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bbz 11 / 2019

Von den Eltern getrennt

Deutschland baut hohe Hürden für den Familiennachzug und verletzt damit die Rechte von Kindern

Gemäß dem 3. Artikel der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der bei allen staatlichen Maßnahmen, die Kinder betreffen, »vorrangig zu berücksichtigen ist«. Darüber hinaus enthält die KRK auch Normen, die sich explizit auf das Recht auf Familienleben beziehen. Demnach haben die Vertragsstaaten sicherzustellen, »dass ein Kind nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt wird«, es sei denn, diese Trennung ist zum Wohl des Kindes notwendig. Anträge auf Familienzusammenführung von oder zu Kindern sind daher »wohlwollend, human und beschleunigt« zu bearbeiten.

Das Kindeswohl ist zweitrangig

Gemessen an diesen kinderrechtlichen Maßstäben ist die derzeitige Rechtslage und Politik in Bezug auf das Recht auf Familienleben geflüchteter Kinder und Jugendlicher in Deutschland hochgradig unzureichend und problematisch. Welche Möglichkeiten unbegleitete minderjährige Geflüchtete haben, ihre engsten Familienangehörigen nach Deutschland nachzuholen, hängt unter anderem davon ab, was für einen Schutzstatus sie im Asylverfahren zuerkannt bekommen. Werden sie als Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt, so haben sie einen Rechtsanspruch auf Nachzug der Eltern. Jedoch, so bis heute die Auffassung der deutschen Behörden, nur bis zu ihrem 18. Geburtstag. Werden sie vor der Entscheidung über ihren Asylantrag oder während des laufenden Visumverfahrens ihrer Eltern volljährig, so lehnt die deutsche Auslandsvertretung deren Visumantrag ab. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) urteilte am 12. April 2018, dass eine solche Auffassung europarechtswidrig ist. Das Recht auf Familiennachzug würde praktisch in Frage gestellt, wenn es nicht davon abhinge, ob das Kind zum Zeitpunkt des Antrags noch minderjährig sei, sondern davon, wie schnell oder langsam eine Behörde über einen gestellten Antrag entscheide. Eine solche Auffassung laufe den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit zuwider. Trotz des klaren Wortlauts des EuGH-Urteils und auch mehreren Gerichtsentscheidungen deutscher Gerichte, die dessen Argumentation unterstützen, weigert sich das Auswärtige Amt bis heute, das Urteil umzusetzen. Das hat zur Folge, dass zahlreichen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die mittlerweile volljährig geworden sind, das Recht auf Zusammenleben mit ihren Eltern europarechtswidrig weiterhin vorenthalten wird.

Kriegsflüchtlinge haben schlechte Karten

Ebenfalls in einer schwierigen Situation sind jene unbegleiteten Minderjährigen, denen im Asylverfahren zwar nicht der Flüchtlingsstatus, jedoch der »subsidiäre Schutzstatus« zuerkannt wird, weil ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden, beispielsweise wegen eines bewaffneten Konflikts, droht. Das betrifft seit dem Jahr 2016 vor allem Menschen aus Syrien. Viele von ihnen waren damals in dem berechtigten Glauben nach Deutschland gekommen, zeitnah ihre engsten Familienangehörigen nachholen zu können. Dann jedoch setzte die Bundesregierung den damals geltenden Rechtsanspruch auf Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte für zunächst zwei Jahre aus, dann noch einmal für viereinhalb Monate. Seit dem 1. August 2018 ist ein Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten zwar wieder möglich, aber nur »aus humanitären Gründen« und beschränkt auf maximal 1.000 Visa pro Monat. Die aktuellen Zahlen zeigen, dass nicht einmal das Kontingent von 1.000 Visa pro Monat tatsächlich ausgeschöpft wird. Zahlreiche Minderjährige sind daher bereits seit Jahren von ihren Eltern getrennt. Auch hier gilt: Wenn die unbegleiteten Minderjährigen 18 Jahre alt werden, bevor ihre Eltern ein Visum bekommen, ist ein Familiennachzug ausgeschlossen.

Egal ob es sich um unbegleitete Minderjährige mit einem Flüchtlingsstatus oder mit einem subsidiären Schutzstatus handelt, sie sind beim Nachzug ihrer Geschwister mit großen Problemen konfrontiert. Obwohl auch sie eigentlich Teil der »Kernfamilie« sind, für die das Aufenthaltsgesetz Möglichkeiten des Familiennachzugs grundsätzlich vorsieht, fehlt eine eigene gesetzliche Grundlage für den Geschwisternachzug. Die Folge ist, dass häufig nur die Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings Visa bekommen, die minderjährigen Geschwister jedoch zurückbleiben müssen. Teilweise ist ein Nachzug »über Umwege« möglich, indem zunächst ein Elternteil einreist, Familienasyl beantragt und nach der Anerkennung als Flüchtling oder subsidiär schutzberechtigt wiederum einen Antrag auf Kindernachzug stellen kann. Doch selbst wenn ein solcher »Plan B« am Ende funktioniert, dauert das Verfahren meist länger als ein weiteres Jahr, die bereits jahrelange Familientrennung wird also in anderer Konstellation weiter fortgesetzt.

Geschwister bleiben oft zurück

Bisher war nur die Rede von den Problemen beim Familiennachzug zu unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, die sich bereits in Deutschland befinden. Ebenso problematisch ist aber natürlich die Verletzung der Rechte der Kinder, die sich noch im Ausland befinden, und die durch restriktive Gesetze und Verwaltungspraxis von ihren Eltern oder einem Elternteil in Deutschland getrennt bleiben. Oft ist es den Familien nicht möglich, als kompletter Familienverband auf einmal zu fliehen. Zum Beispiel, weil ein Teil der Familie »Hals über Kopf« aufbrechen muss oder wegen der Risiken und Strapazen sowie den hohen Kosten einer Flucht über das Mittelmeer. Daher erschien eine temporäre Familientrennung vielen Familien als ein »kleineres Übel«, in der Hoffnung, bald wieder zusammen als Familie an einem sicheren Ort leben zu können. Durch die Gesetzesverschärfungen wurden diese, zum Zeitpunkt der Flucht auf der Grundlage der geltenden Gesetze berechtigten, Erwartungen jedoch vielfach zunichte gemacht, so dass Kinder nicht, wie erwartet, nur einige Monate, sondern viele Jahre von einem Elternteil oder sogar von beiden Eltern getrennt leben müssen. Hierunter leiden die Kinder oft sehr, wie viele ebenso verzweifelte Elternteile in Deutschland berichten.

Als im Jahr 2018 im Bundestag über die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten diskutiert wurde, war der Familiennachzug von Geflüchteten ein Thema, das in den Medien sehr präsent war. Mittlerweile, über ein Jahr nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes, ist es in der öffentlichen Debatte relativ ruhig geworden. Viele betroffene Kinder leiden jedoch nach wie vor unter den Folgen der restriktiven Gesetzes- und Weisungslage. Daher ist es wichtig, zum Einen die Betroffenen dabei zu unterstützen, Zugang zu Informationen und Beratung zu den Voraussetzungen und Verfahren des Familiennachzugs zu erhalten. Zum Anderen sollten wir aber auch dagegen protestieren, dass zahlreichen geflüchteten Kindern durch restriktive Politik der Zugang zum Recht auf Familienleben de facto vorenthalten wird.