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bbz 1-2 / 2020

75 Jahre nach Auschwitz

Thomas Sandkühler ist Professor für Geschichtsdidaktik an der Humboldt Universität Berlin und hat als Lehrer an verschiedenen Gymnasien unterrichtet. Mit der bbz hat er über die Herausforderung der Vermittlung des Holocausts im Unterricht gesprochen.

Dem Nationalsozialismus und dem Holocaust kommen im Geschichtsunterricht in Deutschland eine herausragende Stellung zu. Warum ist das so?

Sandkühler: Wegen der Fortwirkung der Verbrechen, die damals verübt worden sind, bis heute. Die Auswirkungen des Holocaust sind sehr langanhaltend und tiefgreifend und umfassen alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens.

Wie spiegelt sich die Bedeutung dieses Themas in den Lehrplänen wider?

Sandkühler: Heute gibt es keine Lehrpläne mehr, die der Lehrkraft genau vorgeben, wie viele Stunden sie auf welches Thema zu verwenden hat. Man ist bundesweit zu Kernlehrplänen fortgeschritten, die nur noch wenige kanonische Inhalte vorgeben, und die Ausgestaltung überlässt man den Schulen und den einzelnen Lehrkräften. Daher ist dies schwer an Unterrichtsstunden zu bemessen. In den 90er Jahren gab es die Tendenz, den Nationalsozialismus sehr intensiv und in vielen verschiedenen Fächern zu behandeln, sodass bei einigen Schüler*innen das Gefühl aufkam, der Oberstufenunterricht handle nur noch vom Nationalsozialismus. Das hat sich heute etwas relativiert, nichtsdestotrotz spielt das Thema auch heute noch eine wichtige Rolle im Schulunterricht. Im Übrigen ist die begriffliche Zusammenziehung von Nationalsozialismus und Holocaust, die wir auch in diesem Interview vollziehen, das Ergebnis einer historischen Entwicklung. Dass der Zweite Weltkrieg und die im Zweiten Weltkrieg begangenen Verbrechen den Hauptfokus der Beschäftigung mit dem NS-Staat bilden und nicht etwa die Frage der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933, hat etwas mit dem zeitlichen Abstand und dem Nachwachsen einer jüngeren Generation von Historiker*innen zu tun, die weniger Berührungsängste vor den Verbrechen der Nationalsozialisten hat als die vorangegangene.

Ich hatte noch die Gelegenheit, mit einer Zeitzeugin des Holocaust zu sprechen, und diese berichtete mir, dass das Interesse von Bildungseinrichtungen an Gesprächen mit Zeitzeug*innen erst seit knapp 20 Jahren in dieser Ausprägung, wie es heute der Fall ist, besteht.

Sandkühler: Das deckt sich auch mit den Ergebnissen der Forschung und es ist ein Zeichen für die Monstrosität der Gegenstände, um die wir uns da zu kümmern haben. Vom Höhepunkt des Holocaust im Jahre 1942 an hat es 50 Jahre gedauert, bis sich Historiker-*innen wirklich mit der Empirie des Verbrechens beschäftigt haben. Das hatte viele Gründe. Zum Beispiel, dass erst nach den politischen Umbrüchen der 1990er Jahre die osteuropäischen Archive zugänglich gemacht worden sind. Aber eben auch generationelle Gründe. Einer meiner akademischen Lehrer, Hans Mommsen, war zwar ein entschiedener Befürworter von Forschung über den Holocaust, hat sie selbst aber nicht gemacht.

Obwohl die Forschung über den Holocaust eigentlich erst vor drei Jahrzehnten angelaufen ist, wie Sie sagen, hört man überall schon, dass die Leute des Themas überdrüssig sind.

Sandkühler: Das eine schließt das andere nicht aus. Es gibt eine schlechte Pädagogik, die glaubt, sich darin erschöpfen zu können, vor allem jüngere Kinder auf sehr moralische Weise zu imprägnieren gegen die Gefahren eines neuen Faschismus. Das halte ich nicht für sonderlich zweckdienlich, weil auf diese Weise den Jugendlichen zu einem relativ frühen Zeitpunkt vermittelt wird, dass ihre Aufgabe darin bestehe, sich nicht nur an das zu erinnern, was damals passiert ist – was ohnehin schwierig ist für Kinder der vierten, fünften Generation nach dem Nationalsozialismus –, sondern dies auch mit einer bestimmten Gefühlshaltung zu tun. Diese Emotionalisierung kann man, wie ich fest überzeugt bin, nicht einfordern, sondern sie muss sich von der Sache selbst hereinstellen. Da ist sicherlich manches – wenn auch mit besten Absichten – falsch gemacht worden. Ich finde, man sollte Kindern nicht dazu bringen, traurig zu sein, wenn sie nicht traurig sein wollen.

In vielen Berliner Schulen kommt ja auch noch hinzu, dass in manchen Klassen kaum ein Kind Urgroßeltern hat, die die Nazi-Zeit in Deutschland erlebt haben, es also für diese Kinder keine familiäre Verbindung zu diesem Thema gibt.

Sandkühler: Das wirft natürlich die Frage auf, was geht der Holocaust Nationen an, die daran nicht beteiligt gewesen sind? Da würde ich sagen, dass die universelle Botschaft dieses Verbrechens so gestaltet ist, dass sie auch Kinder etwas angeht, die nicht hier geboren worden sind. Was man in den 90er Jahren mit einem etwas missverständlichen Begriff als »Zivilisationsbruch« bezeichnet hat, muss von allen ernst genommen werden. Auf der anderen Seite haben wir es genauso bei Kindern mit deutschen Vorfahren viel mit Unkenntnis zu tun. Ein Problem scheint mir die Engführung der Massenverbrechen auf Auschwitz zu sein, das dadurch als Symbol und nicht mehr als realer Ort wahrgenommen wird, an dem gemordet worden ist, so wie ja auch an vielen anderen Orten gemordet worden ist. Das ist zu erklären unter anderem durch die besondere Bedeutung des Konzentrationslagers Auschwitz für das Schicksal der deutschen Jüdinnen und Juden, die in deutschen Schulbüchern natürlich im Vordergrund der Darstellung stehen. Das hat aber zur Folge, dass die osteuropäischen Tatorte und die osteuropäischen Opfer, die 98 Prozent aller jüdischen Ermordeten ausmachen, ausgeblendet werden. Für die Kinder, die sich damit beschäftigen, wird so Auschwitz zu einem nebulösen Symbol – ein Ort, der sich irgendwo im Osten befindet. Es müsste ein Verständnis der Dynamik vermittelt werden, die dort hingeführt hat, etwa der Transporte, die nach Auschwitz gingen.

In der Studienordnung für den Lehramtsstudiengang für Geschichte an der Humboldt Universität habe ich keinen Hinweis darauf gefunden, dass den Themen NS und Holocaust ein besonderer Stellenwert zukäme. Lehramtsstudierende müssen sich also in ihrem Studium nicht notwendigerweise mit diesen Themen auseinandersetzen?

Sandkühler: Das ist richtig. Aber wo sollten sie es denn auch tun? Wir haben hier an unserem Institut einen Spezialisten, Michael Wildt, der eine Professur für die Geschichte des Nationalsozialismus hat, ansonsten sind alle Professuren europäisch und nicht nationalgeschichtlich ausgerichtet. Der Nationalsozialismus ist aber ganz offenkundig zunächst mal deutsche Nationalgeschichte. An den anderen Berliner Universitäten ist die Situation nicht anders. Wir haben es zu tun mit einem Bedeutungsverlust des Themas Nationalsozialismus und Holocaust in der Lehrkräfteausbildung. Das hat auch eine Untersuchung gezeigt, die von der Freien Universität durchgeführt worden ist, und die zu dem deutlichen Ergebnis gekommen ist, dass sowohl in den Studienordnungen – das deckt sich mit Ihren Beobachtungen – als auch in der Praxis in den Universitäten die Vermittlung des Themas NS und Holocaust nicht mehr dominiert oder jedenfalls nicht obligatorisch ist, sodass es tatsächlich passieren kann, dass Lehrkräfte an die Schulen kommen, die sich niemals in ihrem Leben wissenschaftlich mit diesem Thema auseinandergesetzt haben.

Gibt es für bereits praktizierende Lehrkräfte spezielle Fortbildungsangebote zu der Frage, wie man den Holocaust Schüler*innen besser vermitteln kann?

Sandkühler: Ja, die gibt es durchaus – von unterschiedlichsten Trägern mit unterschiedlichster Ausrichtung. Nun ist aber die Weiterbildungsbereitschaft unter deutschen Lehrkräften nicht allzu hoch. Das hat seine Ursache in zunehmender Belastung der Kolleg*innen durch Dinge, die mit Schule und Unterricht nur am Rande zu tun haben. Ich kann das gut nachvollziehen, dass man sich dann nicht auch noch wissenschaftlich fortbilden will. Aber im Grunde wäre das notwendig und prinzipiell besteht die Möglichkeit, solche Angebote wahrzunehmen. Ich denke dabei insbesondere an die evangelischen Akademien, die in diesem Bereich sehr aktiv sind und zahlreiche Weiterbildungsangebote haben. Grundsätzlich wäre es aber natürlich besser, wenn bereits im Studium die Frage behandelt würde, wie man heute über den Holocaust unterrichten soll.

Sie haben sich in ihrer Forschung mit der Darstellung der NS-Zeit und des Holocaust in deutschen Schulbüchern beschäftigt. Was ist Ihnen dabei aufgefallen?

Sandkühler: Es bestätigte sich dort eine Beobachtung, die auch von anderen Fachleuten schon gemacht worden ist, dass es ein bestimmtes, sehr verknapptes Narrativ über den Nationalsozialismus gibt, das offenbar geschichtskulturell dominant ist. Das ist im Grunde eine sehr klare Zuspitzung der Geschichte des Nationalsozialismus einerseits auf die Verbrechen, die er verübt hat, und andererseits auf die Opfer unter deutschen und österreichischen Jüdinnen und Juden. Das schnurrt dann zu einer Kurzgeschichte zusammen, die lautet: Hitler übernimmt die Macht, dann kommen die Nürnberger Gesetze, dann kommt das Pogrom von 1938, dann kommt der Zweite Weltkrieg, dann die Wannsee-Konferenz und dann Auschwitz. Das ist eine recht grobschlächtige Erzählung, weil in ihr zum Beispiel die Morde an Jüdinnen und Juden durch Erschießung, von denen wir inzwischen sehr viel genauer wissen, welchen erheblichen Stellenwert sie hatten – mehr als ein Drittel aller Opfer wurden auf diese Weise ermordet – gar keine Rolle spielen. Meine Kritik ist, dass sich in den Köpfen der Schüler*innen auf diese Weise so etwas festsetzt wie eine technologische Metapher der Maschine oder eines Fließbands des Tötens. Dabei ist das Töten eines Menschen von Angesicht zu Angesicht keineswegs eine Maschinerie, sondern da geht es um brutale Gewaltanwendung mit Todesfolge, die in ihrer Konsequenz für den Täter unmittelbar erkennbar ist. Mir scheint, dass das in das allgemeine Bewusstsein noch nicht allzu weit vorgedrungen ist.

Welches Fazit ziehen Sie insgesamt in Bezug auf die Thematisierung des NS und des Holocaust in der Schule? Ist diese befriedigend?

Sandkühler: Ich tue mich schwer mit einer allgemeinen Antwort, weil wir über die Praxis zu wenig wissen. Was wir aber aus Unterrichtsprotokollen aus der Zeit um das Jahr 2000 sehen konnten, ist, dass eine zu starke Pädagogisierung des Themas vorlag und dass die Kinder im Unterricht irgendwie die Botschaft mitgenommen haben, es sei wichtiger, über den Nationalsozialismus in einer bestimmten Weise zu reden, als über ihn Bescheid zu wissen. Ob das heutzutage noch so ist, ist unklar, weil es da keine empirischen Erhebungen gibt. Ich würde vermuten, dass wir gegenwärtig eine ziemlich starke Tendenz haben, das Thema relativ abstrakt und auch relativ kurz zu behandeln, weil die Unterrichtszeit sehr knapp ist. Es gibt eine fortwährende, gerechtfertigte Kritik des Historikerverbandes und auch meines eigenen Fachverbandes, der Konferenz für Geschichtsdidaktik, dass der Geschichtsunterricht in der schulischen Stundentafel zunehmend an Bedeutung verliert. Solange das der Fall ist, wird man immer wieder beobachten, dass Lehrkräfte dieses Thema wie jedes andere Thema abarbeiten, weil es eben gemacht werden muss. Die Kinder und Jugendlichen lernen dann, dass sechs Millionen Jüdinnen und Juden umgebracht worden sind und lernen die wichtigsten Etappen dieser Ultrakurzerzählung, von der ich eben schon sprach, was aber dem Gegenstand ganz und gar nicht adäquat ist.

Wie würden Sie sich wünschen, dass das Thema NS und Holocaust in der Schule behandelt wird?

Sandkühler: Ich plädiere dafür, dass man mit den Schüler*innen Mikro-Geschichte des Holocaust betreibt. Also in einem überschaubaren räumlichen Kontext – das kann die Stadt Berlin sein oder auch eine andere Stadt, beispielsweise in Osteuropa – und sich ansieht, welche Menschen sich wie verhalten haben, während das Verbrechen abgelaufen ist. Das wirft dann Fragen auf nach der gesellschaftlichen Relevanz und Akzeptanz eines solchen Verbrechens, und man kommt dann sehr schnell auch in einen Bereich der Betrachtung und Reflexion, der mit einer oberflächlichen Behandlung des Themas gar nicht erst berührt wird. Mein Standardbeispiel sind die Polizisten, die bei Massenverhaftungen von Jüdinnen und Juden die Absperrung gemacht und die Verhaftungen vorgenommen haben; die wussten doch, zu welchem Zweck sie das tun. Warum haben die das getan? – Eine Frage, die man auch mal ganz naiv stellen kann. So kommt man auf viele Antworten, und jede Antwort enthält eine Teil-Wahrheit über die Geschichte des Nationalsozialismus, oder genauer, über die Gesellschaft, in der dieser stattfinden konnte.

Die Art der Erinnerung an den Holocaust ist in einem großen Wandel begriffen. Auf absehbare Zeit wird es keine lebenden Zeitzeug*innen mehr geben, die davon berichten können. Vor welche Herausforderung stellt das die Vermittlung dieses Ereignisses?

Sandkühler: Die Frage ist, ob der Verlust der Zeitzeug*innen wirklich so dramatisch für das historische Lernen aus dem Nationalsozialismus ist. Das Lernen über den Holocaust war immer eine vermittelte Angelegenheit; auch die Zeitzeug*in ist ja eine Vermittlungsinstanz, hat eine bestimmte individuelle Perspektive und ist nicht die Geschichte selbst. Selbstverständlich hat die Zeitzeug*in den Vorteil der direkten Ansprechbarkeit und einer besonderen Aura. Aber das ist nicht unbedingt notwendig, um die Geschichte des Nationalsozialismus zu unterrichten.

Was dennoch bleibt, sind die zahllosen Dokumente, die aus dieser Zeit erhalten geblieben sind. Die relative zeitliche Nähe der Verbrechen des Nationalsozialismus lässt sich mit diesen Originalquellen durchaus noch spürbar machen.

Sandkühler: Das würde ich ganz emphatisch unterstreichen. Archivpädagogik ist in diesem Zusammenhang ein ganz wichtiges Stichwort. Wir haben das Landesarchiv Berlin und man kann mit Schüler*innengruppen dort hingehen und beispielsweise die Strafakten aus der NS-Zeit ansehen – wie wurde damals kriminalpolizeilich verfolgt? Wer wurde verfolgt? Wie wurden Urteile gesprochen? Eine ganz besondere Qualität ist auch hier die Aura des Originals. Das Schriftstück hat eine bestimmte Haptik, einen bestimmten Geruch und ist auf eine bestimmte Weise geheftet oder gebunden – man merkt, dieses Dokument kommt aus dieser Zeit. Dennoch muss man trotz der sicherlich wichtigen Aktualisierung des Themas den Schüler*innen immer auch deutlich machen, dass es sich um ein historisches Geschehen handelt, das nicht erst gestern stattgefunden hat, das uns aber trotzdem noch heute beschäftigt, weil es so tiefgreifend gewesen ist.

Können Sie unseren Leser*innen einen Tipp für die Praxis geben? Wie lässt sich das Thema NS und Holocaust unter den gegebenen Bedingungen in der Schule gut behandeln?

Sandkühler: Ich glaube, dass der Anspruch, den viele sich selbst auferlegen, man müsse alles ganz vollständig unterrichten, falsch ist. Man sollte eher auswählen und versuchen, Schwerpunkte zu setzen. Hier ist die Kreativität und didaktische Phantasie von Lehrkräften gefragt. Mein Tipp ist – wir hatten das eben schon angesprochen –, dass man sich möglichst konkret mit Vorgängen beschäftigt, die nicht die ganz hohe Abstraktionsebene haben, sondern eine mittlere Abstraktionsebene ansteuern. Es sollten lokale Fälle sein, die man begreifen kann, wo es auch Akteure und Betroffene gibt, die man benennen kann und deren Schicksale man weiterverfolgen kann – also Sachverhalte, die erzählbar sind, über die Geschichtserzählungen gemacht werden können, die aber verallgemeinerbar sind, in denen sich allgemeine Strukturen widerspiegeln. Es ist gar nicht so schwierig, solche Fälle zu finden. Im Übrigen ist die ganz wunderbare Edition über die Verfolgung und Ermordung der Juden im nationalsozialistischen Europa – kurz: VEJ – ein großartiges Kompendium von Quellen, die man bisher sonst nicht zu Gesicht bekommen hat. Es scheint mir wichtig zu sein, dass im Schulunterricht mit Quellen über den Holocaust gearbeitet wird, die eben nicht aus dem immer wieder erneut abgedruckten Sample von einigen wenigen fünf bis sechs Quellen stammen – etwa die Aufzeichnungen des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß oder das Tagebuch von Anne Frank.

Wenn der Unterricht über den Holocaust glückt, was ist es dann, was die Schüler*innen dadurch lernen können?

Sandkühler: Was man aus dem Holocaust lernen kann, ist, dass Täter, die in einem solchen Tatkomplex drin sind, sei es als Befehlsgebende oder -ausführende, Radikalisierungsstufen durchlaufen, von denen wir im Rückblick sehr genau sagen können: Dies war ein unwiderrufbarer Schritt in den Massenmord, in den Völkermord –, dass diese Überschreitung den Tätern selbst aber gar nicht unbedingt bewusst gewesen ist. Die Erfahrung, die diese Menschen gemacht haben, dass es ihnen möglich ist, beständig Grenzen zu verschieben, war sehr prägend. Ebenso wie das Gefühl, tatsächlich etwas bewirken zu können, was womöglich sogar noch moralisch geboten schien. Im Unterricht über den Holocaust kann man vor allem den Unterschied zwischen der Wahrnehmung der Zeitgenoss*innen und der rückblickenden Betrachtung in den Vordergrund stellen, weil man sich eben nicht mit der einfachen Erklärung heraushelfen kann, das seien alles Sadisten und amoralische Menschen gewesen. Die hatten Intentionen, die hatten bestimmte Vorstellungen darüber, warum es richtig sei, dass sie das tun, und insofern hatten die auch eine Moral – und diese Moral muss analysiert werden, bevor man sich kritisch mit ihr auseinandersetzen kann. Man wird dieses Thema nicht los, indem man es mit psychologischen Argumenten externalisiert, sondern man muss im Gegenteil versuchen zu verdeutlichen, dass unter bestimmten Voraussetzungen eines totalitären Staates, der die Gesetzlosigkeit zum Gesetz erhebt, Massenmorde möglich sind und immer wieder vorgekommen sind. Der Holocaust als Ereignis ist singulär, aber seine Struktur ist es bedauerlicherweise nicht.