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Filmkritik

Über die Möglichkeit, erwachsen zu werden

Eine Rezension zu Nora Fingscheidts Film »Systemsprenger«

Foto: Kineo Film/Weydemann Bros./Yunus Roy Imer

Benni rastet aus. Schwindelerregend wackelt das Bild, man sieht nur Schemen. Schreie hallen, es wird getreten, gebissen und gekratzt. Irgendwann geht es nicht mehr: Alle Geräusche ziehen sich zusammen zu einem Pfeifen und die Leinwand geht über in ein einziges Pink. Als das Bild wiederkommt, sieht man das zierliche blonde Mädchen an ein Bett fixiert, mit leerem Blick.

In Nora Fingscheidts Erstlingswerk »Systemsprenger« geht es um das Martyrium der neunjährigen Benni, die bei ihrer Mutter nicht leben darf, in Pflegefamilien und Kinderheimen aber auch nicht unterkommt, weil sie überall irgendwann unfehlbar für sich und andere zur Gefahr wird, und dann meistens in der Psychiatrie landet, wo sie auf Dauer ebenfalls nicht bleiben kann, worauf alles wieder von vorne anfängt. Benni sprengt – manchmal buchstäblich – das System.

Man kann »Systemsprenger« einen Anti-coming-of-age-Film nennen: Er ruft die Topoi des Genres auf, nur um sie dann radikal ins Leere laufen zu lassen. Die Konsequenz, mit der der Film mit den Erwartungen des Publikums bricht, ist bemerkenswert. So läuft es etwa mit Micha, dem Sozialarbeiter, anders, als man es normalerweise erwarten dürfte:

Benni, gerade in der x-ten Einrichtung angekommen, wird ein Schulbegleiter zur Seite gestellt. Der ist aber nicht einer der üblichen Erwachsenen, die Benni unterschiedslos »Erzieher« nennt, sondern hat Ecken und Kanten. Anders als Benni es gewohnt ist, versucht Micha gar nicht erst ihr zu gefallen, und als sie ihm schwört, nie wieder in die Schule zu gehen, zuckt der nur mit den Achseln und geht wieder. Dass der Neue ihr die kalte Schulter zeigt und sich aus ihren Feindseligkeiten nichts macht, beeindruckt Benni dann doch. Mit Beharrlichkeit und klaren Grenzen – »Ich bin nicht dein Freund, ich bin dein Schulbegleiter« – verschafft Micha sich Respekt. Glaubwürdig machen ihn seine Vulgarität, seine Narben, seine raspelkurzen Haare und dass er sich die Faust drücken muss, um sich, wenn er provoziert wird, unter Kontrolle zu halten.

Als Frau Bafané vom Jugendamt mal wieder mit Benni nicht mehr weiterweiß, macht Micha einen Vorschlag: »Drei Wochen im Wald, Eins-zu-eins-Betreuung.« Gesagt, getan – die beiden fahren zu Michas Hütte in die Wildnis. Hier gibt es keinen Strom, den Rhythmus gibt die Sonne; das Wasser kommt nicht aus dem Hahn, die Wärme nicht aus dem Thermostat und wenn man muss, dann muss man »schön ins Plumpsklo kacken«; Holz muss gehackt werden, und wenn Benni nicht will, sagt Micha »geht auch ohne«. In der Klause im Wald lernt Benni, dass nicht alles nach ihrer Pfeife tanzt, dass der Komfort der Zivilisation nicht selbstverständlich ist, und dass sie ihre Wut produktiv kanalisieren kann. Man kennt das: Die Mentor*in, ähnlicher Erfahrungen wegen auf Augenhöhe mit dem Zögling, zeigt diesem den Weg in die gelungene Vergesellschaftung, über den Umweg der kathartischen Wirkung der Natur. In »Systemsprenger« kommt es jedoch anders.

Als Benni aus dem Auto steigen soll, zurück in ihre Einrichtung, kreischt sie so lange, bis Micha ihr darauf die Hand gibt: sie kann noch für eine Nacht zu ihm nach Hause kommen. In der Vorstadt, in einem Neubaugebiet, steht seine Doppelhaushälfte, gerade frisch bezogen, mit Lebenspartnerin und Säugling. Aber Micha hat sich übernommen: Benni dringt in sein Privatleben ein und denkt nicht daran, sich ausgerechnet jetzt in Zurückhaltung zu üben. Sie fordert von ihm Zutraulichkeiten ein, die sie nicht ganz zu Unrecht erwartet, die Micha ihr aber unmöglich geben kann. Seine ganze Coolness und professionelle Distanz fallen von ihm ab – und Benni schaut glatt durch ihn durch: »Jetzt redest du wie alle«, sagt sie, als Micha versucht ihr deutlich zu machen, was zwischen ihnen geht und was nicht. Sie hat Recht: Micha ist trotz seiner oberflächlichen Nonkonformität genau wie die anderen ein Anwalt des gesellschaftlichen Anpassungszwangs, auch er ist ein Vertreter des »Systems«. Als Benni sich aus Verzweiflung mit Michas Baby im Bad einschließt, und die Tür eingetreten werden muss, reißt sie die letzte Brücke zu ihm ab – die Kleinfamilie ist bedroht und Micha schmeißt als ihr Schulbegleiter hin.

Unerwartet ergibt sich etwas anderes für Benni: Eine Pflegemutter kann sich vorstellen, sie aufzunehmen. Benni hatte zuvor schon einmal kurz bei Viktoria gewohnt, zwischen beiden besteht also eine Vertraulichkeit, und sie, die Pflegemutter, strahlt gleichermaßen Wärme und Bestimmtheit aus. Genau das, was Benni braucht: Mutterliebe, aber stabil und verlässlich. Auch bekommt Benni einen kleinen Bruder dazu, ein fragiler kleiner Knirps, der ebenfalls bei Viktoria untergekommen ist. Benni, die nie irgendwo zuhause war, könnte hier die Sicherheit und Zuneigung kriegen, die sie von anderen nicht bekommen hat, von Micha nicht, von der eigenen Mutter nicht. Alles entwickelt sich zunächst auch vielversprechend, Benni zeigt sich als verantwortungsvolle große Schwester und dann – schlägt sie dem kleinen Jungen das Gesicht ein. Keine Frage, Benni muss wieder gehen.

Was ihr auch angeboten wird, Benni verweigert sich hartnäckig der für den Entwicklungsfilm üblichen Charakterveränderung. Die verschiedenen Nebenfiguren, die typischerweise der Protagonist*in des Coming-of-age-Films als Bildungsanlass dienen, ziehen scheinbar spurlos an ihr vorüber. Schließlich sind alle Karten ausgespielt: Das »System« ist an Benni gescheitert.

Warum Bennis Integration in die Erwachsenenwelt so hoffnungslos scheitern muss, bleibt indes den ganzen Film über auffallend unmotiviert. Die Erklärung ihrer Wutausbrüche mit einem Kindheitstrauma wirkt arg konstruiert, und eigentlich wird für Benni alles Denkbare getan, um ihr ein behütetes und geordnetes Leben zu ermöglichen. Das Einzige, was dem wirklich im Weg steht, ist ihre Unfähigkeit, sich zu verändern. Somit ist »Systemsprenger«, paradoxerweise, nur bedingt ein Film über ein System. Gezeigt wird eher eine menschliche Tragödie, das Leid erscheint schicksalshaft, das Mädchen kann nun mal nicht anders.

Hier sind die Grenzen des Genres erreicht: Der Coming-of-age-Film ist per Definition die Geschichte einer Einzelnen, die lernen muss, ihre individuelle Eigenheit in Einklang mit den Ansprüchen der Allgemeinheit zu bringen, ohne erstere auf-zugeben, aber auch ohne letztere grundlegend in Frage zu stellen. Dasselbe gilt im Wesentlichen auch für seine Negation, den Anti-coming-of-age-Film, mit dem Unterschied, dass hier das Erwachsenwerden misslingt. Auch »Systemsprenger« verbleibt in diesem Rahmen, ist aber so klug – und das macht ihn zu einem großen Film – über den eigenen genre-typisch begrenzten Horizont hinauszuweisen:

In der letzten Sequenz des Films ist Benni im Flughafen. Weil nichts anderes mehr geholfen hat, wird sie zu einer Erziehungsmaßnahme ins Ausland geschickt. Während der Sicherheitskontrolle entwischt sie ihrem Betreuer und rennt in einem Mordstempo durch den Terminal, vorbei an Securities und Polizei, und auf die Flughafenterrasse, die erkennbar eine Sackgasse ist. Hier nun ändern sich Tempo und Bild auf eigentümlichste Weise: Benni in Großaufnahme, laufend, lächelnd, perspektivisch in leichter Untersicht, über ihr der blaue Himmel, das Ganze in Zeitlupe, und dann springt sie – in die Freiheit? in die Tiefe? –, und das Bild friert ein, sie in der Luft, und die Leinwand – zerspringt wie Glas. Es wirkt, als sei sie ihrem Verhängnis einfach weggerannt und habe zu guter Letzt mit einem magischen Sprung die Zwänge der Wirklichkeit außer Kraft gesetzt. Die letzten Einstellungen von »Systemsprenger« sind inszeniert wie ein Happy End und zugleich eindeutig als phantastisch markiert.

Eigentlich erheischt die Logik des Films die Katastrophe. Bevor es aber so weit kommt, wird interveniert, und das Urteil über Benni, das auf Verbannung aus der Menschenwelt lautet, in einer Art hoffnungsvoll-trotzigem Wunschtraum aufgehoben. Diese finale Geste ist gleichermaßen ein Einspruch gegen die Tragik der Wirklichkeit, in der Geschichten wie die Bennis nun mal schlecht enden müssen, wie gegen die Konventionen der Tragödie, die eben diese Tragik als Schicksal entschuldigen. Die Leinwand zerspringt, soll sagen: Die Lösung des Gezeigten liegt außerhalb der Film-Welt, und bis dahin harrt das gute Ende seiner realen Verwirklichung, zurückgezogen im Phantastischen.

Indem die Filmemacherin das Scheitern der Erwachsenwerdung Bennis bis zum Äußersten treibt, und dadurch, dass sie in der letzten Szene die Film-Realität gleichsam aus den Angeln hebt, verweist sie auf die Grenzen des Genres und über sie hinaus. Damit hat Nora Fingscheidt mit »Systemsprenger« den Coming-of-age-Film eigentlich erledigt. Was jetzt noch kommt, wird sich an diesem Film messen lassen müssen.