bbz 10 / 2015
Plädoyer für eine Repolitisierung der Sozialen Arbeit
Die Gesellschaft wertet Soziales stetig ab, prekäre Verhältnisse dringen zur Mitte der Gesellschaft vor. Tätige in der Sozialen Arbeit können einen Beitrag im Kampf dagegen leisten.
Die Reformen des Arbeitsmarktes, Agenda 2010, Hartz-Gesetze und andere, haben eine signifikante Zunahme der Armutsrisiken für manche Bevölkerungsgruppen und ganze Gesellschaftsschichten verursacht. Die US-Amerikanisierung des Arbeitsmarktes führt letztlich zu einer US-Amerikanisierung der Sozialstruktur, sodass Prekarisierung zu einer zentralen Herausforderung der Sozialen Arbeit wird.
Der ausufernde Niedriglohnsektor, in dem fast ein Viertel aller Beschäftigten arbeiten, bildet heute das Haupteinfallstor für Erwerbs- und spätere Altersarmut. Terminologisch ist zu unterscheiden:
»Prekarisierung« der Lohnarbeit ist ein Prozess, in dem Millionen Menschen gesicherter Arbeits- und Lebensbedingungen beraubt werden. »Prekarität« ist eine schwierige Soziallage. »Prekariat« ist ein Kunstwort, das diesen Begriff mit dem Terminus »Proletariat« zur Kennzeichnung der davon betroffenen Personengruppe verbindet. Die Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse hat inzwischen auch die Sozial- und Erziehungsdienste selbst erfasst. Das lässt sich auf die gezielte Abwertung des Sozialen in einer Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft zurückführen.
Armut und soziale Ungleichheit bilden eine akute Gefahr für die Demokratie. Letztere beinhaltet mehr als die Möglichkeit für BürgerInnen regelmäßig wählen zu gehen. Sie schließt nämlich auch ein, dass diese gleichberechtigt an den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen teilnehmen können. Hierzu müssen sie über die materiellen Mittel verfügen, um auch in ferner gelegenen Orten stattfindende politische und Bildungsveranstaltungen sowie Aktionen, Kundgebungen und Demonstrationen zu besuchen. Arme sind nicht nur sozial benachteiligt. Sie sind vielmehr in aller Regel auch politisch weniger aktiv, skeptischer gegenüber der Demokratie, die sie häufig für ihre prekäre Lage (mit) verantwortlich machen, und seltener bereit, wählen zu gehen.
Je stärker die soziale Frage dadurch in den Fokus der (Medien-)Öffentlichkeit rückt, dass Armut aus einem Tabuthema zum Topthema von Talkshows über die Folgen der Finanzwirtschaftskrise, den Zerfall der Mittelschicht oder nachvollziehbare Abstiegsängste vieler Menschen wird, umso mehr ist die Soziale Arbeit gefordert, in gesellschaftliche Entwicklungsprozesse und öffentliche Diskurse einzugreifen. Ihre Aufgabe kann nicht darin bestehen, Armut für den Staat möglichst kostengünstig zu verwalten und die negativen Folgen für davon Betroffene zu lindern. Vielmehr sollte die Profession auf die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen der Armut einwirken und zu verhindern suchen, dass sich diese massenhaft reproduziert, normalisiert und weiter zuspitzt. Denn mancherlei Anzeichen deuten darauf hin, dass die relative Armut zur Mitte der Gesellschaft vordringt, sich dort verfestigt und den Boden für die Ausbreitung der absoluten Armut unter größeren Bevölkerungsgruppen, wie Dauererwerbslosen, illegalisierten MigrantInnen und NiedriglöhnerInnen, bereitet.
Sofern unsere Prognose zutreffend und Armut mehr ist als ein zufälliges Ereignis im Leben von Menschen, die »nicht mit Geld umgehen können«, nämlich systemimmanent, kann man den Betroffenen schwerlich die Schuld daran zuschieben und dem Problem weder mittels moralischer Appelle an Wohlhabende noch mittels karitativer Maßnahmen beikommen. Wenn die Armut wirksam bekämpft werden soll, muss vielmehr der Reichtum angetastet werden und eine Umverteilung von oben nach unten stattfinden. Da sie eng mit den bestehenden Produktions-, Eigentums- und Herrschaftsverhältnissen verknüpft ist, müssen diese verändert werden, um Armut nachhaltig verringern zu können.
Nur wenn ein Großteil der Bevölkerung für das Problem sensibilisiert, ein gesellschaftskritisches Potenzial mobilisiert und politische Gegenmacht organisiert wird, lässt sich die Armut verringern und verhindern, dass immer wieder neue entsteht. SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen können dazu einen Beitrag leisten. Sie können neben der praktischen Hilfe »vor Ort« über Lobbyarbeit für Arme hinaus ein gesellschaftspolitisches Mandat im Sinne der anwaltschaftlichen Vertretung unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen wahrnehmen und so die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu deren Gunsten beeinflussen. Notwendig sind daher eine Neuvermessung des Sozialen und eine Repolitisierung der Sozialen Arbeit.
Entsprechend der berühmten Maxime »Global denken – lokal handeln!« müssen SozialarbeiterInnen trotz ihrer sich vielfach verschlechternden Handlungsbedingungen in politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse vor Ort eingreifen. Um wirtschaftliche und wohlfahrtsstaatliche Weichenstellungen beeinflussen zu können, darf sich Soziale Arbeit nicht scheuen, engagiert Partei für die Opfer neoliberaler Modernisierung zu ergreifen, auch wenn ihr das von interessierter Seite den Vorwurf mangelnder Objektivität, Sachlichkeit und Professionalität einträgt.