist und bleibt doch unser Ethos und niemand kann uns den ausreden!

Deswegen sind wir jetzt auch gefragt, anzupacken und für eine gesellschaftlich dienliche Bildung in und nach der Pandemie einzuschreiten. Wir können das besser als kein anderer, denn wir sind vom Fach, verstehen unser Handwerk, kennen unsere Kinder und haben ein durchaus am rechten Fleck sitzendes Herz. Wenn man uns trotzdem nicht den nötigen Raum geben möchte, sollten wir also unbedingt den Mut und auch den Wagemut aufbringen, ihn uns zu nehmen. Auch das ist ein Teil unseres Auftrags in der Ära Corona.