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Schule

Sonja stört

Die Hilflosigkeit des Schulsystems bekommen vor allem Kinder zu spüren, die intensive und fachkundige Unterstützung benötigen.

Portrait of unfortunate stray kid lying on the board in the dirty alley, shallow depth of field.
Foto: Adobe Stock

Irgendwo in Deutschland: Suspendierung, Hausunterricht, keine Betreuung im Hort, weil das Kind zu »schwierig« sei und Personal fehlt. Viel zu häufig werden Kinder, die ohnehin schon Schwierigkeiten haben, ausgeschlossen. Sonja ist eine von ihnen. 

Sonja ist oft unter Spannung und kann Ablehnung und Frust nicht gut regulieren. Fehlende Impulskontrolle steht in den Akten. Die vielen Reize in Kindergruppen überfordern sie. Wenn es dann laut und stressig wird, weiß sie manchmal keinen anderen Weg als zu schlagen, zu treten und zu würgen. Sie kann in dem Moment nicht anders. Könnte sie es, würde sie es nicht tun.

Es gibt keine ausreichende Betreuung

In der Schule gibt es keine Eins-zu-eins-Betreuung. Auch Rückzugsmöglichkeiten gibt es kaum. Dadurch wiederholen sich Gewaltmeldungen und Suspendierungen nach dem gleichen Muster, mit der Folge, dass die Sorge und Wut anderer Eltern wächst und es zu Konflikten kommt. Sonja hat einen sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich emotionale-soziale Entwicklung.

Schon nach kurzer Zeit an der Grundschule weigert sich der Hort, Sonja zu betreuen. In die Schule darf sie gehen. Dort wird eine temporäre Lerngruppe (Kleinstklasse) über die Jugendhilfe eingerichtet. In dieser kleinen Gruppe, die von einer Lehrerin mit einer Sozialarbeiterin geleitet wird, geht Sonja zwei Stunden am Tag. Den Rest verbringt sie in ihrer Klasse. Nach der zweiten Klasse wird die Maßnahme beendet. Das ist immer so. Mit dem Auslaufen der Kleinstklasse will die Schule Sonja nicht mehr behalten. Die Direktorin spricht von Hausunterricht. 

Wenn die Kinder nach dem Unterricht in den Hort gehen, darf Sonja nicht mit, obwohl die Eltern ein Vollzeitmodul gebucht haben. Der Vater muss Sonja gegen 13 Uhr abholen. An eine Weiterbeschäftigung als Handwerker ist so nicht zu denken. Sonja hat für den Hort einen wesentlich erhöhten Betreuungsbedarf. 

Trotzdem gibt es keine ausreichende Betreuung für sie. Sonja sei nicht tragbar und überfordert. Das Unterstützungszentrum im Stadtteil sagt, es gibt nur ein bestimmtes Budget für Schulhelfer*innenstunden. Das brauchen andere Kinder dringender als Sonja. Die Bildungsverwaltung der Stadt sagt, das stimmt nicht. Das Unterstützungszentrum könnte bei der Stadt mehr beantragen. Das Unterstützungszentrum sagt: Das stimmt nicht. Eine Vorschrift müsste geändert werden. Sonjas Eltern wissen davon nichts. Sie wissen nur, dass ihr Kind nach der Schule oft verstört ist.

Für Kinder mit dem Förderbedarf emotionale-soziale Entwicklung gibt es nur in absoluten Ausnahmefällen Schulhelfer*innenstunden. Auch die Sonderpädagogikstunden sind knapp bemessen. Es gibt einen Pool, der für die Kinder mit Förderbedarfen reichen muss.

Status Lernen trotz normaler Intelligenz

Mittlerweile ist Sonja im zweiten Schuljahr. Die Direktorin sieht keine Zukunft für Sonja an ihrer Schule, eine Schule mit dem Schwerpunkt Inklusion. Die umliegenden Grundschulen verweisen auf diese Schule und wollen Sonja nicht. Einzig eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen wäre bereit Sonja aufzunehmen. Eine Umwidmung des Förderstatus emotionale-soziale Entwicklung in Lernen wurde vorgenommen.

Doch jede Betreuung wäre nutzlos, wenn die Betreuungsperson es nicht schafft, eine Bindung zu Sonja aufzubauen, das Kind zu mögen und ihm immer wieder das Gefühl zu geben »du gehörst zu uns, egal wie du dich aufführst, du bleibst Mitglied dieser Schule. Du bist uns wichtig.«

Die Eltern haben einen guten Kontakt zum örtlichen Jugendamt, das die Familie mit einer Einzelfallhilfe am Nachmittag unterstützt. Inzwischen kommuniziert nur noch die Mutter mit der Schule und geht gemeinsam mit dem Einzelfallhelfer in die Konferenzen. Dem Vater sei das nicht mehr zuzumuten. Anstatt alles in die Wege zu leiten, um sich von Sonja zu trennen, sie an eine Förderschule zu überweisen, könnte die Inklusionsschule versuchen, ihren Blickwinkel zu ändern und gleichzeitig ein Mandat an die Bildungsverwaltung artikulieren: »Sonja gehört zu uns und wir brauchen mehr Hilfspersonal.«

Es gibt ein Supervisionsangebot, aber wann sollen die Lehrer*innen das wahrnehmen, fragen die Lehrer*innen? In der Stadt herrscht akuter Lehrer*innenmangel, für Supervision würden sie nicht freigestellt. Zuständig für Supervision ist das Unterstützungszentrum des Stadtteils, doch dort hat nur ein Mitarbeiter eine Supervisionsausbildung und er hat alle Hände voll mit der Diagnostik zu tun.

Sonja macht wütend, das kann sie gut. Doch anstatt dieses Gefühl als das zu sehen, was es ist, eine Gegenübertragung, die wir als diagnostisches Instrument nutzen können, um herauszufinden, wozu Sonja dieses Gefühl bei uns auslöst, wird sie weggeschickt. Anstatt zu gucken, wie wir kleine Veränderungen vornehmen können, wie wir unseren Blick auch auf die Stärken legen können, wie wir uns selber als Team gut unterstützen können, wird auf Sonja gezeigt. Sie steht für den Übeltäter im System, die Täterin, die anderen Kindern mit der Faust ins Gesicht schlägt.

Auch die Helfer*innen sind hilflos. Sie zeigen hilfloses Verhalten, indem sie Sonja wegschicken wollen. Ihnen fehlen Ressourcen. Ihnen fehlt ebenfalls professionelle Hilfe. Die Familie überlegt: wohin mit Sonja, und Sonja spürt, dass sie stört, dass es Probleme gibt, dass ihr Vater verzweifelt ist, dass die Eltern sich Hilfe holen und wieder verzweifeln. Das macht Sonja noch wütender, noch verletzter, noch frustrierter.

Anerkennung bleibt auf der Strecke. Sonja spürt den Aufruhr: »Ihr sagt, ich bin schwierig und gestört? Dann zeige ich es euch auch.«

Die Eltern gehen in eine Klinik. Sonja bekommt nun Medikamente. Was »hyperkinetisches« hat eine Ärztin festgestellt. Sonja ist ruhiger. Am Nachmittag ist sie schlapp, eine Nebenwirkung. Die »Lernbehindertenschule« hält Sonja die Arme auf. Gerne darf sie kommen. An der »Lernbehindertenschule« gäbe es einige Kinder wie Sonja. Dass der IQ der Kinder an diesen Schulen sinkt, sie von der Gesellschaft abgehängt und stigmatisiert werden, dass ihr Selbstkonzept leidet, dass diese Schule eine Schule für Arme ist, ein Sammelbecken, sagen sie nicht. Die Eltern wollten für ihr Kind eine inklusive Beschulung, die Chance auf einen Schulabschluss. Gerade wollen sie jedoch nur weg von der Grundschule, der Direktorin, den vielen Konflikten.

In der Rolle gefangen

Die Botschaft »du störst« sitzt tief. Wie oft wird das Kind zum Problem erklärt, müssen sich Eltern rechtfertigen, kämpfen oder ihren Job aufgeben? Das System lässt Familien im Stich und versucht diejenigen wegzuschicken, die am dringendsten Unterstützung brauchen. Und die schlimme und folgenschwere Botschaft für das Kind »wir wollen dich hier nicht« wirkt lang, mit schädlichen Nebenwirkungen für das Selbstbewusstsein und die Bildungsbiographie.

Gewalt ist schlimm, Faustschläge, Würgen, all das verletzt Menschen, Kinder teilweise sogar schwer. Doch Kinder wie Sonja, wie Wanderpokale durch das System von Schule zu Schule, von Projekt zu Projekt zu reichen, schädigt nicht nur die Identität der Kinder, sondern unsere gesamte Gesellschaft. Was wird aus ausgestoßenen Kindern? Welche Botschaft senden wir unseren Kindern, wenn andere Kinder, die Schwierigkeiten mit der Welt haben und die Welt mit ihnen, weggeschickt werden, die Schule verlassen müssen? Eine Furcht vor Schwierigkeiten? Eine Angst davor, weggeschickt zu werden, wenn ich nicht angepasst genug bin? Die Vermutung, dass die Erwachsenen nicht in der Lage sind, Konflikte zu lösen, Sonja Halt zu geben und uns zu schützen?

Sonjas Situation, die Situation der Schule, machen klar, dass die Bedürfnisse von vielen Beteiligten nicht gesehen werden. Wenn ein empathischer Zugang, ein Miteinander, ein Wir-Gefühl vorhanden sind, wenn die Fachkräfte der Schule sich als Team fühlen, das auch von außen unterstützt wird und Anerkennung für die anstrengende Arbeit bekommt, wenn eine Bildungsverwaltung die Schule fragt: »Was braucht ihr, damit ihr Sonja gut betreuen könnt und es ihr gut bei euch geht?«, dann wären wir ein Stück weiter.    

Den vollständigen Artikel findet ihr auf: https://inklusionsfakten.de
 

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46