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Kolumne

Non vitae, sed scholae

Allenthalben wird von der Schule mehr Nähe zu den vermeintlich realen Problemen des Lebens gefordert. Unser Kolumnist findet dieses Anspruch überzogen.

Zeichnung: Rainer Demattio

Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.« Mit diesem Tweet löste die damals 17-jährige Schülerin Naina eine Diskussion darüber aus, wie zeitgemäß und sinnvoll das an Schulen Gelehrte heute noch ist. Sie erhielt viel Zuspruch für ihre Klage, die mittlerweile klassisch genannt werden kann. Schon Seneca beschwerte sich: Non vitae, sed scholae discimus – nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir. Doch hatte Seneca damit praktische Übungen in administrativer Bürokratie im Sinn? Die Lebensnähe von Voll- und Teilkasko für Schüler*innen, die noch gar kein Auto fahren, wäre ihm sicherlich zweifelhaft. Eine Gedichtanalyse dagegen wäre für ihn als Römer, der in der Schule vor allem eines musste, nämlich auswendig lernen, vermutlich eine unverhoffte, kreative Anwendungsaufgabe. Und dann auch noch in vier Sprachen! Die Zahl ist zwar vielleicht etwas hochgegriffen, aber warum sollte ausgerechnet die Möglichkeit, mehrere Sprachen an ihr zu lernen, gegen die Schule sprechen? Learning by doing: Wer möchte schon früher als nötig Steuererklärungen schreiben oder sich mit Mietrecht beschäftigen? Vor einem praktischen Anlass fehlt einem der Bezug und damit das Interesse, sich damit zu beschäftigen. Der Forderung, all das schon in der Schule zu lehren, liegt der Irrtum zugrunde, sie könnte mit Didaktik die Schüler*innen auf jede beliebige Lebenslage vorbereiten. Das kann sie aber nicht. Etwas, was sie kann: Gedichtanalysen und Fremdsprachen.

Joshua ist Lehramtsstudent in Berlin. In seiner Kolumne schreibt er über Widersprüchliches und Kurioses in der Lehrer*innen-Ausbildung

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