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Schule

Noch ein Projekt, kein Gesamtkonzept

Die Senatsbildungsverwaltung hat für den Übergang von der Schule in den Beruf viele Projekte, aber eine verbindende, zukunftsweisende Idee hat sie nicht. Sie betreibt seit Jahren Flickschusterei. Andere können es besser.

Foto: Adobe Stock

Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (SenBJF) jubelt in ihrem Newsletter 34/2021: »Wir haben in Berlin den ersten Talente Check in Deutschland etabliert« und weiter: »Das wird unseren Schülerinnen und Schülern helfen«. Die Worte hören wir gerne, allein uns fehlt der Glaube.

Der Talente Check ist eine Idee aus Österreich. Es gibt den Check dort schon länger und in Österreich gibt es außer einer Ausbildungsgarantie auch eine Ausbildungspflicht, aber davon später. Die Senatorin hat die Idee erst 2017 entdeckt, dann allerdings vier Jahre gebraucht, um das Konzept umzusetzen. Der Talente Check soll die bestehenden Projekte der Berufs- und Studienorientierung »ergänzen und unterstützen« heißt es in einer Antwort von SenBJF vom August 2018 auf eine kleine Anfrage der FDP. Er »soll den teilnehmenden Jugendlichen ein aussagekräftiges und objektives Ergebnis über ihre Talente und Potentiale bieten.« Dazu nehmen die Heranwachsenden in einem Parcours an einer Reihe von spielerischen und gleichzeitig wissenschaftlich fundierten Tests teil, bei denen beispielsweise technisches Verständnis oder kognitive Fähigkeiten festgestellt werden. Dieser Parcours wird außerhalb der Schule durchgeführt. Im Klartext heißt dies, die Personen, die ihre Schüler*innen kennen, sind außen vor.

Inspiration aus Österreich

Sieht man sich die Geschichte der Berufsorientierung der letzten 40 Jahre an, kommt man ins Grübeln. Nach der Berufsorientierung (1970), der erweiterten Berufsorientierung (1990) und der vertieften Berufsorientierung (2001) folgte die erweiterte, vertiefte Berufsorientierung (2007). Dann gab es noch »Komm auf Tour« und weitere Projekte, fast immer über freie Träger, und 2014 wurde schließlich die Jugendberufsagentur Berlin (JBA) gegründet. Alle Maßnahmen hatten das erklärte Ziel, jugendliche Schulabgänger*innen nach der Schule problemloser in Ausbildung und Beruf zu bringen. Nun also der Talente Check.

Ein Blick auf die aktuellen Zahlen zeigt: Es hat sich in den letzten Jahrzehnten wenig geändert. Zwar ist die Zahl der Schüler*innen ohne Abschluss in den letzten Jahren gesunken, dies ist allerdings einem statistischen Trick geschuldet. Denn SenBJF hat die Förderschulen aus der Statistik rausgerechnet. Aktuell liegt Berlin – trotz dieses Tricks – mit acht Prozent Schulabgänger*innen ohne Abschluss nach wie vor an der Spitze der Bundesstatistik.

Gegen jedes einzelne Projekt ist im Grunde nichts einzuwenden, wenn es in ein Gesamtkonzept eingebunden wäre. So aber hat man den Eindruck, immer wenn es irgendwo »brennt«, die Zahlen eine schlechte Entwicklung zeigen, wird ein neues Projekt gestartet. Meistens außerhalb der Schule mit irgendwelchen Trägern, deren die Maßnahmen umsetzende Personen den Schüler*innen nicht bekannt sind und die, wenn sie nach einer Projektphase leidlich bekannt sind, gegen andere Personen und andere Träger ausgetauscht werden.

Projekte kann man schön präsentieren und darüber reden. Und falls die Zahlen am Ende wieder schlecht ausfallen? Startet man ein neues Projekt. Das ist kein Konzept, das ist Flickschusterei. Berufsorientierung bedarf einer Vertrauensbasis zwischen den Jugendlichen und den sie beratenden Lehrkräften, Berufsberater-*innen und anderen.

Eine neue Institution soll alte Probleme lösen

Im September 2014 wurde also die Jugendberufsagentur Berlin gegründet. Berlin war bis dato bundesweites Schlusslicht bei den Schulabgänger*innen ohne Schulabschluss. Bei den Ausbildungsabbrüchen und bei der Jugendarbeitslosigkeit allerdings Spitze. Sandra Scheeres, damals Senatorin für Bildung, erklärte: »Jeder und jede Jugendliche, der beziehungsweise die sich im Übergang von der allgemeinbildenden Schule in berufliche Qualifizierungswege befindet, soll effizienter und effektiver bei diesem Übergang eine individuelle Beratung finden. Fehlplatzierungen mit drohenden Abbruch-szenarien müssen vermieden werden. Diese Ziele müssen absolute Priorität haben.«

Das kann man alles bedenkenlos unterschreiben. Es fragt sich allerdings, ob eine neue Institution die Problemlösung bringt und vor allem, warum sich die Senatorin um eine klare Beantwortung der Frage nach einer Ausbildungsgarantie drückte.

In einer kleinen Anfrage der Abgeordneten Katrin Seidel (ehem. Möller) (Die Linke) vom 14. Januar 2014 wurde eine solche vom DGB schon länger geforderte Ausbildungsgarantie sogar abgelehnt: Da »unmittelbare Verpflichtungen zu formulieren keine Handlungsgrundlage für die Kooperation in dem Projekt JBA« ergebe, sondern es darauf ankommen werde, »die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe für die große Gruppe von Jugendlichen mit durchschnittlichen und in manchen Fällen auch unterdurchschnittlichen Schulabschlüssen zu öffnen.«

Der Senat strebt eher eine Einbindung der Wirtschaft in die strategische Steuerung der Jugendberufsagentur an. Aktuell wirbt dagegen ein Papier der Bertelsmann Stiftung gerade für eine Ausbildungsgarantie, was gut für Jugendliche und Wirtschaft ist. Wir erinnern uns: der sogenannte Nationale Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs der Bundesregierung von 2004 (blz 11/2013), der alle vier Jahre wiederholt wird und der auf Freiwilligkeit und Einbindung der Wirtschaft setzte, hat das Problem der Jugendarbeitslosigkeit nicht gelöst, allerdings eine Ausbildungsabgabe für Betriebe, die nicht ausbilden, verhindert.

Willenserklärungen ohne Verbindlichkeit

Wir erinnern uns auch an die Vereinbarung der Regierungschef*innen der Länder von 2018, die Quote der Schulabbrecher*innen von acht auf vier Prozent zu senken. Wir sind heute knapp unter dem Stand von 2018. Es hat sich gezeigt, dass alle Pakte, Vereinbarungen und Modellversuche zu den genannten Problemen allenfalls Apelle oder Willenserklärungen ohne jede Verbindlichkeit waren.

Zurück zur Jugendberufsagentur: Da liegt inzwischen der 4. Evaluationsbericht vor. Die Kurzmitteilung von SenBJF vom 3. August 2021 erweckt den Eindruck, bis auf ein paar Probleme durch Corona läge alles im grünen Bereich. Wer den Volltext liest, kommt zu dem Ergebnis, dass noch viel getan und verändert werden muss, um die ursprünglich gesteckten Ziele zu erreichen, denn die JBA ist ein komplexes Produkt. Beteiligt ist die Bundesagentur für Arbeit, das Land Berlin, die Bezirke, verschiedene Rechtskreise aus dem Sozialgesetzbuch sind zu berücksichtigen und es gibt die verschiedenen Kooperationspartner aus der Wirtschaft und den Landesgremien. Ich will die JBA nicht schlecht reden, sondern darauf hinweisen, dass auch sieben Jahre nach Gründung die entscheidenden Probleme nicht gelöst sind.

Österreich praktiziert für jugendliche Schulabgänger*innen meines Erachtens nach ein schlüssigeres Konzept. Neben dem Baustein Talente Check zur Orientierung gibt es eine sogenannte Ausbildungspflicht für die Jugendlichen, als Absicherung dieser Pflicht die Ausbildungsgarantie. Dies bedeutet, wer keinen betrieblichen Ausbildungsplatz findet, bekommt eine gleichwertige staatliche Ausbildung. Zur Absicherung und Unterstützung des Prozesses wurde das Jugendcoaching eingeführt, das für eine Verbindung von Ausbildungspflicht und Ausbildungsgarantie sorgt. Es bietet bei persönlichen Problemlagen individuelle Beratung, Begleitung und Betreuung. Das Beratungsangebot Jugendcoaching soll insbesondere Jugendlichen mit Behinderungen sowie Jugendlichen mit Assistenzbedarf beziehungsweise mit multiplen Problemlagen eine Zukunftsperspektive eröffnen und sie befähigen, eigenständig die für sie passende Entscheidung für ihre Ausbildung nach Beendigung der Pflichtschulzeit zu treffen. Diese Zielgruppe ist genau die Gruppe, die bei uns mit den meisten »Projekten« kaum oder nur schwer erreicht wird.

SenBJF ist Spitze im Installieren immer neuer Projekte nicht nur für den Bereich der Berufsorientierung. Ein schlüssiges Konzept hat sie nicht. Ein Talente Check bei SenBJF würde deshalb erstaunliche Lücken in der Realitätswahrnehmung zu Tage fördern.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46