bbz 11 / 2019
Nur eine*r von sieben Erwachsenen glaubt dem Kind
Kinder haben das Recht auf Schutz vor körperlicher und seelischer Gewalt, vor Misshandlung und vor sexuellem Missbrauch. Schule kann ein wichtiger Ort für Prävention sein
Gerade, wenn in den Medien über sexualisierte Gewalt an Kindern berichtet wird, geht bei vielen, die mit jungen Menschen arbeiten, das Gedankenkarussell los: Was ist, wenn das jemandem in meiner Klasse passiert? Würde die betroffene Person sich mir anvertrauen? Wie würde ich mich verhalten?
Dass Lehrkräfte, Erzieher*innen und Schulsozialarbeiter*innen sich beim Thema sexualisierte Gewalt zunächst überfordert fühlen, ist nicht verwunderlich. Einerseits ist es statistisch gesehen wahrscheinlich, dass ihnen im Unterricht Kinder und Jugendliche gegenübersitzen, die sexualisierte Gewalt erleben mussten. Dunkelfeldstudien gehen davon aus, dass pro Schulklasse ein bis zwei Schüler*innen betroffen sind. Andererseits kommt das Thema in der Ausbildung zu kurz und im Schulalltag fehlt Zeit zur Auseinandersetzung mit Schutzkonzepten.
Schule kann – mit der Unterstützung spezialisierter Fachberatungsstellen – ein wichtiger Ort für Prävention sein. Informieren Sie sich über Träger vor Ort, Programme der Länder und Finanzierungsmöglichkeiten. Präventionsarbeit sollte neben der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen Qualifizierungen für Lehrkräfte beinhalten und Eltern sensibilisieren.
Mit einem Präventionsworkshop ist es nicht getan. Es braucht eine Haltung, die das Thema kontinuierlich angeht, einen kritischen Blick auf institutionelle Strukturen wagt und Schüler*innen zeigt, dass ihre Selbstbestimmung respektiert wird. Das beinhaltet die Auseinandersetzung mit Schutzkonzepten im Kollegium sowie einen aktiven Umgang mit Fehlern. Nicht alle Grenzverletzungen geschehen mit Hintergedanken – dennoch ist es wichtig, diese unter Kolleg-*innen anzusprechen. Ein Klima, in dem unbeabsichtigte Grenzverletzungen ignoriert werden, begünstigt absichtliche und gibt Täter*innen Sicherheit.
25 Prozent der Betroffenen vertrauen sich niemandem an. Sorgen Sie dafür, dass Schüler*innen Worte zur Verfügung haben, um sich mitzuteilen. Dazu ge-hört Wissen über den Körper ebenso wie die Thematisierung eigener Grenzen. Sexualkunde sollte nicht nur biologische Fakten vermitteln, sondern das Thema Konsens zentral setzen. Zeigen Sie Schüler*innen, dass Sie auch sonst ihre Selbstbestimmung respektieren – indem Sie beispielsweise vor Hilfestellungen im Sport um Erlaubnis fragen und Alternativen anbieten.
Kinder sollten wissen, dass es neben guten Geheim-nissen (beispielsweise einer Geburtstagsüberraschung) auch solche gibt, die Bauchschmerzen machen und dass es nichts mit Petzen zu tun hat, Sorgen zu teilen. Zeigen Sie Ihren Schüler*innen, dass Sie sie ernst nehmen und hören Sie ihnen zu – auch wenn Schnuffel das fünfte Haustier diese Woche ist, von dessen tragischem Tod Sie erfahren. So erleben die Schüler*innen Sie als Person, bei der ihre Sorgen gut aufgehoben sind.
Aber: es kann sein, dass Kinder oder Jugendliche eine Ansprechperson außerhalb ihres Alltagsumfelds vorziehen. Legen Sie altersgerechtes Material von Fachberatungsstellen aus. Und wenn sich ein*e Schüler*in direkt an Sie wendet? Hören Sie zu und nehmen Sie das Gesagte ernst. Im Schnitt glaubt erst jede*r siebte Erwachsene dem Kind – eine zusätzliche Belastung. Loben Sie den mutigen Schritt. Gerade bei Tä-ter*innen aus der Familie oder dem Umfeld (nur circa 25 Prozent der Taten werden durch Fremde verübt) befinden sich Betroffene oft in einem Loyalitätskonflikt und brauchen positive Bestärkung.
Spielen Sie nicht Detektiv*in! Es ist nicht Ihre Aufgabe, den »Fall« aufzudecken oder möglichst viele Infos herauszubekommen – zu viel Nachbohren kann Betroffene überfordern. Sie sind dafür da, dass Ihr*e Schüler*in die nötige Unterstützung bekommt. Holen Sie sich Hilfe von einer Fachberatungsstelle! Wildwasser e.V. bietet vielfältige Unterstützungsmöglichkeiten für Betroffene sexualisierter Gewalt. Unsere Mädchen-*beratungs-stellen beraten Mädchen, Trans und junge Frauen bis 27 Jahren sowie Vertrauenspersonen – auch telefonisch und online. Die Bedürfnisse und Wünsche der Betroffenen sind zentral. Ziel ist, die bestmögliche Unterstützungsform zu finden. Im Fall einer Strafanzeige begleitet Wildwasser durch den Prozess. Der Mädchennotdienst hat eine Anlaufstelle beim Jugendnotdienst und eine von Wildwasser geführte Krisenwohnung. Hier kommen Mädchen von 12 bis 18 Jahren in der Clearingphase, in der geklärt wird, wie es weitergehen kann, unter. Die Wohnung bietet einen sicheren Ort, um zu sich zu kommen und nächste Schritte zu planen. Das kann eine Rückkehr in die Familie (beispielsweise nach Auszug eines gewalttätigen Partners) mit zusätzlicher Unterstützung bedeuten, aber auch den Einzug in ein therapeutisches Wohnangebot, eine Wohngemeinschaft oder ambulant betreutes Wohnen. Es gibt eine 24-Stunden Betreuung, eine enge Zusammenarbeit mit der Beratung und die Möglichkeit, vor Ort mit einer Psychologin zu sprechen.
Mehr Informationen zu unseren anderen Angeboten finden Sie auf www.wildwasser-berlin.de. Das Hilfe-Portal sexueller Missbrauch bietet eine Suchfunktion für Fachberatungsstellen im gesamten Bundesgebiet – auch für Jungen.