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Recht & Tarif

Noch lange nicht barrierefrei

Die Schwerbehindertenvertretungen setzen sich für die Rechte Betroffener am Arbeitsplatz ein. Ein Gespräch zwischen einer Kollegin mit Einschränkungen, der Gesamtschwerbehindertenvertreterin und dem Schwerbehindertenvertreter in Friedrichshain-Kreuzberg.

Foto: privat

Steffi, du bist durch deine körperliche Einschränkung vor besondere Hürden gestellt. Wie gelingt dir deine Arbeit?

Jaschinski: Seit 13 Jahren bin ich als Erzieherin an der Carl-Bolle-Schule in Moabit tätig. Vor etwa zehn Jahren hatten sich meine gesundheitlichen Einschränkungen soweit verschlechtert, dass ich befürchtete, meinen Beruf aufgeben zu müssen. Allein der Arbeitsweg stellte eine enorme Kraftanstrengung dar, dazu kamen die zahlreichen Barrieren in der Schule. Es bedurfte einiger Anpassungen durch Hilfsmittel und die Umgestaltung einiger Räume, um genügend Rangierfläche für den Rollstuhl zu haben. Dies war ein langer, schwerer Weg, den ich nur mit der Hilfe der Schwerbehinderten-Vertretung (SbV) Mitte geschafft habe. Durch sie wurde ich immer gut beraten und unterstützt. Angefangen von der Beantragung der Schwerbehinderteneigenschaft, das Einlegen von Widersprüchen für Hilfsmittel bis zum Umbau einer Rampe, Bau eines Fahrstuhles und die Vermittlung in Einsatzgesprächen vor Ort mit meinen Vorgesetzten.

Seit 2015 bin ich nun im Rollstuhl erziehend tätig. Mittlerweile begleite ich wieder Ausflüge und Klassenfahrten. Vieles muss ich nun im Alltag anders bedenken und mehr Zeit einplanen. Doch die Freude, weiter meiner Arbeit selbstständig nachgehen zu können, gibt mir viel Kraft.

Lange kämpfte ich mit dem Gedanken, so viel leisten zu müssen, wie ein gesunder Mensch. Eine zweijährige Qualifikation in Medienbildung ermöglichte mir in der Arbeit, meinen oft nicht barrierefreien Einsatz zu kompensieren. So kam es auch zu positiven neuen Aspekten während der Arbeit mit meiner Klasse, die Schüler*innen verhielten sich achtsamer und sozialer, so zum Beispiel im Straßenverkehr bei gemeinsamen Exkursionen. Die Kinder haben entgegen meiner Befürchtungen keine Probleme mit meinen Einschränkungen. Sie lernen so nebenbei im Alltag, Rücksicht zu nehmen, ohne viel darüber sprechen zu müssen. Falls mir Dinge runterfallen oder ein Stuhl im Weg steht, braucht es keine Worte mehr. Und zudem sehen sie, dass man auch mit Behinderung gut arbeiten kann. Sie ist nichts Besonderes. Und so soll doch eigentlich Inklusion sein.

Detlef, du bist nun fast vier Jahre Vertrauensperson für Schwerbehinderte und Gleichgestellte in Friedrichshain-Kreuzberg. Welche Erfahrungen hast du in dieser Zeit gesammelt?

Stürmer: Nun, die wichtigste Erfahrung ist wohl, dass es eine unwahrscheinlich anspruchsvolle, vielfältige und zumeist sehr schöne Aufgabe ist. Ganz klar steht die*der Betroffene im Mittelpunkt meiner Arbeit. Ich habe gelernt, dass jede Behinderung eine große Herausforderung darstellt, auch und gerade für das Umfeld. Nur ein Beispiel: Auf der letzten Landesdelegiertenversammlung wurde viel über die Übereinstimmung von Arbeit und Familie gesprochen. Sehr gut und richtig. Aber was ist, wenn, wie in unserer Region geschehen, ein Kollege allmählich erblindet und er als Lehrer unbedingt weiter­arbeiten möchte? Der gesamte Alltag der Familie hatte sich völlig verändert. Bekommt da nicht die gewerkschaftliche Forderung nochmals eine ganz andere Dimension?

Technische Hilfsmittel mussten organisiert, finanziert und eine Helferkonferenz einberufen werden; die Bereitstellung einer Arbeitsassistenz wurde vorbereitet. Alles riesige Herausforderungen, die ich begleitet habe und bei denen ich sogar in familiäre Entscheidungen einbezogen wurde.

Letztlich ging es auch um schwierige rechtliche Fragen, unter anderem, ob ein erblindeter beziehungsweise sehbehinderter Kollege Aufsicht führen kann. Die Dienstunfähigkeit drohte. Es ging natürlich auch um finanzielle Fragen, um die Absicherung der gesamten Familie. Daran kann man verzweifeln, weil auch durchaus von Seiten unserer Behörde mitunter geblockt wird, obwohl Beispiele zeigen, dass erblindete beziehungsweise sehbehinderte Kolleg*innen unterrichten.

Jede Behinderung erfordert eine besondere Achtsamkeit von allen Seiten, natürlich auch von den Schwerbehindertenvertretungen.

Kerstin, wie ist es denn zum heutigen Schwerbehindertenrecht gekommen und warum brauchen Menschen mit Behinderungen überhaupt besondere Unterstützung?

Nowak: Über Jahrhunderte wurden Menschen mit Behinderungen immer irgendwie versorgt, unter anderem durch Kirchen. Nach dem Ersten Weltkrieg des 20. Jahrhunderts gab es viele Menschen mit Kriegsverletzungen. Sie waren oftmals schwer »beschädigt«. Es galt, diese zu versorgen und – wo möglich – in den Arbeitsprozess einzugliedern. Dazu wurde 1920 das Schwerbeschädigtenrecht erlassen, das nach dem Zweiten Weltkrieg mit noch mehr Kriegsversehrten zusätzlich besondere Bedeutung erfuhr. Im Folgenden kamen Fürsorgeerlasse, Vorschriften zur Rehabilitation hinzu. Dies alles wurde 2001 in das Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) eingeordnet und dieses wiederum 2018 in das Bundesteilhabegesetz integriert. Heute geht es aber nicht mehr darum, Menschen mit Behinderungen Fürsorge angedeihen zu lassen, sondern – nicht zuletzt durch die UN-Behindertenrechtskonvention – ihnen gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. Ein ganz anderer, ein inklusiver und menschenwürdiger Ansatz.

Wie ist aber die Realität in Deutschland und warum brauchen Menschen mit Behinderungen immer noch besondere Unterstützung? Die Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen ist überdurchschnittlich hoch. Zum Vergleich: 2018 lag die allgemeine Arbeitslosenquote bei 6,5 Prozent. Bei schwerbehinderten Menschen dagegen bei 11,2 Prozent. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Unsere Aufgabe als Schwerbehindertenvertretung ist es darum, besonders bei Einstellungen darauf zu achten, dass Menschen mit Behinderungen eingestellt werden und auf die besondere Verpflichtung des öffentlichen Dienstes hinzuweisen. Die Vielzahl der nicht barrierefreien Schulen in Berlin lässt gerade für Kolleg*innen mit bestimmten Behinderungen nur geringe Einsatzmöglichkeiten zu. Die zu knappe Personaldecke, die es Schulleitungen immer schwieriger macht, Nachteilsausgleiche zu gewähren, tut einiges dazu, dass wir von wirklicher Inklusion auch für die Beschäftigten noch immer weit entfernt sind.

Detlef, du hast vorhin davon gesprochen, dass deine Aufgabe vielfältig ist. Was meinst du genau damit?

Stürmer: Vielfältig ist es aufgrund der Fülle der Aufgaben. So bin ich bei jeder Einstellung, egal welcher Profession, beteiligt. Keine neue Schulleitung darf ohne meine Unterschrift ihr Amt in unserer Region antreten. Immer kommt es darauf an, Verfahren zu begleiten und vor allem darauf zu achten, dass die Rechte der Schwerbehinderten hinreichend berücksichtigt werden. Aber auch die Beratung der Kolleg*innen ist so facettenreich wie nur denkbar, vom Hamburger Modell über Antragsberatung bis hin zu Leistungen der Rentenversicherung. Die Aufzählung ist natürlich nicht vollständig, weil das Leben und die Leiden uns immer wieder vor neue, mitunter schicksalshafte Herausforderungen stellen. Durch meine langjährige Tätigkeit im Gesamtpersonalrat und im örtlichen Personalrat habe ich wichtige Erfahrungen für mein jetziges Amt sammeln können, aber die Arbeit hat schon eine ganz andere Qualität.

Kerstin, du bist ja außer der regionalen Schwerbehindertenvertreterin in Mitte auch die Gesamtschwerbehindertenvertrauensperson (GSbV) für die allgemeinbildenden Schulen in ganz Berlin. Welche Aufgaben und Einflussmöglichkeiten hast du in dieser übergeordneten Funktion, um für die schwerbehinderten Beschäftigten tätig zu sein?

Nowak: Detlef hat ja die Vielfältigkeit der Aufgaben einer SbV beschrieben. Die direkte Unterstützung der Beschäftigten vor Ort, der Kontakt mit ihnen, ist mir sehr wichtig und erfüllend. Steffi beschreibt ja aus eigenem Erleben, warum diese Aufgabe so wichtig ist. Genauso vielfältig, aber teilweise ganz anders ist meine Tätigkeit als GSbV. Ich kann hier nur einen kleinen Abriss geben.

Eine gesetzlich verankerte Aufgabe ist hauptsächlich, auf Senatsebene zu klären, was auf regionaler Ebene nicht geklärt werden kann. Konkrete Beispiele: Gemeinsam mit der damaligen SbV der beruflichen und zentral verwalteten Schulen habe ich die Inklusionsvereinbarung mit der Senatsverwaltung abgeschlossen. Damit wurden unter anderem das Teilhabegespräch, das Schulleitungen den Betroffenen anbieten müssen und in dem der behindertengerechte Arbeitsplatz und -einsatz besprochen werden soll, implementiert. Die Möglichkeit, dass Schwerbehinderte ihre Arbeitszeitkonto-Tage unabhängig vom Alter nehmen können, wurde ebenso ausgehandelt wie die Möglichkeit, dass beispielsweise Sekretär*innen oder Betreuer*innen ihren Zusatzurlaub außerhalb der Ferienregelung nehmen können, um nur drei der Maßnahmen zu nennen.

Stellungnahmen zu verschiedensten Themenbereichen nach den Auswirkungen für Schwerbehinderte zu sichten und zu schreiben, nimmt einen Großteil der Arbeit der GSbV ein. Und jedes zweite Jahr wird von der GSbV für Beschäftigte mit Behinderungen eine aktualisierte Informationsbroschüre herausgegeben.

Ich führe regelmäßig Gespräche mit dem verantwortlichen Abteilungsleiter und der Senatorin. Diese Gespräche bringen die speziellen Bedürfnisse der Menschen mit Behinderungen an unseren Schulen in den Fokus. Denn nur so können wir behindertengerechte und auch gesunderhaltende Arbeitsbedingungen aushandeln.

Wenn ihr einen Wunsch bei der GEW frei hättet, wie würde er lauten?

Jaschinski: Barrierefreiheit, auch im Digitalen, sollte Standard sein – dafür muss sich die GEW unbedingt weiter einsetzen. Verliert bitte nicht die auch zunehmend schlechter werdenden Arbeitsbedingungen des weiteren pädagogischen Personals aus den Augen. Nur ein funktionierendes Team kann Inklusion gut leben.

Stürmer:  Mein Wunsch wäre, dass wir einen spezialisierten Rechtsbeistand von unserer Gewerkschaft finanziert bekommen.

Nowak: Ich teile den Wunsch von Detlef nach einer Unterstützung in Richtung Beratervertrag, da rechtliche Fragen auch in unserem Bereich sehr zugenommen haben. Ich wünsche mir darüber hinaus, dass die GEW-Geschäftsstelle, die ja auch Tagungs- und Fortbildungsort ist, endlich barrierefrei wird und ein Fahrstuhl so schnell wie möglich eingebaut wird. Besprechen müssen wir weitere barrierefreie Leitsysteme für Menschen mit Sinneseinschränkungen.

Dieses Jahr finden von Oktober bis Dezember bundesweit die Wahlen zu den Schwerbehindertenvertretungen statt. Es wäre toll, wenn die Kolleginnen und Kollegen mit Behinderungen an den Schulen ihr Wahlrecht zahlreich wahrnehmen und so auch die Arbeit der Schwerbehindertenvertretungen würdigen würden. Das ermutigt diese in ihrer verantwortungsvollen Arbeit für die Menschen mit Behinderungen.      

Hamburger Modell

Das Hamburger Modell sieht eine stufenweise, freiwillige Wiedereingliederung in das Arbeitsleben nach längerer oder mit andauernder Erkrankung vor. Die Tarifbeschäftigten sind dabei weiterhin krankgeschrieben. 

Hinweis: In einer früheren Version des Artikels hieß es in der Erklärung zum Hamburger Modell: Die Beschäftigten sind dabei weiterhin krankgeschrieben. Diese Regelung bezieht sich jedoch nur auf die Tarifbeschäftigten, nicht auf die Beamt*innen.    

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46