Tendenzen
Pippi, Jim und all die anderen Struwwelpeter
Auf seiner Website stellt Jens Mätschke-Gabel seit sechs Jahren Kinder- und Jugendbücher vor, die sich durch ihre vorurteilsfreie Darstellung menschlicher und kultureller Vielfalt auszeichnen.
bbz: Jens, wie bist du auf das Thema »diskriminierungsfreie Kinderliteratur« gekommen?
Mätschke-Gabel: Der Ausgangsimpuls war vor elf Jahren ein Antirassismus-Training, in dem ich mich mit meiner eigenen Lesesozialisation in der DDR und der Darstellung von Schwarzen auseinandergesetzt habe. Aus den Erkenntnissen ist meine Abschlussarbeit zu Rassismus im Comic MOSAIK entstanden. Ich schaute mir aktuelle Kinder- und Jugendbücher an und war frustriert. Immer noch werden Schwarze klischeehaft und abwertend dargestellt. Der Kontinent Afrika ist meist eine exotische Kulisse für Tiere und naive, arme Menschen mit vielen Problemen. Klischees und Vorurteile sind heute noch in fast allen Büchern vorhanden, sobald Schwarze darin vorkommen. Diesem Frust wollte ich etwas entgegensetzen und suchte nach positiven, diskriminierungsfreien Büchern. Anfangs fand ich nur wenige, mittlerweile werden es mehr. Ich habe 2015 die Webseite erstellt und an verschiedenen Empfehlungslisten mitgearbeitet.
Im Jahr 2020 wurden über 8.000 Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht. Wie findest du da Bücher für deine Liste?
Mätschke-Gabel: Die meisten Bücher finde ich über thematische Facebook-Gruppen, Hinweise von Freund*innen oder spezialisierte Buchhandlungen wie die Dante-Connection. Die Empfehlungslisten der Fachstelle Kinderwelten sind ebenfalls eine große Inspiration. Ich empfehle nur Bücher, die ich selbst gelesen habe.
Wie gehst du vor, wenn du ein Buch untersuchst?
Mätschke-Gabel: Ich lese jedes Buch mehrmals. Meist achte ich anfangs auf den konkreten Text und die Geschichte. Beim zweiten Durchgehen stehen dann die Bilder im Vordergrund. Grundsätzlich frage ich mich, welche Personen und Gruppen werden benannt, wie voneinander abgegrenzt und mit welchen Eigenschaften präsentiert. Ich habe Kriterien erstellt, die auch auf meiner Webseite zu finden sind. Meist kann ich dann einschätzen, ob ich ein Buch vorstelle oder nicht. Es gibt aber auch Bücher, wo ich mir unsicher bin. Da helfen mir Gespräche mit Freund*innen, die einen diskriminierungssensiblen Blick haben.
Musst du manchmal abwägen: Dieses Buch ist zum Beispiel vorurteilsfrei in Bezug Hautfarbe und Herkunft, aber transportiert – vielleicht auch nur subtil – tradierte Rollenbilder von Elternschaft?
Mätschke-Gabel: Ja, das ist manchmal schwer. Beispielsweise gibt es tolle Sticker-Alben mit vielen Akteur*innen of Color. Gleichzeitig entsprechen alle Frauen einem vermeintlichen Schönheitsideal und diese sollen mit Schmuck und teurer Kleidung beklebt werden. Solch sexistische, vor allem Mädchen unter Druck setzende Bücher nehme ich nicht auf. In Bezug auf Familienbilder ist dies noch einmal schwieriger. Das Problem ist ja nicht die Hetero-Darstellung mit Mutter, Vater und Kind, sondern die Unterrepräsentation von weiteren Familien- und Rollenbildern. Gute Bücher, die all diese Ebenen berücksichtigen, sind selten.
Warum sind Bücher deiner Meinung nach wichtig, wenn es um Demokratiebildung geht? Manche würden sagen: »Das ist doch nur ein Buch!«
Mätschke-Gabel: Ich glaube auch, dass nicht ein einzelnes Buch junge Menschen so stark beeinflusst, dass sie abwertende Darstellungen von bestimmten Menschengruppen aufnehmen. Es ist die Summe der Bücher, verbunden mit Filmen, Serien, Werbung, Geschichten der nahen Bezugspersonen, Kinderlieder und so weiter durch die Kinder Rassismus, Sexismus oder andere diskriminierende Weltsichten erlernen. Als verantwortungsvolle Bezugspersonen vor allem in Bildungseinrichtungen können wir mithilfe von guten Kinderbüchern schon kleinen Kindern diverse Sichtweisen auf Menschen und Beziehungen aufzeigen. Die Wahrscheinlichkeit ist aber groß, dass junge Menschen an die Klassiker gelangen. Dann hilft ein Gespräch über die Inhalte und Bilder. Von Verboten halte ich nichts.
Bestimmte Kinder- und Jugendbücher gelten als »Bildungskanon«, sind aber durchaus umstritten. »Pippi Langstrumpf« wird in diesem Zusammenhang oft genannt. Gibt es Klassiker, von denen du sagen würdest, dass man sie heutzutage Kindern nicht vorlesen beziehungsweise zum Lesen geben sollte?
Mätschke-Gabel: Leider muss ich sagen, dass mir kein Klassiker einfällt, in dem Menschen of Color vorkommen und diese würdevoll, klischeefrei dargestellt sind. Beispielsweise sind Pippi Langstrumpf, Jim Knopf, Robinson Crusoe, Dr. Dolittle oder Mary Poppins sehr kritisch zu sehen. Auch moderne Klassiker wie Asterix, Die drei Fragezeichen oder TKKG enthalten rassifizierende Elemente. Dabei geht es nicht um einzelne Wörter, sondern um eine grundsätzlich kritikwürdige Darstellung von bestimmten Gruppen und Handlungen.
Ich habe oft beobachtet, dass Menschen bei einer Kritik an den Klassikern emotional und vorwurfsvoll reagieren. Ich glaube, diese Reaktion passiert, weil man eigene schöne Leseerfahrungen nicht schlecht gemacht bekommen oder nicht als »schlechter Mensch« dastehen will. Diese Impulse verstehe ich, allerdings erlauben sie keinen inhaltlichen Blick auf die Bücher. Ich hoffe, dass die Gleichzeitigkeit erkannt werden kann: Das Lesen von Robinson Crusoe war für mich sehr interessant und spannend und gleichzeitig habe ich abwertende Bilder von Schwarzen erlernt. Für letzteres bin ich heute sensibilisiert und arbeite daran, diese unschuldig aufgenommenen Bilder aufzuweichen und möglichst frei und selbstkritisch in Begegnungen mit Schwarzen zu gehen.
Was hältst du von dem Ansatz, Bücher mit Kindern zu lesen, um zu verdeutlichen, dass wir gesellschaftlich bestimmte Themen schon weitestgehend überwunden haben, zum Beispiel gewalttätige Erziehung, wie sie in »Struwwelpeter« dargestellt ist?
Mätschke-Gabel: Ich bin mir unsicher, ob es Bücher für ein derartiges Gespräch braucht. Um beispielsweise über Geschlechterklischees und Sexismus zu reden, brauche ich keine Kinderbücher, in denen Frauen herabwürdigend dargestellt sind. Da würde ich mir eher Beispiele aus dem Alltag des Kindes wie zum Beispiel sexistische Werbung aussuchen und besprechen. Und der Struwwelpeter – mit abgeschnittenen Daumen und platzenden Kindern – hat mich persönlich ziemlich geprägt und Ängste erzeugt. Rückblickend wünschte ich mir, dass ich diese Geschichten nicht gelesen hätte.
Welche Bücher sind deine Top-Empfehlung und warum?
Mätschke-Gabel: Als erster Lesestoff gefallen mir die Bilderbücher von Constanze von Kitzing. Sie zeigen diverse Kinder liebevoll in ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten. Meine Tochter liebt das diverse Wimmelbuch von Ulrike Haas und Nicola Boyne, welches durch eine Crowdfunding Kampagne entstehen konnte. Mit sehr viel Wärme und intersektionalem Blick hat Jessica Love zwei Bücher über Julian erstellt. Die Reihe »Little People, big dreams« ist großartig für Erstleser*innen. Viele unter anderem Schwarze Persönlichkeiten werden vorgestellt. In Bezug auf Jugendliche war ich sehr beeindruckt von Angie Thomas »The Hate U Give« oder der Comicreihe »Aya« von Marguerite Abouet und Clément Oubrerie.
Das Attribut »of Color« bezieht sich nicht in erster Linie auf Hautfarbe, sondern damit werden Menschen bezeichnet, die geteilte Rassismuserfahrungen gemacht haben.
Auf www.MeineKinderbücher.de finden sich über 250 Buchempfehlungen. Daneben werden Kriterien zur Einschätzung von Büchern und viele weitere Informationsquellen oder Empfehlungslisten vorgestellt.